Israel als imperialistischer Hauptteufel

Über die derzeitigen antiisraelischen Proteste an US-amerikanischen Universitäten
Demonstration an der George Washington University in Washington, D. C.:  Juden werden häufiger als jede andere Gruppe Opfer von Hassverbrechen.
Foto: Sipa USA
Demonstration an der George Washington University in Washington, D. C.: Juden werden häufiger als jede andere Gruppe Opfer von Hassverbrechen.

Die Dimensionen der antisemitischen Ausbrüche in den USA erreichen seit dem Massaker der Hamas an Israelis am 7. Oktober 2023 eine bis dahin ungekannte Qualität. Als hätte der Massenmord auch die Zungen jener gelockert, die ihre Ansichten zuvor für sich behielten. Auf erschreckende Weise ist dies auch an US-Universitäten zu beobachten, analysiert Alexandra Bandl. Sie ist Vorstand des jüdischen Vereins TaMaR Germany und hat bis vor kurzem in den USA recherchiert.

Als ich vor einigen Wochen in Manhattan gemeinsam mit Tuvia Tenenbom auf ein Taxi wartete, verteilten neben uns zwei Aktivisten von Amnesty International ihre Werbematerialien an vorbeiziehende Passanten. Der für seine investigativen Reportagen bekannte Tenenbom ergriff die Gelegenheit und befragte einen der Aktivisten nach seinem Standpunkt zu Palästina. Als wäre die Szene zuvor einstudiert worden, entgegnete ihm der junge Mann, dass er selbst Palästinenser sei und den Genozid in Gaza ablehne. Es folgten die obligatorischen Bekundungen über die unrechtmäßige Besatzung Palästinas, die schon unzählige Jahrhunderte zurückreiche, und die daraus erwachsende Pflicht, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen. Als Tenenbom ihn in seiner gewohnt freundlichen Art auf die offensichtlichen Fehler in seinen Aussagen hinwies, ruderte der Mann zurück und gab schließlich zu, nicht wirklich als Palästinenser geboren zu sein. 

Dass die Geburtslotterie jedoch niemanden davon abhalten sollte, sich trotzdem als Palästinenser zu identifizieren, scheint derzeit das inoffizielle Motto vieler junger Erwachsener zu sein und zeigt sich auch an den Protesten, die seit dem vergangenen Oktober zum Alltag in amerikanischen Großstädten gehören. Diese Zusammenrottungen bestehen zum Großteil aus dauerempörten Vollzeitaktivisten, die auffallend oft in den Sozial- oder Geisteswissenschaften anzutreffen sind. All jene, die nicht von der Academia, der freien Wirtschaft oder einer der unzähligen Nichtregierungsorganisationen absorbiert werden, landen nach dem abgeschlossenen Studium im Bürokratieapparat der Diversity, Equity and Inclusion (DEI). Dort setzen sie prompt das gelernte Wissen über „kritisches Weißsein“ in die Tat um und sorgen dafür, dass die Parteinahme mit dem jüdischen Volk immer harscher sanktioniert wird. In der Vorstellung vieler amerikanischer Studenten und Professoren gehören Juden wegen ihrer weißen Hautfarbe naturgemäß der herrschenden Klasse an. Die Einteilung in „weiß“ und „nicht-weiß“, „mächtig“ und „machtlos“ ist keineswegs eine Randerscheinung, die sich ausschließlich auf antirassistische Lesekreise und Black-Panther-Hochschulgruppen beschränkt. Sie bildet den ideologischen Bezugspunkt einer durch Wissenstransfer und Mobilitätsprogramme internationalisierten Protestbewegung.

