Pure Provokation

Klartext

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kasiser. Er ist Pfarrer i.R. in Stuttgart.

Zentraler Eckstein

11. Sonntag nach Trinitatis, 11. August

Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch die Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht. (Galater 2,16)

Durch diesen Satz kam es zur Kirchenspaltung. Nicht schon im ersten Jahrhundert, als er geschrieben wurde, aber im 16. Jahrhundert. Für Martin Luther wurde er zentral, und aus „gerecht werden durch den Glauben“ wurde „allein aus Glauben“. Rom erkannte, dass damit die Axt an die Wurzel des Papsttums gelegt war, handelte, und es kam zur Spaltung der Kirche des Westens.

Seine Schärfe hatte Galater 2,16 schon bei Paulus. Er schleuderte ihn seinen erfolgreichen Gegnern entgegen. Aber kaum war der Apostel aus den von ihm gegründeten heidenchristlichen Gemeinden in Galatien abgereist (das das heutige Gebiet um Ankara und südlich davon umfasst), kamen Judenchristen und verursachten Chaos. Denn sie verlangten die Übernahme der jüdischen Beschneidungspraxis als Voraussetzung des Christseins.

Für Paulus müssen die Nachrichten aus Galatien ein Déjà-vu gewesen sein. Denn sie erinnerten ihn an den „antiochenischen Streit“ mit dem Apostel Petrus. Dieser hatte zunächst die Gemeinschaft mit „Heidenchristen“, den Christen nichtjüdischer Herkunft, beim Gottesdienst gepflegt und damit auch die Tischgemeinschaft. Unter den Vorwürfen von Judenchristen, die jüdischen Speisevorschriften würden nicht eingehalten, wurde Petrus aber rückfällig und verweigerte nun die Tischgemeinschaft. Und das hieß damals, dass ein gemeinsamer Gottesdienst von Christen unterschiedlicher Herkunft nicht mehr möglich war.

Darüber stritt Paulus mit Petrus und deshalb bringt er auch im Galaterbrief seine gesamte Autorität ein und verweist darauf, dass er nicht von den Aposteln in Jerusalem eingesetzt wurde, sondern direkt von Christus. Und Paulus setzt theologische Ecksteine für den christlichen Glauben: Gott ist es, der handelt. Durch ihn kommen Menschen zum Glauben. Und dieser befreit sie. Aus dieser Freiheit eines Christenmenschen ergibt sich menschliches Handeln. Paulus nennt das „Wandel im Geist“. Und dieser orientiert sich am Maßstab der Liebe.

Würde für alle

12. Sonntag nach Trinitatis, 18. August

Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag. Da antwortete ihm der Herr und sprach: Ihr Heuchler! … Musste dann nicht diese, die doch Abrahams Tochter ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel erlöst werden? (Lukas 13,14–16)

Für die Zeitgenossen Jesu war klar: Wer krank ist, ist von einem Dämon besessen – und bei schwerer Krankheit sogar vom Satan. Nun heilt Jesus eine verkrümmte Frau. Ihr Zustand kann Folge eines Rückenleidens sein, eines Schmerzes, der sie beugt, einer psychischen Krankheit oder eines Traumas. Viele Deutungen sind möglich.

Jesus richtet die Frau jedenfalls wieder auf. Dass er sie heilt und segnet, lässt die Menschen aufhorchen. Denn in patriarchalen Gesellschaften werden Frauen nicht gesegnet oder gar geheilt. Jesus macht die Frau groß: Während die Bibel voller Geschichten von den Söhnen Abrahams ist, nennt er sie „eine Tochter Abrahams“. Mit dieser einmaligen Bezeichnung stellt er die Frau auf eine Augenhöhe mit dem Erzvater Abraham. Jesus vergleicht das Heilungsgeschehen mit der Geschichte der Opferung Isaaks durch Abraham. Juden sprechen von Isaaks „Bindung“. Und bei der gekrümmten Frau geht es zum ersten Mal um das Losmachen der Bindung einer Tochter. Und das ist in den Ohren der Zeitgenossen Jesu ein noch nie gehörter, einmaliger Vergleich. Und damit kommt das Fass zum Überlaufen. Alles geschieht an einem Sabbat und dann auch noch vor einer Synagoge. Der Synagogenvorsteher ist außer sich. Aber Jesus erklärt, dass auch Tiere am Sabbat mit dem versorgt werden dürfen, was sie zum Leben brauchen. Warum dann nicht auch Menschen?

Jesus ist ein Heiler. So richtet er auf, was sich im Leben, warum auch immer, verkrümmt hat. Er spricht Menschen eine Würde zu, die andere ihnen absprechen. Und Jesus fordert Menschen dazu auf, sich entsprechend dieser Würde auch zu verhalten.

Anderes Leben

13. Sonntag nach Trinitatis, 25. August

Wenn ein Fremdling bei Euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei Euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott. (3. Mose 19,33–34)

Ich wundere mich immer, warum Menschen, die die Bibel wörtlich nehmen und von Mitchristen fordern, an die „Verbalinspiration“ der Heiligen Schrift zu glauben, dann nichts davon wissen wollen, wenn es um die konkrete Anwendung von Anweisungen der Bibel geht. Besonders um die der Bergpredigt. Aber auch der Abschnitt aus dem 3. Buch Mose – Levitikus genannt – hat es in sich. Hier wird klar und deutlich die religiöse Ordnung des Alltags, insbesondere des Sabbats, geregelt. Und das betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft.

