Kleine Zahlen, weiter Raum

Kerstin Menzel erforscht das Pfarramt in ländlichen Gemeinden im Osten
Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Kerstin Menzel, geboren 1981, stammt aus Leipzig. Sie hat Evangelische Theologie in Marburg, New York, Leipzig und Berlin studiert. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit den besonderen Herausforderungen des Pfarrberufes in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands.

Gegen Ende meines Theologiestudiums war die Aussicht auf eine ländliche Stelle unter Studierenden eher ein Schreckensszenario. Ich habe mich gefragt, wie es dort wirklich ist. Außerdem hatte ich beobachtet, dass in der Praktischen Theologie die ostdeutsche Perspektive fehlt. Die Veränderungen im Osten sind spezifisch, geprägt durch die DDR-Zeit und verliefen umbruchsartiger. Für den westdeutschen Kontext lässt sich hier dennoch vieles lernen.

Wissenschaftliche Forschung zur aktuellen Situation gab es keine. Die Lücke wollte ich mit meiner Dissertation schließen und fragen, wie Pfarrerinnen und Pfarrer die Situation wahrnehmen und wie sie damit umgehen.

Ulrike Wagner-Rau, bis vor kurzem Professorin für Praktische Theologie in Marburg, hat mich in dieser Idee bestärkt und die Arbeit anregend und ermutigend begleitet. Seit diesem Frühling liegt meine Dissertation „Kleine Zahlen, weiter Raum. Pfarrberuf in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands“ gedruckt vor.

Meine Studie verfolgt zwei methodische Zugänge. Zunächst beschreibe ich die Situation interdisziplinär, lege soziologische, geografische und sozialwissenschaftliche Diskussionen dar und setze sie ins Verhältnis zum innerkirchlichen und praktisch-theologischen Diskurs. Auf dieser Basis habe ich Fragen erarbeitet und offene Interviews zur Wahrnehmung der Situation, zum beruflichen Selbstverständnis und beruflichen Alltag geführt.

Insgesamt acht Pfarrerinnen und Pfarrer aus unterschiedlichen ländlichen Räumen, Landeskirchen und Altersgruppen habe ich befragt. Insbesondere aber unterscheiden sie sich in ihren Einstellungen und Haltungen. Die Bandbreite reicht zum Beispiel von denen, die ein negatives Bild vom ländlichen Raum haben, bis zu anderen, die mit Begeisterung aufs Land gezogen sind.

Wie nehmen Pfarrerinnen und Pfarrer die Schrumpfung wahr, die durch demografischen Wandel und Abwanderung einerseits und durch den Abbruch in der DDR andererseits begründet ist? Zwei berufliche Haltungen konnte ich rekonstruieren: Eine, die eher von den eigenen Idealen her denkt, zum Beispiel voraussetzt, dass Kirche eine enge Gemeinschaft ist. Oder dass zum Christsein dazu gehört, am Leben der Ortsgemeinde zu partizipieren.

Mit dieser Haltung kann viel Innovation und Kraft verbunden sein, die Befragten laufen jedoch Gefahr, einer starken Frustration zu erliegen, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der demografische Wandel oder die ostdeutsche Religionskultur oft gegen ihre Ideale sperren.

Andere denken eher von den Bedürfnissen der Menschen her. Sie stellen sich auf die Situation vor Ort ein und akzeptieren, dass sich Verhältnisse wandeln und eigene Ideale nicht immer erfüllen. Für sie ist die Arbeit eher befriedigend.

Am Beispiel der Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteuren lässt sich gut zeigen: Die erste Gruppe sucht Anknüpfungspunkte, um Menschen für kirchliche Angebote zu gewinnen, während die anderen die Themen vor Ort aufgreifen und etwas für das Gemeinwesen leisten wollen. Sie schreiben zum Beispiel einen Literaturpreis für Jugendliche aus oder öffnen die Kirche als Bürgerkirche. Pfarrer mit dieser Haltung folgen dem Leitbild einer öffentlichen Kirche und fragen danach, was die Kirche für die Gesellschaft tun kann. Gerade in strukturschwachen ländlichen Räumen ermöglicht diese Haltung viel Neues.

Durch die Arbeit an meiner Dissertation bin ich für den Diskurs über ländliche Räume sensibel geworden – auch innerkirchlich ist er stark auf die Probleme konzentriert, als ob jeder ländliche Raum diese alle verkörpert. Im Kontrast dazu konnte ich die Vielfalt von Entwicklungsperspektiven auch in ostdeutschen ländlichen Räumen aufzeigen. Und ich konnte Faktoren rekonstruieren, die die Wahrnehmung ländlicher Räume prägen. Ein wichtiger Faktor ist die biografische Erfahrung. Hier ist gut, wenn junge Pfarrerinnen und Pfarrer ländliche Räume nicht erst im Entsendungsdienst erleben, sondern schon im Vikariat, so wie es die berlin-brandenburgische und die mitteldeutsche Kirche vorsehen.

Tatsächlich hängt es sehr vom eigenen Selbstverständnis ab, was genau als schwierig empfunden wird – etwa das Desinteresse an religiösen Angeboten, zurückgehende Alltagskontakte oder der Mangel an ehrenamtlichem Engagement. Die Ausdehnung verschärft dabei Schwierigkeiten, die den Pfarrberuf generell kennzeichnen. Immer gibt es die Spannung zwischen dem, wie man den Beruf eigentlich ausfüllen möchte und dem, was die Situation erlaubt. Wenn die Differenz zwischen Mensch und Situation zu groß ist, wird es schwierig. Das sollte von den Personaldezernaten der Landeskirchen berücksichtigt werden, erfordert aber auch von Gemeinden und Pfarrpersonen Selbstreflexion.

Die zweite Spannung, die dem Pfarrberuf generell innewohnt und die sich verschärft, ist die Ambivalenz von beruflicher Freiheit und der Notwendigkeit eigener Schwerpunktsetzung. Immer ist zu entscheiden, was zu tun und was zu lassen ist. Hier wäre wichtig, dass eine Pfarrerin oder ein Pfarrer dies selbstreflektiert tut und im Gespräch mit den Menschen vor Ort. Für die Berufszufriedenheit braucht es aber auch entsprechenden Gestaltungsspielraum.

Und drittens wird im Diskurs über ländliche Räume häufig davon gesprochen, dass die „flächendeckende Präsenz“ nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Dabei wird nicht deutlich, was Präsenz hier genau heißt. Geht es um den Gottesdienst, um Gruppen und Kreise, um Präsenz im Alltag? Die von mir Befragten sind auf sehr unterschiedliche Art und Weise präsent in ihren Orten und verstehen unter Präsenz auch unterschiedliches, je nach ihrem beruflichen Leitbild.

Was folgt nun aus meiner Arbeit? Praktische Theologie ist nicht zuerst Handlungsanleitung, sondern  Wahrnehmungswissenschaft. Es geht zunächst darum, zu beschreiben, Zusammenhänge und Wirkmechanismen zu verstehen. Aber natürlich beschäftigt sich auch ein Kapitel meines Buches mit Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung und die Personalentwicklung. Eine Folgerung ist ein Plädoyer für ein Pfarrbild, das sich im Zusammenspiel von Tradition, Persönlichkeit und den Erfordernissen der Situation sehr vielfältig gestalten kann. Vereinheitlichende Leitbilder dagegen sind problematisch. Ich kann mit meinem empirischen Material zeigen, welche Vielfalt es faktisch gibt und welche Chancen eine öffentliche Kirche bietet, die mit anderen Akteuren kooperiert und auch punktuelle Begegnungen mit Menschen aufmerksam wahrnimmt.

Aufgezeichnet von Kathrin Jütte


 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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