Verleumdungen verbreitet

Aus Angst davor, als geistiger Brandstifter diffamiert zu werden, entscheiden sich viele Studenten, mögliche Fragen und Zweifel für sich zu behalten. Wie der jährliche Report über freie Meinungsäußerung an amerikanischen Hochschulen (College Free Speech Ranking) zeigt, ist dies mitnichten ein Problem, das nur jüdische Studenten oder das Thema des „Nahostkonfliktes“ betrifft. Seit einigen Jahren gibt es eine immer aggressivere Stimmung gegenüber allem, was als Abweichung von dem vermeintlich progressiven Meinungsrepertoire angesehen wird. Wenn alle Kämpfe gegen Unterdrückung miteinander verwoben sind, seien letztlich auch die schmelzenden Polklappen und die Rechte von Transgender nicht von der Befreiung Palästinas zu trennen. Diese unheilvolle Allianz ist indessen kein neues Phänomen. In Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den USA und anderen westlichen Ländern wird seit Jahrzehnten vor dieser „neuen Form“ des Antisemitismus gewarnt, die die traditionelle Judenfeindschaft längst abgelöst zu haben schien. Léon Poliakov bemerkte bereits im Nachgang des Sechstagekrieges, wie Israel nicht zuletzt mithilfe sowjetischer Desinformation von dem „islamisch-progressiven Lager“ zunehmend „in den Rang eines eigenständigen Teufels, wenn nicht sogar des Hauptteufels erhoben“ wurde. Heute ist es neben anderen Akteuren vor allem das iranische Regime, das große Summen in die Verbreitung von Ritualmordlegenden gegen Israel investiert. Leider werden diese Verleumdungen von führenden Zeitungen wie der New York Times ungeprüft übernommen und selten korrigiert. Auf diese Weise wird die Stimmung nicht nur auf den Straßen Amerikas weiter angeheizt.

Die Dimensionen der antisemitischen Ausbrüche erreichten seit dem 7. Oktober 2023 eine bis dahin ungekannte Qualität. Als hätte das Massaker schließlich auch die Zungen jener gelockert, die ihre Ansichten zuvor für sich behielten oder ausschließlich in ihren radikalisierten Echokammern – häufig als Safe Spaces verniedlicht – äußerten. Noch lange bevor die israelische Armee im Gazastreifen einmarschierte, skandierten Demonstranten in New York, Los Angeles, Chicago und anderswo „Globalize the Intifada“. Diese Ausschreitungen fanden unabhängig von der rechtmäßigen Reaktion der israelischen Armee auf das größte antijüdische Massaker seit dem Holocaust statt. An dieser Entwicklung sind keineswegs nur Algorithmen auf TikTok, fremdländische Sponsoren oder extremistische Splittergruppen auf dem Campus verantwortlich. Vielmehr handelt es sich um eine über Jahrzehnte gewachsene akademische Kultur, die sich in offiziellen Statements der Universitätsleitungen, ihrer Aufnahme- und Einstellungspraxis sowie Curricula spiegelt. Indem Juden als weiß betrachtet werden, erscheinen sie in dieser Logik nicht als schützenswerte Minderheit, obwohl sie in den vergangenen Jahren häufiger als jede andere Gruppe zum Opfer von Hassverbrechen wurden. Als vermeintlichen Stellvertretern einer weißen Hegemonie wird ihnen nicht nur jegliches Mitgefühl verwehrt, es erscheint vielmehr als moralische Pflicht, gegen diese obskure Macht aufzubegehren.

