Massaker und Fanal
Ein Jahr nach dem Massaker der Hamas in Israel hat der offen gezeigte Antisemitismus weltweit erschreckende Ausmaße angenommen. Zugleich hat der Krieg Israels gegen die Terrororganisation im Gazastreifen zu Zehntausenden von Toten geführt. Hierzulande herrscht in vielen Gruppen oft nur die schreckliche Alternative: Radikalisierung oder Sprachlosigkeit. Wie sind mögliche Wege aus dieser gesellschaftlichen Sackgasse zu finden? Darüber schreibt Markus Dröge, ehemaliger Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Bei ihrem sadistischen Massaker am 7. Oktober 2023 in Israel hat die Terrororganisation Hamas circa 1 200 Menschen grausam ermordet und 251 als Geiseln verschleppt. Zahlreiche Orte im Süden Israels wurden angegriffen. Besucherinnen und Besucher eines Musikfestivals wurden gejagt, gequält, erschossen, 364 an der Zahl. Die Mordtaten hatten keinerlei strategische Bedeutung. Es ging allein darum, der Welt zu zeigen, mit welch grenzenloser Brutalität die Hamas bereit ist, das in ihrer Charta festgeschriebene Ziel zu verfolgen, Israel zu vernichten. Die Taten wurden gefilmt und im Netz verbreitet. Gut zwei Wochen nach dem Massaker ließ die Hamas durch einen Sprecher verkünden, dass dieses Verbrechen erst das erste sei. Der 7. Oktober werde solange wiederholt, bis Israel vernichtet sei.
Der Terrorakt hat wie ein Fanal gewirkt. Noch bevor der israelische Staat seine militärischen Gegenaktionen gestartet hatte, entlud sich ein erschreckender Hass gegen alles Jüdische und gegen den Staat Israel. Die Taten wurden in propalästinensischen Demonstrationen als „Triumph für unsere Märtyrer“ gefeiert. Der Vernichtungsruf „From the river to the sea“ wurde skandiert. Es war, als sei ein Damm gebrochen, als würde sich ein bisher noch zurückgehaltener Antisemitismus nun gewaltig die Bahn brechen.
Eskalierte Gewalt
Ein Jahr später ist die Gewalt eskaliert. Die militärischen Aktionen Israels gegen die Hamas im Gaza-Streifen haben inzwischen Zehntausende von Menschenleben in der palästinensischen Zivilbevölkerung gekostet. Zerstörte Infrastrukturen führen zu Hunger und Elend. Krankheiten breiten sich aus. Die Klage über das unendliche Leid der Opfer des Massakers und ihrer Familien, der Geiseln und der palästinensischen Zivilbevölkerung muss in unseren Gottesdiensten ebenso zu Wort kommen wie die drängende Bitte um ein schnellstmögliches Ende des Krieges und der Gewalt!
Der 7. Oktober 2023 hat dramatische Auswirkungen auch auf das Zusammenleben in Deutschland. In Berlin, wo sich jüdisches Gemeindeleben erfreulich entwickelt hat und wo viele, gerade auch junge, Israelis eine zweite Heimat gefunden haben – ihre Zahl soll sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt haben –, hat sich die Stimmung radikal verändert: Das Selbstverständnis, die „Stadt der Freiheit, in der die Mauern fallen“ zu sein, in der es genug Respekt, Toleranz und kreative Zukunftshoffnung gibt, um den Zusammenhalt zu stärken und die Vielfalt zu einem spannenden Erlebnis zu machen – dieses Berliner Selbstverständnis ist empfindlich getroffen. Der Ruf: „Nie wieder Judenhass, nie wieder Antisemitismus in Deutschland!“ klingt eigentümlich schal, wenn Vorträge durch radikale Solidaritätsbekundungen für Palästina gestört, israelische Künstler boykottiert, jüdische Studierende an Universitäten eingeschüchtert und geschlagen werden und jüdische Eltern morgens ihre Schulkinder mit den Worten „Zeig nicht, dass du Jude bist!“ auf den Schulweg schicken.
In Berlin lebt aber auch die größte palästinensisch-stämmige Community Europas. Eine tiefe Verunsicherung hat sich in dieser Community breitgemacht. Lehrerinnen und Lehrer erzählen, wie Jugendliche aus palästinensisch-stämmigen Familien entweder verstummen oder sich radikalisieren. Verstummen, weil sie sich nicht trauen, ihre Erschütterung über das Schicksal der Menschen im Gaza-Streifen – oft sind es ihre Verwandten – zum Ausdruck zu bringen. „Sag nicht, dass wir aus Palästina stammen“, hören sie von den Eltern, „sonst wird man denken, wir sympathisieren mit der Hamas.“ Oder aber Jugendliche radikalisieren sich, weil sie im Internet von islamistischen Imamen aufgehetzt werden. Etablierte Imame der Berliner Moscheen erzählen, wie sie mit viel Engagement versuchen, die Jugendlichen vor der Radikalisierung zu schützen.
