Provokantes aus der Sommerfrische

Auf dem Berg Ritten schrieb Sigmund Freud sein religionspsychologisches Buch „Totem und Tabu“
Freud
Foto: Martin Glauert

Sigmund Freud machte in den Sommermonaten 1911 und 1913 mit der ganzen Familie wochenlang Urlaub in Südtirol. Bei aller Entspannung, Wandern und Pilzesammeln hat er aber offenbar nicht ganz abgeschaltet. zeitzeichen-Autor Martin Glauert hat sich auf Spurensuche begeben.

Familie Freud hat ein Problem. Der Ahnherr der Psychoanalyse offenbart in einem Brief an seinen Freund C. G. Jung: „Der Sommer ist für uns eines jener Probleme, die durch keine Lösung zu erledigen sind.“ Für den Gelehrten, dessen Tagesablauf in Wien von morgens 7 Uhr bis nachts 1 Uhr minutiös verplant ist, muss auch der Urlaub mit größtem Ernst und bis ins Detail vorbereitet sein. Bereits Anfang des Jahres beginnt Freud mit den Planungen, um den idealen Aufenthaltsort oder die malerischste kleine Villa in den Alpen zu finden. Im Jahr 1911 fällt die Wahl auf den Ritten in Südtirol, hier zwischen Klobenstein und Oberbozen wird er sein vielleicht letztes unbeschwertes Jahr verbringen. Seine Silberhochzeit feiert er im Familienkreis, genießt die Bergwelt – und verfasst wie nebenbei eines seiner genialsten und skurrilsten Werke, das bis heute für Kontroversen sorgt.

In der beeindruckenden und manchmal bizarren Natur Südtirols suchte Sigmund Freud Erholung.
Foto: Martin Glauert

In der beeindruckenden und manchmal bizarren Natur Südtirols suchte Sigmund Freud Erholung.

 

Die passende Anreise erfolgt mit der Rittnerbahn. Genauso wie vor 100 Jahren zuckeln die hölzernen Waggons der Elektrischen durch die blühenden Wiesen gemächlich den Hang hinauf. „Absteigen während der Fahrt verboten!“, ermahnt ein Emaille-Schild die Reisenden, und das ist bei diesem Tempo gar nicht so abwegig. Die Fahrgäste aber haben sich längst auf den Holzbänken eingerichtet und genießen den Blick auf die herrliche Bergwelt, die an ihnen vorüberzieht. Im Führerstand der Bahn ist es eng, und man wird kräftig durchgerüttelt, während der Zug über die alten Schwellen rattert. Die Zeiger in den messingbeschlagenen Instrumenten geben zitternd Auskunft über Batteriestand und den Luftdruck der Bremsen. Bei jeder Kuh, die den Gleisen zu nahekommt, betätigt der Fahrer per Fußtritt lautstark eine Glocke, die weithin zu hören ist. Der hektische Alltag bleibt im Tal zurück, die Reise in die Vergangenheit hat begonnen.

Rittnerbahn
Foto: Martin Glauert

Noch heute kann man, wie der Begründer der Psychoanalyse, mit der Rittnerbahn anreisen und im Hotel Holzner wohnen.

Hier oben auf dem Ritten wurde die Sommerfrische erfunden. Seit dem 16. Jahrhundert flohen die wohlhabenden Bozener Bürger in den Sommermonaten aus dem glutheißen Kessel der Stadt hier herauf, wo es angenehm frisch und kühl war. Jedes Jahr am 29. Juni, dem Peter- und Paulstag, wurden Hausrat und ausreichend Wäsche in Truhen und Schachteln verstaut, die Kinder in geflochtene Tragkörbe gepackt und hier heraufgebracht. Während in Bozen zeitweise sogar die Malaria wütete, ließ die gehobene Gesellschaft es sich hoch über dem Treiben der Welt gut gehen. Daraus entwickelte sich ein regelrechter Kult, der bis heute gepflegt wird. Von „Peter und Paul“ bis „Mariä Geburt“ dauert die Periode der Sommerfrische, und wer kann, verbringt die Zeit auf diesem idyllischen Hochplateau. Die traditionsbewusste Dame bevorzugt dabei luftige Kleider und einen breitkrempigen Sommerhut, der vor der Sonne schützt und gleichzeitig ein diskretes Kokettieren mit den Augen erlaubt. Der bekennende männliche Sommerfrischler trägt einen Lodenmantel mit rotem Kragen, manche auch einen schwarzen Kragen, eine subtile soziale Symbolik, an der die Eingeweihten sich erkennen. Dieses elitäre Selbstverständnis hebt gleichzeitig alle anderen sozialen Schranken auf. Einen Sommer lang duzt der Pförtner seinen Konzernherren, ohne ihn vielleicht zu kennen. Der entspannte Kamerad, mit dem man bei Kaffee und Kastanienkuchen lässig über das Wetter plaudert, erweist sich als Außenminister – na und?