Infame Lüge

Hinzu kommen die zahlreichen Versuche, die Bedeutung des Holocaust als präzedenzloses Verbrechen gegen die Menschheit herunterzuspielen. Die infame Lüge, dass die versuchte Vernichtung der Juden lediglich ein „White on White Crime“ ist, wird mitnichten nur von Whoopi Goldberg vertreten, sondern gilt mittlerweile als mehrheitsfähige Position. Wenn der neue Holocaust an den Palästinensern stattfände und die ehemaligen Opfer zu Tätern würden, hätten die Juden das Recht auf Erinnerung und die damit verbundenen Ansprüche verwirkt. Kein Wunder, dass die Forderung nach einem Schlussstrich zum gängigen Repertoire studentischer Proteste gehört und die Rufe nach einem Ende des „Schuldkultes“ in Deutschland besonders laut sind: Ausgerechnet als Sühne für Hitlers Verbrechen soll das vom internationalen Judentum und seinen Lobbyorganisierten „aus Profitgier“ auferlegte Joch der Erinnerung und die imaginierte Verpflichtung zur Unterstützung Israels gebrochen werden. Laut Alain Finkielkraut ist das größte Paradox daher, dass sich in westlichen Ländern das ohnehin brüchige „Nie wieder“ nach dem Holocaust „jetzt gegen Israel verkehrt und das Land plötzlich zum Ziel antinazistischer Massendemonstrationen in Madrid, London und Berlin wird“.

„Are you a Zionist?“ So forderten „propalästinenische“ Demonstranten bereits sehr früh ihre jeweilige Hochschulleitung auf, jüdische Organisationen wie Hillel oder Chabad aufgrund ihrer vermeintlichen Kollaboration mit dem Genozid vom Campus zu verdrängen. An den vielerorts dokumentierten „Checkpoints“ verwehrten die staatlich alimentierten Berufsaktivisten vermeintlichen Zionisten den Zutritt, denn einige könnten sich von der jüdischen Herkunft ihrer Kommilitonen oder Dozenten getriggert fühlen. Unter dem Vorwand, den Campus von Zionismus und daher auch von Rassismus zu säubern, erschwerten sie jüdischen Studenten den Zugang zu Bildung. Dies geschah überproportional häufig an Eliteuniversitäten, die während der Zwischenkriegszeit Zugangsbeschränkungen für Juden einführten, um ihre Einrichtungen respektabel, sprich: unjüdisch zu halten. Damals wie heute verbittet sich die feine Gesellschaft jeglichen Verdacht der Diskriminierung und winkt diesen als Paranoia ab. Neu ist jedoch die offene Verherrlichung der Gewalt an Juden, bei der es um weit mehr als die zu große Sichtbarkeit jüdischer Studenten und Proportionen geht.

Dieselben Sittenwächter, die sonst jede Mikroaggression penibel ahnden, haben offenbar kein Problem mit der Legitimierung eines barbarischen Massakers, das explizit in einer genozidalen Absicht begangen wurde. In der Ideologie der Hamas und ihrer Verbündeten im Iran solle der 7. Oktober so oft begangen werden, bis der jüdische Staat vom Erdboden getilgt ist. Der Ruf nach einer Globalisierung der Intifada ist eine unverhohlene Drohung, die Gewalt auch auf andere Länder auszuweiten. Daher verwundert es nicht, dass auf zahlreichen Demonstrationen stolz antisemitische Sprechchöre skandiert und Plakate präsentiert wurden, die ohne Probleme auch beim Karikaturenwettbewerb zur Holocaustleugnung des iranischen Regimes eingereicht werden könnten. Einige der Rädelsführer riefen sogar offen zum Mord auf, ganz ohne die rhetorischen Schleier des Antizionismus oder die mit Vorliebe ausschließlich von Juden geforderte Empathie für die Gegenseite.

Obwohl es kein zentrales Kommando gibt, werden immer wieder Gruppierungen wie Students for Justice in Palestine (SJP), Jewish Voice for Peace (JVP) und Within Our Lifetime (WOL) als Triebfedern genannt, die das Geschäft mit Palästina durchaus professionell betreiben. Dieses weitverzweigte Netzwerk an Agitatoren erhält finanzielle Unterstützung von Großspendern und deren Stiftungen wie der Ford Foundation, dem Rockefeller Brothers oder Soros Fund, wie Park MacDougald in seinem Artikel in Tablet aufzeigt.

