Schutt abgeräumt

Blumhardt neu entdeckt

Christoph Blumhardt wird in der heutigen Theologie und neueren Kirchengeschichte so gut wie nicht wahrgenommen. Er hat Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer inspiriert, das wissen nur Dogmatiker. Zu Unrecht. Denn seine Bedeutung liegt unter dreifachem Schutt begraben. Jörg Hübner, Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll, hat nun diesen Schutt der Geschichte wie ein Archäologe Schicht für Schicht abgetragen und den Kern des schwäbischen Predigers, Politikers und Pazifisten freigelegt.

Von seinem Vater Christoph Blumhardt dem Älteren (1805– 1880) übernahm der 1842 geborene Sohn das Kurhaus Bad Boll. Im pietistischen Geiste des Vaters betrieb er zunächst die Einrichtung und den Seelsorgebetrieb. Doch arbeitete er sich an seinem Vater ab, ging ab 1888 durch eine tiefe Krise, die er theologisch reflektierend durchlebte. Das kommende Reich Gottes jetzt schon auf Erden mit aufzubauen, war sein Ziel, nicht die konfessionellen Bedingungen der verfassten Kirchen zu leben. So brach er mit diesen: „ Der Zeit der Kirchen ist vorbei!“ Es galt nun, das Weltchristentum zu leben: „Suche nicht Christen, suche Leben!“ Das führte ihn auch dazu, das wilhelminische Deutschland mit seinem „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ als „Nationenhumbug“ zu bezeichnen.

Krieg und Militarismus empfand er als Sünde, die christlichen Missionsbewegungen als „Beschmutzen“ der Völker Afrikas und Asiens. Auch sonst ist er nicht gerade zimperlich. Die Französische Revolution bezeichnet er als die eigentliche Reformationszeit der Menschheit. Er spricht allen Menschen, auch den Heiden und den Nicht-Europäern, die gleichen Menschenrechte zu. Deshalb setzt er sich für die Friedensbewegung und Gerechtigkeit ein.

Aus diesen Entdeckungen, die er ständig in seinen täglichen Morgen- und Abendandachten im Bad Boller Kurhaus ventiliert, befasst er sich mit dem Sozialismus und der erstarkten Sozialdemokratie. Die war nach Bismarcks Abgang gerade aus der Illegalität aufgetaucht. In ganz Deutschland bekannt, geächtet, berüchtigt und berühmt wurde er durch seine Zuspitzung in einem Vortrag: „Jesus ist ein Sozialist – umgeben von zwölf Proletariern.“

Kurz: Er musste seine Titel als Pfarrer abgeben, wurde SPD-Abgeordneter im württembergischen Landtag, später von der SPD als Revisionist verschrien – er war Pragmatiker, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wollten etwas Anderes –, zog sich von der SPD zurück, verurteilte den Weltkrieg, war weiterhin gegen christliche Mission. Und er war immer Guru einer Gemeinschaft in Bad Boll, die international dachte und zu leben versuchte.

Schutt? Ja, weil so sein Leben und Werk nicht überliefert wurde. In der Weimarer Republik wurde seine spätere Entfremdung von der SPD als ein Fehltritt ausgelegt. Er wurde auf einen persönlichen Frömmigkeitsstil reduziert. Zum anderen bemühten sich seine Freunde nach seinem Tod, ihn sehr kirchlich zu interpretieren. Die dritte Schicht schließlich war die Bearbeitung seiner Werke durch seine Tochter. Sie strich alles, was sie für falsch hielt. Das war nicht wenig.

Die Akademie Bad Boll hat vor wenigen Jahren den vollständigen Nachlass von Christoph Blumhardt erhalten. Jörg Hübner hat ihn gesichtet und seine neue, überraschende Biographie daraus verfertigt. Die ist gut zu lesen, trennt in allen Kapiteln Biographisches und „theologische Wegmarken“ und lässt so tief blicken. Vom Schutt der Interpretationen befreit, eröffnet sich eine neue lesenswerte Sichtweise und offenbart einen erfrischenden, modernen Querdenker, der die verfassten konfessionellen Kirchen von heute schon damals uralt aussehen lässt.

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