Geflohen, gestrandet und gefährdet
Bis zu 2 000 Menschen erreichen die Grenzstadt Renk im Südsudan. Jeden Tag. Sie kommen herüber aus dem Sudan, wo seit April 2023 grausame Kämpfe toben und fast das ganze Land zerrissen haben. Über 700 000 Flüchtlinge hat der Südsudan bisher aufgenommen. Die Journalisten Jörg Böthling und Christian Selbherr haben die Grenze zwischen Sudan und Südsudan bereist.
Und dann steigt auch noch der Vollmond über dem Flüchtlingslager auf. Es ist ein Tag Ende Januar 2024 in der kleinen Stadt Renk an der Grenze zwischen Sudan und Südsudan. Nicht nur, dass man hier gerade den Vollmond sehen kann. Nein, es ist auch noch die Woche, in der Japan eine erfolgreiche Mondmission vermeldet hat. Während es also der Menschheit zum x-ten Mal gelungen ist, auf dem Mond zu landen, scheitert sie hier unten zum wiederholten Male daran, eine humanitäre Krise in den Griff zu bekommen.
Als im April 2023 die Kämpfe zwischen Armee und Rebellen in Sudans Hauptstadt Khartum ausbrachen, hoffte man zunächst darauf, dass sich die Lage bald beruhigen möge. Die ersten Flüchtlinge auf südsudanesischer Seite kamen schnell irgendwo unter. Ein leerstehender Komplex der Universität von „Upper Nile“ wurde zum Durchgangslager erklärt. Eine evangelische Kirchengemeinde gab ein Stück Land, auf dem Geflüchtete campieren durften. Kurzzeitig, hieß es. Man spricht bis heute nicht so sehr von Flüchtlingen, sondern von „Rückkehrern“. Weil traditionell viele Südsudanesen in den Norden ausgewandert waren, um dort Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Ihre Verwandten würden sie aufnehmen, hoffte man.
Wie das gehen soll, fragt sich Gabriel Lang. Er kam mit den ersten Flüchtlingen im April nach Renk. Über 20 Jahre seien manche schon weg von zu Hause, es gebe hier keine Familie mehr, die sie aufnehmen könne, und ihr Stück Land sei nun von anderen besiedelt. Er hat außerdem gehört, dass die Lage im ehemaligen Heimatdorf nicht sicher sei. „Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen“, sagt er, während sich in Sichtweite einige Jungen auf dem staubigen Boden einen selbstgemachten Fußball zuschießen. „Also bleiben wir hier.“ Sie leben im „Camp Zero“, das ist eine inoffizielle Ansammlung von provisorischen Behausungen aus Plastikplanen und altem Holz. Essen können sie höchstens einmal am Tag, wenn überhaupt, sagt Gabriel Lang. Auf „Rückkehrer“ aus dem Norden hat hier im Südsudan niemand gewartet. Millionen Menschen sind von Hungersnöten bedroht, marodierende Banden bekriegen sich um Viehbesitz und Zugang zu Ölfeldern.
Hamad Atiab Hamad aus Khartum versucht, den Flüchtlingen mit Körperbehinderungenim Südsudan zu helfen.
Aber nun sind sie da. Und täglich werden es mehr. Bis zu 2 000 sind es, die jeden Tag über den Grenzposten Joda nach Renk kommen. Bis Mitte Mai 2024 hat der Südsudan fast 700 000 Flüchtlinge aus dem Sudan aufgenommen.
Mehr als zwei Millionen Menschen sind insgesamt über die Grenzen des Sudan in die Nachbarländer geflohen: 600 000 Menschen in den Tschad, etwa 500 000 laut Regierungsangaben nach Ägypten und mehrere Zehntausend nach Äthiopien sowie in die Zentralafrikanische Republik.
Hamad Atiab Hamad kommt aus Khartum. „Ich hatte dort ein kleines Geschäft, ich habe Mobiltelefone und Ersatzteile verkauft“, berichtet er. „Plötzlich kam der Krieg, alles explodierte.“ Und mit ruhiger, sachlicher Stimme fährt er fort: „Neben mir wurden drei meiner Brüder in den Tod gerissen, als eine Landmine hochging. Ich habe bei der Explosion mein linkes Bein verloren.“ Inzwischen ist die Wunde einigermaßen verheilt. Hamad Atiab nutzt eine Krücke, um gehen zu können, der Fuß ist dick eingebunden. Seine Familie lebt noch auf der anderen Seite der Grenze. Er hadert damit, dass er sie jetzt nicht mehr ernähren kann. Den Mut hat er nicht aufgegeben. „Wir organisieren uns, so gut es geht. Ich bin Sprecher einer Gruppe von Männern mit Behinderung geworden. Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge an. Ich kümmere mich um diejenigen, die eine Körperbehinderung haben, und versuche zu helfen.“
Die katholische Ordensschwester Susan Amony Atube aus dem Nachbarland Uganda nimmt Schüler:innen in der Grundschule auf.