Spenden für die Hamas

Auffällig ist auch die Nähe zur Demokratischen Partei und insbesondere zu den Unterstützern Obamas und seiner Außenpolitik, die zu einem Erstarken des Iran geführt hat und ohne die der Angriff auf Israel nicht möglich gewesen wäre. MacDougald weist zurecht auf den unangenehmen Umstand hin, dass ein israelischer Sieg gegen die Hamas und ihre iranischen Finanziers dem Projekt der Annäherung an Teheran einen vernichtenden Schlag versetzen würde.

Die landesweiten Ableger der Students for Justice in Palestine (SJP) wiederum sind Teil eines nicht weniger unübersichtlichen Netzwerks aus Islamverbänden, die sich allzu gerne Wohltätigkeit und Frieden auf die Fahnen schreiben, jedoch in der Vergangenheit nachweislich und im großen Stil Spenden für die Hamas sammelten. Wird eine Organisation verboten, steht die Nächste bereits in ihren Startlöchern und niemand scheint sich darüber zu wundern, dass diese stets von denselben Aktivisten gegründet werden. Seit Jahrzehnten wird ohne Ergebnis auf diese Verstrickungen und vor allem auf das Interesse von Großmächten wie dem Iran, China oder Russland an der Schwächung westlicher Gesellschaften über Protestbewegungen hingewiesen. Nicht einmal die Aktivisten selbst scheinen einen Hehl aus ihrer offenen Unterstützung für die Hamas, für die Huthi-Miliz oder die Hisbollah zu machen. Es lohnt sich daher, diese beim Namen zu nennen und ihre Äußerungen ernst zu nehmen, anstatt sie als verirrte und von Berufsrevolutionären aufgehetzte Opfer zu sehen.

Die langfristigen Folgen für die jüdische Gemeinschaft in den USA und anderen westlichen Ländern sind schwer abzuschätzen. Einige werden sich für die Auswanderung nach Israel entscheiden, da sie dort trotz des dauerhaften Kriegs an mehreren Fronten zumindest frei und ohne Einschränkungen leben können. Einen Hinweis auf den für westliche Länder aufgrund des drohenden Imageschadens durchaus unangenehmen und daher häufig ignorierten Exodus liefern die zehntausend Juden Frankreichs, die ihrer Heimat in den vergangenen Jahren aufgrund der massiven Bedrohungslage den Rücken gekehrt haben. Andere werden ihre jüdische Identität verstecken und versuchen, der Verfolgung durch die Einschmelzung in die Umgebung zu entgehen. Dies ist nachvollziehbar angesichts des großen Risikos, das mit einem allzu offenen Bekenntnis zur jüdischen Nation, den Traditionen und dem Land Israel einhergeht.

Die USA gelten bis heute als das wichtigste Zentrum der jüdischen Diaspora außerhalb Israels. Die Freiheit, der Wohlstand und die Selbstverständlichkeit, mit der Juden als Teil der amerikanischen Gesellschaft gesehen werden, erfüllt Juden in Deutschland nicht selten mit neidvoller Bewunderung. Louis Brandeis, der erste jüdische Richter am United States Supreme Court und Verfechter des Zionismus, war der Ansicht, dass Juden in den USA, wie andere ethnische Gruppen auch, das Recht haben sollten, ihre Partikularität auszuleben, und dass dies für den amerikanischen Erfolg von zentraler Bedeutung ist. Es geht daher nicht nur um das Wohlergehen von Juden, sondern um westliche Werte im Allgemeinen, als deren Grundlage die jüdische Tradition bis heute fortwirkt und dazu beiträgt, dass die Vereinigten Staaten trotz aller politischen Krisen ein Licht unter den Nationen bleiben und dies auch künftig bleiben sollten.

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Alexandra Bandl

Alexandra Bandl ist im Vorstand des jüdischen Vereins TaMaR Germany. Aktuell ist sie Doktorandin am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow und arbeitet zudem als Bildungsreferentin im jüdischen Kulturzentrum Ariowitsch-Haus in Leipzig.


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