Einsamkeit, Lebenskrisen, die Angst vor Schmerzen, auch psychische Erkrankungen – die Gründe, warum Menschen ihrem Leben ein Ende setzen wollen, sind mannigfach. Sie eint, so eine grundlegende Erkenntnis der Suizidforschung, dass suizidal gefährdete Menschen im Allgemeinen nicht sterben, sondern in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation nicht mehr weiterleben wollen. Trotz vieler Fortschritte in der Prävention der vergangenen Jahre sind die Zahlen erschreckend hoch: Jedes Jahr sterben mehr als 10 000 Männer und Frauen (2023: 10 304) durch einen Suizid, wobei die Verteilung zwischen Männern und Frauen laut Statistischem Bundesamt mit 73 Prozent zu 27 Prozent relativ konstant ist. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) geht zudem davon aus, dass die Zahl der Suizidversuche etwa 20 Mal höher ist als die der registrierten Suizide. Ein alarmierender Befund, den Vertreterinnen und Vertreter von Ärzteschaft, Psychotherapie, Fachgesellschaften sowie Verbänden und Organisationen zu Recht beklagen.
Deshalb war es gut, dass der Deutsche Bundestag vor mehr als einem Jahr endlich reagiert und einem Entschließungsantrag zur Förderung der Suizidprävention mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hat. Dem war vorausgegangen, dass keiner der beiden fraktionsübergreifenden Gesetzesentwürfe zum assistierten Suizid eine erforderliche Mehrheit bekommen hatte. Diese Einmütigkeit über Parteiengrenzen hinweg war an sich außergewöhnlich genug. Doch zeigte sie auch das vorhandene Bewusstsein, dass nur mit stärkerer Prävention weitere Menschenleben zu schützen sind. Umso unverständlicher ist, warum der Gesetzentwurf, der bis zum 30. Juni 2024 durch die Bundesregierung vorliegen sollte, noch immer nicht verhandelt wird. Zwar hat SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Frühjahr eine Nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt, von einem Gesetzentwurf ist diese jedoch weit entfernt. Was folgte, waren lediglich Absichtserklärungen.
Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch nennt das unverantwortlich. Mit Recht, denn nur eine gesetzlich verankerte Prävention kann Menschen mit Suizidgedanken wirksam helfen. So lange die Prävention nicht gesetzlich festgelegt ist, wird es auch keine notwendige und dauerhafte finanzielle Absicherung der einzelnen Maßnahmen geben.
Die kürzlich vorgelegten Vorschläge der Diakonie Deutschland sind ein hoffnungsvoller Ansatz. Neben der finanziellen Förderung der Telefonseelsorge soll entsprechend dem Ruf 110 oder 112 ein so genannter Krisencall eingerichtet werden, „der die Begleitung in akuten suizidalen Krisen leisten kann“. Die Mittel und Möglichkeiten der Telefonseelsorge reichen jedoch nicht aus. In den Ausbau der psychiatrisch-psychosozialen Krisendienste muss ebenso investiert werden wie in die Präventionsarbeit bei Kindern und Jugendlichen und im Strafvollzug. Die Forderung nach Stärkung von Hospizarbeit und von Palliativversorgung sowie nach einem präventiven Hausbesuch bei alten Menschen kommt dazu. So weit die fachliche Expertise. Aber was uns alle angeht: Die gesellschaftliche Enttabuisierung des Themas Suizid muss vorangetrieben werden. Trotz hoher Fallzahlen wird zu wenig darüber gesprochen. Es gilt, eine Kultur des Schweigens und des mangelnden Verständnisses zu durchbrechen. Dafür braucht es mehr Wissen, aktive Initiativen und Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Und das Suizidpräventionsgesetz. Jetzt.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.