„Die Menschen hier leiden bittere Not,“ sagt André Atsu Agbogan. Er ist der Ostafrika-Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, hier bekannt als „Jesuit Refugee Service“, JRS. Dass die Flüchtlinge nach wenigen Tagen weiterreisen sollen, sei völlig unrealistisch, sagt er. Der JRS versucht, den Menschen zu helfen, die am meisten Hilfe brauchen. Junge Frauen mit kleinen Kindern zum Beispiel, und Männer und Frauen mit einer körperlichen Behinderung.
Gewalt und Missbrauch
Das Gespräch einer vom JRS eingeladenen Selbsthilfegruppe hat schon fast eine Stunde gedauert, da spricht Silviana Joseph an, was viele wissen und nur wenige offen sagen: Als Frau mit körperlichem Handicap – sie ist gehbehindert – lebt sie auch hier in ständiger Gefahr. Gewalt und Missbrauch lauern in den beengten Verhältnissen, in denen die Flüchtlinge untergebracht sind. Silviana Joseph formuliert es so: „Wenn ein Mann in ein Zelt kommt und uns angreift, sind wir nicht stark genug, um wegzulaufen.“ Frauen mit Gehbehinderung müssen oft ihre Kinder zum Wasserholen an einen Brunnen schicken – auch das kann gefährlich sein.
Trotz allem spürt man hier eine Atmosphäre der Erleichterung, der vorsichtigen Ruhe. Wer es bis hierher geschafft hat, konnte zumindest den größeren Schrecken hinter sich lassen. Doch wie wird es jetzt weitergehen? Noch haben es Vereinte Nationen, Regierung und Hilfsorganisationen nicht offen ausgesprochen, doch eigentlich ist klar: Die Lage wird zum Dauerzustand werden. Am deutlichsten zeigt sich das beim Thema Schule. Im ersten Jahr nach Beginn der Krise gingen die Kinder der Flüchtlingsfamilien nicht zur Schule, sie blieben einfach in den Auffangzentren. Es sollte ja nur eine Durchgangsstation sein. Doch die Realität ist längst eine andere. Familien, die vorläufig nicht mehr weiterziehen können, fragen in den Schulen von Renk nach einem Platz für ihre Kinder.
Das Südsudan-Programm der Vereinten Nationen ist unterfinanziert. Wie lange die Unterkünfte in den Transitzentren reichen, ist ungewiss.
Ein Beamter aus der Schulbehörde führt durch eine dieser Schulen. Gerade sind noch Ferien. Betrieb herrscht trotzdem. Eine Gruppe von Lehrkräften hat sich freiwillig zusammengetan, um Flüchtlingskinder zu unterrichten. Es sei kein regulärer Unterricht, erklärt der Regierungsvertreter. „Sie geben Englischkurse, als Vorbereitung für das neue Schuljahr.“ Im Sudan dominiert Arabisch und ist auch die Unterrichtssprache. Im Südsudan dagegen wird in der Schule Englisch gesprochen, so dass die Kinder eine neue Sprache lernen müssen. Bald werden Flüchtlingskinder in der Schule sein, ob es nun offiziell gewünscht ist oder nicht.
Vergessene Krise
Nicht weit entfernt liegt die katholische Grundschule der Comboni-Schwestern. Hier warten Mütter und Väter geduldig vor dem Büro der Schulleiterin. Sie wollen ihre Kinder anmelden. Und Schwester Susan Amony Atube nimmt sie auf. Die Ordensfrau aus dem Nachbarland Uganda sagt: „Wir haben jetzt eine Klasse für Flüchtlingskinder, die wir am Nachmittag anbieten. Vormittags läuft der normale Unterricht.“ Vorläufig sind beide Klassen getrennt. Aber bald werden Flüchtlingskinder und Einheimische nebeneinander im Klassenzimmer sitzen. Wie lange reichen die Gelder für Hilfsmaßnahmen? Das Südsudan-Programm der Vereinten Nationen ist unterfinanziert, viel mehr Geld fließt nach Gaza und in die Ukraine. Bleibt da noch Mitgefühl für eine vergessene Krise wie diese? Und wie lange reichen überhaupt die Unterkünfte in den Transitzentren, die jetzt schon überfüllt sind? Im neuesten Aufnahmelager bauen sie dauerhafte Behausungen – ein Fundament, ein solides Holzgerüst, ein festes Dach. Noch bevor sie fertig sind, drängen sich neu angekommene Flüchtlinge schon um die Plätze. Wer keinen ergattert, spannt eine Stoffplane auf und schläft darunter.
Und als der letzte Lastwagen für den heutigen Tag eintrifft, geht erneut ein großer Trubel los. Kinder werden von der Ladefläche gehoben und zu ihren Eltern hinuntergereicht. Frauen schleppen Koffer und Taschen, oder was sie retten konnten. Die Schlafplätze im Camp sind freilich schon alle vergeben. So werden die Neuankömmlinge pragmatisch sein müssen. Während die Sonne unter- und der Vollmond langsam aufgeht, sinken sie einfach auf den Boden nieder. An Ort und Stelle werden sie heute im Sand übernachten. Morgen beginnt die Überlebenslotterie von Neuem.
Krieg und Frieden: ein Denkmal in Renk für John Garang, den 2005 verstorbenen Anführer der südsudanesischen Unabhängigkeitsbewegung.
Christian Selbherr
Christian Selbherr ist Redakteur beim mission-magazin in München.
Jörg Böthling
Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer.