Paradoxien der Pflicht

Zur Debatte um §218: Die Arbeit in den Beratungsstellen
Broschüren und Bücher zum Thema Schwangerschaftsabbruch in einer Beratungsstelle der Diakonie
picture alliance /dpa/Jens Büttner
Broschüren und Bücher zum Thema Schwangerschaftsabbruch in einer Beratungsstelle der Diakonie

Die politische Debatte um eine mögliche gesetzliche Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland und die Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch hat auch die ethische Debatte neu angeregt. „zeitzeichen“ will die oft von Männern dominierte Debatte durch Beiträge von evangelischen Frauen bereichern, die vor dem Hintergrund ihrer beruflichen und persönlichen Erfahrungen entstanden. Im folgenden Text beschäftigt sich die Theologieprofessorin Maren Bienert mit der Arbeit in den Beratungsstellen und der Frage der Beratungspflicht. 

Es ist angemessen, dass wir gesellschaftlich, politisch und theologisch immer wieder intensiv über Schwangerschaftsabbrüche diskutieren. Das Feld ist komplex, so wie es die Lebenswirklichkeiten von schwangeren Personen auch sind. Viele der bisherigen rechtlichen Regelungen und Praktiken sind von Vermittlungsanliegen und Spannungen geprägt. Denn ob man bei der klassischen Gegenüberstellung von Lebensschutz und Selbstbestimmung ansetzt oder bei der Auslotung dessen, was es konkret heißt, dass eine Schwangerschaft eine einzigartige Situation ist: Nirgends kommt man um ambivalenzsensible und differenzierende Perspektiven herum.

Da die derzeitige rechtliche Regelung in §§218f. StGB von vielen als Kompromiss aufgefasst wird, steht eine regelmäßige Reflexion der Frage, ob es begründbar bessere Kompromisse als den status quo gibt, unserer Gesellschaft gut an. Zugleich gibt es im Strafrecht bislang festgehaltene Tatbestände, die aufgrund moralisch-ethischer Eindeutigkeit nicht zur Disposition stehen, nämlich die strafrechtliche Sanktionierung von Abbrüchen, die gegen den Willen der schwangeren Person vorgenommen werden sowie der Nötigung dazu.

Pflicht zur Beratung beibehalten?

Überzeugend an den derzeitigen Reflexionsbemühungen sind nicht zuletzt die verstärkten Anstrengungen, mehr über die konkreten Perspektiven, Empfindungen, Konflikte, Gründe und Schwierigkeiten der ungewollt schwangeren Personen zu erfahren und von diesen zu lernen (so zum Beispiel in der ELSA-Studie). Dies allein ersetzt keine politische Willensbildung oder ethische Expert*innenarbeit; ohne solche Verstehensbemühungen sind ethische Urteils- und politische Willensbildung jedoch kaum möglich.

Besonders anspruchsvoll scheint mir im Rahmen der momentan verhandelten Fragen diejenige nach der Beibehaltung oder Abschaffung einer Pflichtberatung. Diese Frage wird dann virulent, wenn über eine Veränderung oder Streichung von §218 nachgedacht wird. Ich greife diese Debatte deshalb auf, weil auf diesem Feld auch in den theologischen und kirchlichen Stellungnahmen und Diskussionen Uneinigkeit herrscht (vgl. die entsprechende Notiz in der Stellungnahme des Rates der EKD). Konsens unter zahlreicher Expert*innen ist, dass schwangere Personen im Konfliktfall niedrigschwellig, unverzüglich und kostenfrei Zugang zu Beratungsangeboten haben sollten. Umstritten ist dabei, ob es eine Verpflichtung dazu geben soll und wenn ja, ob ein Verstoß gegen eine solche Pflicht inner- oder außerhalb des Strafrechts besser geregelt wäre.

Mehrere Spannungen

Die derzeitige Regelung einer Beratungspflicht im Zuge der Fristenlösung führt jedenfalls mehrere Spannungen mit sich. Zunächst die Frage, wie sich das gebotene Zutrauen in die Entscheidungskompetenzen von erwachsenen Menschen mit einer strafrechtlichen Vorgabe verträgt. Sodann die angebrachte Skepsis, ob mit der Regelung eines benötigten Beratungsscheins eine für Beratungskonstellationen förderliche Situation geschaffen ist oder gerade nicht. Auch steht die Leitidee, in professionellen Beratungssettings non-direktiv zu agieren, deutlich vermittlungsbedürftig zu dem im §219 Abs. 1 StGB festgestellten Ziel der Beratung, „sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen“. Näheres und mehr zu der Thematik bietet der Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (AG 1) , der überhaupt sehr umsichtig verschiedene Aspekte und Ambivalenzen derzeitiger Beratungskonstellation aufzeigt. 

