Eigentlich sei es unmöglich, eine Biographie über Alexander von Humboldt (1769 – 1859) zu schreiben: Zu vielseitig, zu wirkungsmächtig sei das Werk; zu vielschichtig und geheimnisvoll die Person. Humboldt, so der Leiter des Kulturressorts des Berliner Tagesspiegel Rüdiger Schaper, sei einzigartig und kaum in einer bestimmten Richtung interpretierbar. Eine gewisse Sicherheit bietet da offenbar der Aspekt Humboldts preußischer Herkunft. Vor 250 Jahren in Berlin geboren, trägt er jedenfalls zeitlebens durchaus schwer am preußischen Erbe.
Er ist talentiert, strebsam und fleißig. Und bei allem Stolz auf seine epochalen Leistungen stellt sich Humboldt bescheiden ganz in den Dienst der Wissenschaften. Energiegeladen und pflichtbesessen lebt er die preußischen Tugenden. Demokratische Forderungen nach individueller Meinungs- und Gestaltungsfreiheit sowie Humanität sind ihm wichtig. Sofern dieser ihn ruft, dient er seinem König. In ein Amt lässt er sich indes nicht einbinden. Er, der Freigeist, bleibt zeitlebens nur ein Preuße auf Abruf und lebt lieber in Paris als in Berlin.
Schapers ebenso detailliert wie spannend geschriebene Darstellung bietet faszinierende Einblicke in einen unvergleichlichen Lebensentwurf, der den „preußischen Kolumbus“ auf abenteuerliche Weise vom Tegeler Schloss in die Welt und wieder zurückführt. In mehr als sieben Jahrzehnten seines Schaffens vollbringt Humboldt beispiellose Leistungen. Bereits zu Lebzeiten genießt er weltweit allerhöchstes Ansehen. Er ist ein „neuer Aristoteles“. Und wegen seines Hauptwerks – dem Bericht über die große Amerikareise von 1799 bis 1804 – gilt er zudem als „zweiter Kolumbus“ beziehungsweise als „wissenschaftlicher Wiederentdecker Amerikas“. Doch die strapaziösen Forschungsreisen führen nicht nur nach Lateinamerika und in die usa, sondern 1829 auch nach Zentralasien bis an die Grenzen Chinas.
Humboldts Beschreibungen tragen wesentlich dazu bei, die Geographie zu einer empirischen Wissenschaft zu machen – auch, weil sie exzellent bebildert sind. Dem Universaltalent gelingen zahlreiche darstellerische Innovationen, die bis heute nachwirken. Etwa diagrammatische Gebirgsprofile kombiniert mit der Schichtung von Vegetationszonen. Auch war Humboldt der Erste, der geografische Zonen gleicher Durchschnittstemperatur mit isothermen Linien kennzeichnet – so wie auf heutigen Wetterkarten allgemein üblich.
Als Botaniker, Zoologe und Anatom zeichnet Humboldt Pflanzen, Tiere und Körperdetails. Als Geologe, Geograph und Kartograph erfasst er Gebirge, Gewässer und Kontinente. Es bleibt in der Tat kaum ein Wissensbereich unberücksichtigt. So liefert Humboldt Beiträge zur Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Vulkanologie, Botanik, Vegetationsgeographie, Zoologie, Klimatologie, Ozeanographie und Astronomie. Auch befasst er sich mit Fragen der Wirtschaftsgeographie, der Ethnologie, der Demographie. Vehement wendet er sich gegen inhumanitäre Zustände – insbesondere die Sklaverei.
Humboldt ist nicht nur ein Pionier der ästhetischen Inszenierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern zugleich auch der erste Netzwerker einer sich andeutenden Wissensgesellschaft. Vieles, was wir heute als modern empfinden, gehört bereits zum Wesen Humboldt’scher Weltbetrachtung: Etwa ein demokratisches Grundverständnis von Wissenschaft, dass freien Informationsfluss und Datenzugang einfordert. Sowie das Bewusstsein, dass die Welt aus einander sich vernetzenden Ökosystemen besteht.
Eine wundervolle Lektüre, die uns nicht nur Humboldt und seine Zeit näher bringt, sondern uns vor allem auch die Komplexität der Welt besser begreifen lässt.
Reinhard Lassek
Reinhard Lassek ist Wissenschaftsjournalist. Er lebt in Celle.