So wurde ich ein Mann

Meine Welt war gespalten, und so ging ich dagegen an
Foto: privat

Ich will Sterne tanzen und zum Ganzen werden, weiter, immer (Rainer von Vielen: Tanz deine Revolution).

Die Protagonistin Sheila hat ein Herz für das Gute auf Erden, heißt es in dem Lied, Sheilas Augen sind offen, doch ihre Welt ist gespalten. Ein tolles Lied, das mich schon wieder zum Weinen bringt und das meine Situation auf den Punkt bringt. Ich habe es jedes Mal beim Grünen-Parteitag aufgelegt. Ob das etwas geholfen hat?

Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, wie der Titel eines berühmten poststrukturalistischen Buchs lautet, ist ein guter Anfang. Freundlichkeit zu Menschen beginnt mit der Freundlichkeit zu Tieren, und anders herum ist das auch so. Wer gern Tiere erschlägt, erschlägt später mit größerer Wahrscheinlichkeit auch Menschen.

Doch die Freundlichkeit zu den Tieren ist nur der Anfang. Wer wirklich poststrukturalistisch und damit dekonstruierend für die Wahrheit, die Freiheit und den Frieden sein will, muss auch Freundlichkeit zu den großen Tieren unserer Gesellschaft entwickeln können: zu den Männern.

Und so wurde ich ein Mann. Wie Friedrich von Spee, der Jesuit, der erkannte, dass die Hexen nichts Falsches tun, setzte ich mich hin und hörte den Männern zu. Ihre Sorgen und Nöte. Ihre Versagensängste. Ihre Unsicherheiten. Ihre Probleme mit den Frauen. Und die Probleme mit den anderen Männern, den Brutalen, die ihnen ihre Freiheit nehmen. Ich habe zwei Brüder, und so bin ich mit Männern aufgewachsen, dennoch ist es gerade in feministischen Zeiten immer schwieriger, auch die weichen Männer wahrzunehmen, die doch eigentlich unsere Freunde sein könnten.

Meine Welt war gespalten, und so ging ich dagegen an. Spazieren gehen, einmal links herum um den Steinbruch, einmal rechts herum. Der Plan, einen Bachmannpreistext über Steinbrüche des Lebens zu schreiben. Rauchen aufhören, Kiffen aufhören, Psychiatrie, Diagnosenlotto, alles umsonst. Ich erhielt keine andere Diagnose als die Depression. Ist es vielleicht Borderline, fragte ich in Eppendorf, die Leute hassen mich doch. Ich mache etwas falsch. Personalerinnen hassen mich auch. Bin ich Narzisstin? Beim Autismustest in Köln, auf den ich zwei Jahre warten musste, bin ich auch durchgefallen. Kann der Hass der anderen Frauen an meiner tiefen Stimme liegen? Ich glaubte sogar, an einer besonderen asiatischen Sozialstörung zu leiden, da ich in meiner Jugend Judo betrieben hatte und daher vielleicht durch die japanischen Verhältnisse geprägt wäre. Es war ja auch nicht alles gut im Judo, Rollen für Frauen gibt es dort nicht. La femme n’existe pas.

In den vergangenen Wochen hatte ich aufgegeben. Therapeutisch wirksam war allenfalls noch das Generieren von AI-Bildern, woran ich großen Spaß hatte. Unter anderem erschuf ich ein Set von mehr als 50 Einhörnern und postete es bei Facebook. Etwas erschaffen, Selbstwirksamkeit erlangen. Das ging bei mir zuletzt nur in solchen digitalen Nischen.

Und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Ich lese einen Artikel von Elena Wolff, Rape Culture und Nationalismus sind die Themen. Wow, ich bin schockiert. Bemerkenswerter Hass! Wer ist sie? Zuerst möchte ich ihr etwas Böses schreiben, zum Glück ist das nicht möglich, sie hat sich digital abgeschottet. Also schaue ich ihre Youtube-Videos. Ist die geil, denke ich. Und: typisch Österreich. Das wäre im weichgespülten Deutschland mal wieder nicht möglich.

Ich lese, dass sich Wolff als Nonbinary versteht. Nicht, dass ich sie geringschätzen würde, aber was die kann, das kann ich auch. Aber ja! Das will ich auch! Den Abend rundet eine Doku über die queere Geschichte Wiens ab, in der Wolff eine attraktive Rolle spielt. Und es beginnt zu regnen ... aus meinen Augen. Endlich darf ich sein, wer ich bin. Ich verstehe mich als Nonbinary. Endlich verstehe ich mich.

Plötzlich kann ich die Fnords sehen, wie es bei „Illuminatus!“ heißt, der Bibel der Hacker und Anarchisten von der US-Westküste. Die Risse in der Matrix, die mich schon so lange zum Oszillieren gebracht haben. Die Ahnungen, die sich als richtig herausstellen sollten. Warum war ich beleidigt, dass ein guter Freund, der gerne zu Dominas geht, mit mir blöden Hetensex haben will, warum durfte ich ihn nicht auspeitschen und auf ihm durch die Manege reiten? Warum hassen mich Lesben, Personalerinnen und Grüne mehr als die Männer? Wieso werde ich jedes Mal wütend und fliehe, wenn jemand den Versuch macht, mich zu heiraten?

„Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Die Nacht ist da, dass was gescheh‘. Ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da, es muss hinaus, hinaus auf hohe See.“ Gustaf Gründgens sieht nicht nur gut aus und ist der Mephisto schlechthin, sondern vertritt mir auch die richtigen Werte. Nicht nur seinetwegen habe ich meine Möglichkeiten mit dem Namen Gustav erweitert. Ihr dürft mich aber natürlich trotzdem weiterhin Julia nennen.

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