Bis hierher spräche vieles mindestens für die Streichung einer Pflichtberatung aus dem Strafrecht, stellt es Beratende wie Beratene doch vor fragwürdige Gleichzeitigkeiten. Die Stellungnahme der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD)  dreht daher die Konstellation um und betont den „Rechtsanspruch der schwangeren Person auf eine […] Schwangerschafts(konflikt)beratung“ anstelle einer Pflicht dazu. Auch die gesellschaftliche Diversität nimmt die Stellungnahme der EFiD wegweisend in den Blick, wenn sie teilhabeorientiert fordert: „Sexuelle Bildung und Information zur Aufklärung muss wohnortnah, barrierefrei, mehrsprachig, kultur- und diversitätssensibel angeboten werden.“ 

Allerdings –und auch darauf findet sich ein Hinweis im Kommissionsbericht der AG 1 –: Schwangere, deren Lebenswelt von Fremdbestimmung, Bevormundung und Beziehungskonflikten bis hin zu Partnergewalt geprägt ist und die durch solche Konstellationen evtl. sogar zu einem Abbruch gedrängt werden, werden möglicherweise gerade von dem Pflichtcharakter der Beratung geschützt. Durch solche Beratungspflicht wird ihnen Raum und Möglichkeit zur Aussprache und Unterstützung geöffnet, den es sonst für sie nicht gäbe. Ähnlich argumentiert auch die Stellungnahme des Rates der EKD, die konstatiert, dass Schwangere, „deren Selbstbestimmungsrecht durch ökonomische Abhängigkeiten oder ihre Freiheitsansprüche in Frage stellende Strukturen eingeschränkt ist, […] von einem bloßen Rechtsanspruch auf psychosoziale Beratung unter Umständen keinen Gebrauch machen“ können. Naiv wäre hier – bei aller Hochschätzung der Beratungen – zu meinen, eine einmalige Beratung verhülfe hinreichend zum Beratungszweck §219 Abs. 1 StGB oder ausreichender Unterstützung für die betroffene Frau. Dennoch halte ich eine Wahrnehmung der sehr unterschiedlichen er-/gelebten Freiheitsgrade von Frauen für wichtig.

Komplizierte Gleichzeitigkeiten

Komplizierter wird all dies nicht zuletzt dadurch, dass all diese verschiedenen Wirklichkeiten (und noch viele mehr und zwischen diesen Polen zu verortende) in unserer Gesellschaft koexistieren dürften: (ungewollt) Schwangere, die keine Beratung wünschen oder brauchen; (ungewollt) Schwangere, die in ihrer freiheitlichen Entscheidungsfindung durch die strafrechtlich flankierte Auflage, mit einem Beratungsschein die Beratung zu verlassen, gehemmt werden (und die folglich ebenfalls von einer Freiwilligkeit des Angebots profitieren würden) und (ungewollt) Schwangere, die etwa aufgrund eines übergriffig-bevormundenden Umfelds durch den Pflichtcharakter der Beratung geschützt werden, welcher ihnen überhaupt erst realistischerweise Beratung eröffnet.

Wie mit diesen Gleichzeitigkeiten und ihrer Vermittlung und Gewichtung umzugehen ist, ist eine anspruchsvolle Aufgabe in der Auseinandersetzung und zeigt noch einmal deutlich, warum die Erfahrungen und konkreten Situationen von ungewollt Schwangeren – wie sich gegenwärtig abzeichnend – verstärkt zu ermitteln und zu reflektieren sind. Ernst zu nehmen sind diese Paradoxien der Pflichtberatung sicherlich, deren Auflösung man aktuell Beratenden und Beratenen überlässt und deren im Strafrecht verankerten Verpflichtungscharakter viele Betroffene als eine Unmündigkeitsunterstellung und Misstrauensattestierung erleben.