Eine Atmosphäre des Nicht-mehr-miteinander-reden-Könnens ist entstanden. Bekenntnisse werden gefordert, statt sich über die eigenen Betroffenheiten auszutauschen. „Auf welcher Seite stehst du?“, so wird auch in der Schule gefragt, wenn Lehrende den Versuch machen, über den 7. Oktober und seine Folgen im Unterricht zu sprechen.
Hat es Sinn, sich in einer solchen Atmosphäre darum zu mühen, Gesprächsfäden zu erhalten? Aus dem Raum der Zivilgesellschaft wurde in Berlin eine Initiative gestartet, um gegenzusteuern, um sich nicht abzufinden mit der Alternative: Radikalisierung oder Sprachlosigkeit. Die Stiftung Zukunft Berlin hat zu Gesprächen im vertraulichen Raum eingeladen. Lehrende aus Schulen und Universitäten, Projektmitarbeitende aus Initiativen gegen Antisemitismus und Rassismus, Wirtschaftsvertreter, Kulturschaffende und Politiker haben sich über ihre Erfahrungen mit dieser angespannten Situation ausgetauscht.
Klare Grenzen
Daraus ist der „Aufruf zur Wahrung der Dialogkultur in Berlin“ entstanden: „Wir müssen klare Grenzen ziehen gegenüber jeglicher Legitimierung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen – aber wir dürfen auch nicht zulassen, dass offene Diskussion verweigert oder unmöglich gemacht wird. Die Demokratie lebt von einem solchen offenen Diskurs, ohne ihn erstarrt sie.“ In diesem Aufruf, den man im Internet unterzeichnen kann (www.stiftungzukunftberlin.eu/aufruf-zur-wahrung-der-dialogkultur-in-berlin/), werden konkrete Appelle formuliert: Es muss aufhören, dass Menschen nur aufgrund ihrer Nationalität, ihrer kulturellen oder religiösen Herkunft bestimmte Auffassungen und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, ohne ihre persönliche Meinung zu kennen; dass Bekenntnisse eingefordert werden, ohne einen Diskurs zu ermöglichen; dass offen oder verdeckt Prangerlisten geführt werden, auf denen vermerkt ist, mit wem es legitim ist, zu diskutieren, und wer generell vom Diskurs ausgeschlossen werden muss; dass Argumente durch Drohungen ersetzt, Veranstaltungen gestört werden und das hohe Gut der Meinungsfreiheit dafür missbraucht wird, um menschenverachtende und existenzbedrohende Aussagen zu verbreiten.
Ist es sinnvoll zu fragen, was die Kirchen über das Gebet hinaus für den Frieden im Nahen Osten sagen und tun können? Oder kann man es in dieser zugespitzten Situation nur beim dringlichen Gebet belassen?
In den evangelischen Landeskirchen und Missionswerken gibt es eine lange Tradition und eine lebendige Gegenwart des Engagements für die Menschen im Nahen Osten: Da sind evangelische Schulen, die seit über 170 Jahren palästinensische Kinder unterrichten und enge ökumenisch-partnerschaftliche Beziehungen zu den christlichen Kirchen im Nahen Osten. Es gibt gleichzeitig das existentiell im Kirche-Sein verankerte, besondere Verhältnis zu den jüdischen Geschwistern und dem Land Israel. Institutionen und Projekte in Israel werden unterstützt, wie der Parents Circle, die Rabbis for Human Rights, die jüdisch-arabische Siedlung Neve Shalom und viele mehr.
In der Evangelischen Mittelost-Kommission (EMOK) sind diejenigen evangelischen Institutionen und Gruppen zusammengeschlossen, die sich im Nahen Osten engagieren. Schon im Jahr 2009 hat die EMOK in ihrem Policy-Paper „Israel-Palästina“ den Loyalitätskonflikt benannt, in den die Evangelische Kirche durch die feindlichen Haltungen zwischen israelischer und palästinensischer Politik gerät. Dieser Loyalitätskonflikt ist seit dem 7. Oktober 2023 zu einer Zerreißprobe geworden. Wie sollen evangelische Christinnen und Christen sich verhalten? Gibt es auch für sie nur die beiden Möglichkeiten, entweder zu verstummen oder sich radikal und kompromisslos für eine Seite zu positionieren?
Keine Überhöhung
Die Orientierungshilfe der EKD „Gelobtes Land?“ aus dem Jahr 2012 hat die Position der Evangelischen Kirche im Nahen Osten wie folgt skizziert: „Die Aufgaben sind vielfältig: Israelfeindlichen Handlungen ist zu widersprechen, einer Überhöhung des Staates ist entgegenzutreten. Mit den verschiedenen Konfliktparteien ist das Gespräch aufrechtzuerhalten und – wenn immer nötig – Unrecht zu benennen. Die widersprüchlichen Sichtweisen sind auszuhalten, Versöhnungsbereitschaft ist zu stärken, die Fürbitte zu pflegen.“ Ist dies heute, in einer schier unlösbar scheinenden Situation, noch in irgendeiner Weise möglich?