Im vierten Jahrhundert vor Christus werden die Priester des Jerusalemer Tempels immer bedeutsamer. Denn das Land ächzt unter der Herrschaft der Perser. Da bestimmen die jüdischen Priester den Alltag, geben ihm Struktur, Richtung und Halt. Und sie greifen dabei nicht nur auf die Zehn Gebote zurück, sondern erneuern auch alte Gesetzesvorschriften. Sie lesen dem Volk die Leviten.

Den Priestern geht es um konkrete Anweisungen, wie man inmitten einer religiös vielfältigen Welt „heilig“ leben soll und kann – indem man sich seiner Besonderheit als Erwählter bewusst wird und sich bewusst macht, welche Handlungen daraus folgen müssen. Mit diesen unterscheidet man sich nämlich von den anderen. Keine schlechte Idee für Christen: in einer religiös pluralen und säkularisierten Welt zu wissen, warum man anders lebt. Dem jüdischen Religionswissenschaftler Pinchas Lapide wird die Erkenntnis zugeordnet: „Entweder nimmt man die Bibel wörtlich – oder ernst! Beides zusammen geht nicht!“

Ohne Nörgelei

14. Sonntag nach Trinitatis, 1. September

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! (Römer 8,14–15)

Nörgler und Miesmacher haben gerade Hochkonjunktur. Die modernen Rattenfänger greifen sie auf, finden ungeheures Echo in den sozialen Medien und verführen Menschen mit einfachsten Lösungen.

Aber die alten Menschheitsfragen sind auf einmal wieder topmodern: Was zählt im Leben? Worauf gründe ich mich? An was will ich gemessen werden? Und was ist mein eigener Maßstab? So gefragt ist Paulus für uns Christen wegweisend modern. Er will nach Rom, kennt die Gemeinde dort noch nicht und stellt sich daher durch einen Brief vor. Der Apostel begründet ausführlich seine Theologie: Er beschreibt uns als Kinder Gottes. Und weil er weiß, dass für viele Menschen die eigene Kindheit schlimm war, beschreibt er eine gute Kindheit als das Beste, was es gibt. Sie prägt nicht die Herrschaft des Unterdrückers oder der Unterdrückerin, sondern eine enge, liebende Beziehung. Und so haben wir keinen Gott zu fürchten, der einem übermächtigen Vater gleicht oder einer Mutter, die nicht loslassen kann. Vielmehr dürfen wir Gott als „Papa“ anreden, so wie es Jesus tat. Er sprach den himmlischen Vater in seiner aramäischen Muttersprache als „Abba“ an und forderte seine Jüngerinnen und Jünger auf, es genauso zu halten.

Christen sollten sich mehr bewusstwerden, dass der Geist Gottes sie beflügeln will und sie damit eine besonders enge Beziehung zu Gott haben. Getragen von dieser Beziehung kann man ohne Nörgelei und Miesmacherei leben und auch so am Reich Gottes mitwirken.

Gottes Spiegel

15. Sonntag nach Trinitatis, 8. September

Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet … Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. (Matthäus 6,25+33)

Der Umgang mit Sorgen gehört zum Menschsein. Und gerade deshalb ist der Anspruch von Jesus pure Provokation. Die Heiden machen sich Sorgen, die Jünger, die Gläubigen, können dagegen sorgenfrei sein. Denn um alles kümmert sich der himmlische Vater. Punkt!

Vor den Pointen der Bergpredigt besteht kein Mensch. Was Matthäus da an Sprüchen des Herrn zusammengetragen hat, übersteigt alle menschlichen Möglichkeiten. Aber vielleicht ist die Bergpredigt gar kein Forderungskatalog fürs perfekte Christsein, sondern stellt die Frage, wer der Herr eines Menschen ist. „Woran Du Dein Herze hängst, das ist Dein Gott!“, hat Martin Luther gesagt. Das kann Macht sein, Geld, Sex – und eben auch Sorge. Das, was uns Tag und Nacht beschäftigt, was uns unablässig umtreibt, ja die Triebfeder unseres Handelns und Denkens ist – das ist in Wirklichkeit der Gott, dem wir anhängen und folgen. Betrachte die Bergpredigt also wie einen Blick in den Spiegel. Und gib Dir dann eine ehrliche Antwort darauf, was Dich letztlich leitet und antreibt. So kannst Du die Frage beantworten, wer in Wirklichkeit Dein Gott ist.

Gott der Herr will in unserem Leben der Bestimmende sein. Zu ihm gelangt man, indem man im Alltag seinen Glauben lebt und Gerechtigkeit in kleinen Schritten umsetzt, immer mit dem Ziel, an der Schaffung des Reiches Gottes mitzuwirken. Die Tübinger Theologiestudenten Hegel, Hölderlin und Schelling ermutigten sich jeden Tag zu diesem Ziel, indem sie sich mit „Reich Gottes!“ begrüßten und verabschiedeten. Wer ein Ziel hat, kann auch den Weg dahin finden. 

 

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