Die Beratungsstellen leisten enorm wichtige und gute Arbeit, ihre Relevanz ist in den Auseinandersetzungen unumstritten. Wenn es um die Frage geht, welche Rolle die Kirche bei dem Thema spielen sollte, so stünde daher für mich eine von der rechtlichen Situierung unabhängige Finanzierung der Beratungsstellen, deren Trägerin Kirche ist, an zentraler Stelle. Die Sorge, dass die Finanzierungen von Beratungsangeboten und mit ihnen zusammenhängende Versorgungsstrukturen wegfallen könnten, sollte eine Beratungspflicht abgeschafft werden, ist aber für sich betrachtet kein guter Grund, den Pflichtcharakter von Beratungen aufrecht zu erhalten. Dass man sich darum überhaupt sorgt, weist vielmehr dringlich darauf hin, dass die bereitgestellten Ressourcen und Versorgungsstrukturen auch über die Gruppe ungewollt Schwangerer hinaus für Schwangere und Familien insgesamt verbessert, erweitert und umfänglicher zugänglich gemacht gehören (Beratungsangebote, Hebammenversorgung, Geburtshilfe, Stillberatung usw.).

Theologische Leerstelle

Das hängt durchaus mit der Abbruchdebatte zusammen: Aus wirtschaftlicher Not oder Angst vor Überforderung, die in bestimmten Fällen, zum Beispiel durch intensive Hebammenbegleitung, hinreichend abgewendet werden könnte, sollte niemand sich für einen Abbruch entscheiden (müssen). Hier liegt eine politisch-gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe, die bereits verschiedentlich identifiziert und auch durch evangelische Akteur*innen in jüngster Zeit verstärkt wurde. Sowohl die Stellungnahme der EFiD wie auch die des Rates der EKD (beide Oktober 2023) haben sich diese Forderungen uneingeschränkt zu eigen gemacht. Kostenfreie kirchliche Beratungs- und Unterstützungsangebote sollten folglich unabhängig von dem weiteren Fortgang der Debatte für Schwangere und junge Mütter/Eltern sowie Familien ausgebaut und getragen werden. Die zuvor gewürdigte wachsende Bedeutung, die den Erfahrungen, Wünschen und konkreten Lebenswirklichkeiten von ungewollt Schwangeren beigemessen wird, darf und sollte auch auf Theologien und Kirchen ausgeweitet werden: Was wünschen sich (ungewollt) Schwangere von den Kirchen, deren Mitglieder sie ja teilweise auch sind?

Geht man von den ethisch-rechtlichen Aufgaben zu den religiös-symbolischen Aufgaben über, kann auf eine der stärksten Passagen der Stellungnahme des Rates der EKD hingewiesen werden: Beim Thema Schwangerschaft hat man es mit einem „Verhältnis sui generis“ zu tun. Diese so starke wie interpretationsbedürftige Formel ist im theologischen Kontext auf ihre religiösen Erfahrungsbezüge, Konnotationen und Bewohnbarkeiten zu reflektieren. Ähnlich votiert Antje Schrupp mit dem Hinweis auf eine Leerstelle in Bezug auf theologische Deutungshorizonte von Schwangerschaft: „Für die besondere Existenzweise einer Schwangerschaft - jenes „Zwei in Eins“ - gibt es in der bisherigen symbolischen Ordnung kaum Worte und Begriffe, geschweige denn, dass sie angemessen philosophisch, ethisch oder theologisch ausgeleuchtet und durchdacht wäre.“

Für die christliche Religion, die das Geborensein Gottes zum Markenkern hat, ist es jedenfalls mehr als naheliegend, sich mit Schwangerschaft und Geburt neugierig und in viel weiterem Horizont als bislang etabliert auch theologisch zu befassen.

Hinweis: Diese Artikelreihe zum Thema Schwangerschaftskonflikt entstand auf Initiative und in Zusammenarbeit mit Dr. Lea Chilian (Zürich), Mag. theol. Ruth Denkhaus (Hannover) und Prof. Dr. Sarah Jäger (Jena).

Bisher erschienen:  

Britta Köppen: Begegnung im Konflikt. Wie evangelische Kirche wirklich stützen und schützen kann 

Friederike Spengler: Gottes Ebenbild auch vor der Geburt.  Die Verantwortung gegenüber vulnerablen Personengruppen

Friederike Goedicke: Mut zur Verletzlichkeit. Über konkrete Kinder lässt sich nicht abstrakt entscheiden

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