Edler Fund

Albert Beckers „Große Messe“ in München
Aufführung der B-Moll-Messe von Albert Becker (1834-1899) im Herkulessaal München am 30. Juni 2019. Foto: Danny Kugler

Kennen Sie die „Große Messe in b-Moll“ von Albert Becker (1834-1899)? Nicht? Schade, denn es lohnt sich, wie die Wiederaufführung nach langer Zeit am vergangenen Sonntag in München zeigte.

Langgedehnte Stille knisterte im Herkulessaal der Münchner Residenz, man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können – so groß war die Spannung vor dem ersten Ton, dann gab Jakob Steiner den Einsatz und ein großer Klagegesang hub an: „Kyrie eleison“: Gravitätisch schwoll ein Bläser-Akkord im edlen Moll an, der das Orchestertutti mitzog und zum Einsatz des Chortenors führte, dem sich bald der Bass beigesellte, dann Sopran und schließlich auch der Alt, und nach knapp zwei Minuten tönte ein Meer der Tränen und ein Sog bittender Trauer, der in immer neuen modulierenden Einzelklagen der Chorstimmen mündete. Hin und her, wieder und wieder, ein düsteres Drama! Wirklich eindrucksvoll, der Beginn der „Großen Messe in b-Moll“ von Albert Becker (1834-1899), die Dirigent Steiner mit zwei exzellenten Kammerchören (Capella Vocale München und Zürcher Kammerchor, zusammen 37 Sängerinnen und 30 Sänger) sowie dem extra zu diesem Zwecke zusammengestellten Conrad & Weißkopf-Orchester im Herkulessaal zu München zur Aufführung brachte,

Als der gebannte Zuhörer dann zu denken beginnt, das wuchtige Wogen in Moll könne nach gut fünf Minuten auch mal ein Ende haben, siehe da, da verebbt es – Generalpause …  – und dann ruft aus der Höhe der Sopran, dienstbar untermalt von den Unterstimmen: „Christe eleison“ und bereitet in lichtem, leicht duftigem Dur die Bahn für den ersten Einsprengsel des jungen, überaus klangschönen Solistenquartetts (Corinne Achermann, Sopran; Annika Langenbach, Alt; Maximilian Vogler, Tenor und Alban Lenzen, Bass), die dann die wieder an den bis zur Achtstimmigkeit gespreizten Gesamtchor übergeben. Doch dieses Dur verhaucht sich wieder, und erneut heißt es: „Kyrie eleison“. Aber verglichen mit dem ersten Mal ist der Kyrios irgendwie aufgehellt, die Seele hat mit Gott keine so große Mühe mehr, so scheint es. Eindrucksvoll, wie dann am Ende in versöhnt klingendem Ton, die Sopranistin sich und die ihren wieder ins Spiel bringt und so den gewaltigen Eingang dieser Messe milde beschließt.

Beckers „Große Messe“ ist ein gewaltiges Werk, in dem der Komponist Sinn für Proportionen erkennen lässt, und es ist durchaus abwechslungsreich und vielschichtig, sodass sich die Zuhörerschaft über gut 80 Minuten ohne Pause keinesfalls langweilen muss. Und das, obwohl Becker nicht der große Melodiker ist. Man verlässt, anders als beispielsweise nach dem Brahmsrequiem, den Saal zwar ohne Ohrwürmer, aber durchaus mit dem festen Vorsatz, das Stück nochmal und genauer zu hören, auch wenn ihm in einigen Teilen eine gewisse Breitbandmonumentalität anhaftet – besonders im sehr massiven Credo.

Hinreißende Momente hingegen im Sanctus und im Osanna. Und als besondere und gelungene (!) Eigentümlichkeit ist noch zu nennen, dass Becker an einigen Stellen protestantische Choräle einstreut – besonders eindrücklich „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ mit einer kurzen Orgelmeditation, die im „Et incarnatus es“ das Gesamtgeschehen in berührender Weise unterbricht.

Wer aber ist Albert Becker? Das Schaffen Beckers, der 1834 in Quedlinburg am Harz geboren wurde, ist heute nur noch in Fachkreisen bekannt – selbst der Streamingdienst Spotify kennt von ihm nur eine CD, die der Kölner Kammerchor Consono mit Harald Jers im Jahre 2009 veröffentlichte (Titel: „Denn es will Abend werden“, Carus 83.438). Auf die dort versammelten Motetten stößt man in Chorkreisen zuweilen, und zumindest die Interessierteren wissen, dass Becker sich mal vergebens ums Thomaskantorat bemüht hatte. Das geschah im Jahre 1879. Da bewarb sich Becker, damals 45, um die Nachfolge  des verstorbenen Ernst Friedrich Richter. Da war gerade seine „Große Messe“ uraufgeführt worden, und sie hatte den bisher dato unbekannten und als Komponist erfolglosen Musiklehrer in Berlin auf einen Schlag berühmt gemacht.

1882 wurde Becker Lehrer einer Kompositionsklasse an einem Berliner Konservatorium und komponierte weiter in erster Linie kirchenmusikalische Werke, zum Beispiel zum Lutherjubiläum 1883 eine „Reformationskantate“. Auch komponierte er für die deutschen Kaiser der Hohenzollern: Für Wilhelm I. schrieb Becker 1887 eine Kantate zu dessen 90. Geburtstag, und Friedrich III, dem bald nach Thronantritt 1888 verstorbenen „Kaiser der neunundneunzig Tage“, als Requiem ein Oratorium mit dem Titel „Selig aus Gnade“. Ein Jahr später bekam Becker, immerhin schon 55 Jahre alt und als Komponist inzwischen hochangesehen, endlich eine gute und repräsentative Stellung, nämlich die des Dirigenten des Königlichen Domchores zu Berlin. 1892 wurde Becker dann aktiv aus Leipzig angefragt, ob er nun nicht doch Thomaskantor werden wolle. Aber das verhinderte Wilhelm II, der Becker sehr schätzte, indem er ihm den Kronenorden verlieh und ihm eine Gehaltserhöhung gewährte. Die Sache mit Leipzig war vom Tisch.

Nach seinem Tode 1899 wurde Becker schnell vergessen, denn seine Musik entsprach schnell nicht mehr dem Zeitgeschmack. Der ist Anno 2019 gottlob pluraler! Und so ist allen Beteiligten und besonders dem jungen Dirigenten Jakob Steiner sehr zu danken für diese wertvolle Wiederentdeckung und couragierte Wiederaufführung an diesem heißen letzten Junitage! Die beiden einzigen in Deutschland bezeugte Aufführungen aus dem 20. Jahrhundert waren in den Achtzigerjahren in Dresden und damals ohne Orgel, sind also fast 40 Jahre her. So lange sollte es auf jeden Fall nicht wieder dauern, um Beckers große b-Moll-Messe erneut zu hören!

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