Die Orientierungshilfe fragt nach einem „angemessenen Verständnis des Staates Israel aus christlicher Sicht und einer theologisch verantworteten und zeitgemäßen Deutung biblischer Landverheißungen“. Nach der Darlegung biblischer Einsichten, jüdischer und muslimischer Deutungen, christlicher Deutungen des Landes Israel aus der Kirchengeschichte und aus aktueller Zeit wird schließlich die Frage gestellt, ob der Staat Israel aus evangelischer Glaubensperspektive als ein „Zeichen der Treue Gottes“ verstanden werden kann. In einem spezifischen Sinne wird dies bejaht: Die Tradition der Landverheißung an Israel ist das Versprechen Gottes, dass er für sein Volk sorgen wird, ihm ein Leben in Frieden und Sicherheit bereiten wird.
Die Rückkehr von Jüdinnen und Juden in das Land der Vorfahren bei der Gründung des Staates Israel ist deshalb für Christen zwar kein unmittelbares religiöses Ereignis, aber ein Zeichen dafür, dass Gott sein Versprechen gehalten hat. Der Staat Israel ist das Mittel Gottes, „Jüdinnen und Juden ein Leben im Land Israel in Recht und Frieden zu ermöglichen“. Diese Sicht des Glaubens ist zu unterscheiden von der ethischen Beurteilung des Staates Israel, die nicht anders als so wie bei jedem anderen Staat zu erfolgen hat.
Aus diesem theologischen Ansatz folgt, dass die Evangelische Kirche in Deutschland eine tiefe theologische Verbundenheit und Solidarität mit dem jüdischen Volk mit einer nüchtern-kritischen Beurteilung des Staates Israel verbinden kann und muss. Wenn der Staat Israel aus der Sicht des Glaubens das Mittel ist, mit dem Gott sein Versprechen erfüllt, dann verpflichtet dies zum bedingungslosen Einsatz für das Existenzrecht Israels. Es muss aber auch jeweils aktuell gefragt werden, ob und wie es dem modernen, demokratischen Staat Israel gelingt, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit für seine Bevölkerung zu gewähren.
Verdunkelte Zeichen
Damit wird angesichts des Massakers vom 7. Oktober 2023 eine Erkenntnis erschreckend deutlich: Der Terrorangriff mit der Vernichtungsdrohung trifft den Staat Israel im Kern seines Selbstverständnisses, das Land zu sein, in dem Jüdinnen und Juden in Frieden leben können. Aber dieser Angriff trifft auch die Christinnen und Christen in ihrem Vertrauen auf die Treue Gottes. Wo ist der treue Gott, wenn das Zeichen seiner Treue so verdunkelt wird? Wenn das Existenzrecht Israels nicht nur bestritten wird, sondern wenn angedroht wird, Israel mit verbrecherischer Unmenschlichkeit zu vernichten? Eine befriedigende Antwort gibt es auf solche Theodizee-Fragen bekanntermaßen nicht. Aber diese Fragen treiben ins Gebet, ins Gebet für die Leidenden, in die Klage vor Gott und in die drängende Bitte, Gott möge die Zeichen seiner Treue neu zeigen. Er möge Israel schützen und bewahren!
Wer so betet, kann weder schweigen, noch darf er sich radikalisieren lassen. Die Aufgaben, die die Orientierungshilfe „Gelobtes Land?“ im Jahr 2012 beschrieben hat, haben sich durch das Massaker nicht verändert: Die Kirche muss Israelfeindlichkeit benennen und für das Existenzrecht Israels entschieden eintreten. Und dies heißt heute, die Hamas als das zu bezeichnen, was sie ist: eine menschenverachtende Terrorgruppe, die keinen Frieden will.
Gleichzeitig kann, soll und muss die Kirche eine israelische Politik, die nicht dem Frieden dient, kritisieren. So wie die EMOK im Jahr 2020 die geplanten Annexionsgesetze deutlich kritisiert hat, sollten die Christen in Deutschland sich heute nicht scheuen, an der Seite vieler Israelis die Politik der aktuellen Regierung als wenig friedenstauglich zu kritisieren. Die Kirche muss das Gespräch mit allen Seiten aufrechterhalten, auch wenn sie zurzeit vielfach genötigt wird, sich zu der einen oder der anderen Seite vorbehaltlos zu bekennen. Sie muss Unrecht beim Namen nennen wie die Verbrechen der Hamas und sich entschieden gegen das Feiern dieser Verbrechen als Befreiungstaten aussprechen. Sie muss auch widersprüchliche Positionen aushalten wie etwa die unterschiedlichen theologischen Perspektiven auf das verheißene Land, wie sie uns in Israel-Theologien einerseits und palästinensischen kontextuellen Theologien andererseits begegnen, aber nicht ohne die eigene Sicht zu verschweigen.
Beten für den Frieden und die Aufgaben wahrnehmen, die dem Frieden dienen, das gehört zusammen – auch dann, wenn Frieden nicht einmal von Ferne im Blick ist.
Markus Dröge
Markus Dröge (*1954) war von 2009-2019 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und von 2016-2021 Vorsitzender der Evangelischen Mittelostkommission (EMOK). Aktuell ist er Vorstandssprecher der Stiftung Zukunft Berlin.