Anfang August 1911 trifft Sigmund Freud auf dem Ritten ein. Seine Frau und die sechs Kinder sind wie jedes Jahr vorausgefahren und erwarten die Ankunft des Familienoberhauptes mit Spannung. Freud kommt in Wien mit seinen Kindern nur zu den Essenszeiten und sonntags stundenweise zusammen. „Seine Anstrengung zur Selbstbeherrschung im Dienste konzentrierter Arbeit zwingt ihn zu einem präzisen Zeitplan“, erklärt sein Biograph feierlich. Neffe Ernst fasst es kürzer: „Er lebt nach der Uhr.“ Umso sehnsüchtiger werden die langen Sommerferien von der ganzen Familie erwartet, sind sie doch eine glückliche Gelegenheit, zusammen zu sein. „Seine Ankunft bildet den bedeutendsten Moment des Urlaubs“, schildert ein Freund der Familie. Es beginnen die Wanderungen, die Aufstiege, das Pilzesuchen, das Pflücken von Himbeeren und Blumen. Ein Foto Freuds aus dieser Zeit zeigt einen älteren Herrn mit weißem Vollbart. Hemd und Krawatte sitzen tadellos, darüber trägt er Lodenjacke, Lodenhosen und Lederstiefel bis zum Knie. Wanderstock und Filzhut weisen ihn als leidenschaftlichen Wanderer aus, nur in der linken Hand hält er die unvermeidliche Tabakpfeife, die ihm später zum gesundheitlichen Verhängnis wird.

Heute würde man über eine solche Erscheinung lächeln, diesen großbürgerlichen Waldschrat, damals aber war er eine Ehrfurchtsperson. Auch für seine Kinder, und das machte selbst vor dem Pilzesuchen nicht Halt, wie die Schilderung seines Sohnes Martin verrät: „Sobald er ein prächtiges Exemplar, einen Steinpilz, gefunden hatte, stürzte er sich auf ihn, warf seinen Hut darauf und stieß mit seiner kleinen Silberpfeife, die er in seiner Westentasche trug und mit der er seine kleine Truppe um sich versammelte, einen schrillen Pfiff aus. Auf dieses Zeichen hin liefen wir alle zusammen, und erst wenn unsere Aufregung am größten war, entfernte mein Vater den Hut und erlaubte uns, die Beute zu prüfen und zu bewundern.

Lust zum Nichtstun

Der disziplinierte Gelehrte mit dem engen Zeitkorsett findet in diesen Tagen offensichtlich Entspannung und Ruhe. Seinem Freund C. G. Jung schreibt er: „Hier auf dem Ritten ist es göttlich schön und behaglich. Ich habe eine unerschöpfliche Lust zum Nichtstun bei mir entdeckt.“ Aber auch im Urlaub kann der Denker nicht ganz abschalten. Mit Blick auf die zahlreichen Kapellen, Kirchen und Kruzifixe am Weg bemerkt Freud: „Die Frequenz der Herrgötter hier in Tirol, wo sie ja zahlreicher sind als bis vor kurzem die Herren Pilger, hat mich zu religionspsychologischen Studien beeinflusst.“

„Die Frequenz der Herrgötter hier in Tirol (…) hat mich zu religionspsychologischen Studien beeinflusst.“
Foto: Martin Glauert

Und weiter: „Ich habe sonderbare unheimliche Dinge aufgewühlt und werde beinahe verpflichtet sein, mit Ihnen nicht darüber zu reden.“ Die vielversprechende Andeutung und gleichzeitige Geheimnistuerei ist heute ein geläufiger Werbetrick der Unterhaltungsindustrie. Damals aber sprachen vielleicht wirklich Unsicherheit und berechtigte Skrupel daraus. Freud war sich bewusst über die Verwegenheit seiner Theorien. Und über deren mögliche Auswirkungen: „Nach der Publikation werde ich wohl nicht wieder in Tirol eingelassen werden“, befürchtete er.

Fin de Siècle erleben

Im Hotel Holzner hat sich seit den Zeiten Freuds kaum etwas verändert, hier lässt sich das Fin de Siècle hautnah erleben. Direkt an der Haltestelle der Rittnerbahn in Oberbozen gelegen, erweist es sich als regelrechte Schatztruhe. Die großen, herrschaftlichen Räume sind in reinem Jugendstil eingerichtet. Holzdielen knarren unter den Füßen, im Aufenthaltsraum aber werden die Schritte durch schwere Teppiche gedämpft. Der Speisesaal ist komplett mit klassischen Thonet-Stühlen ausgestattet, die Tische sind ganz selbstverständlich mit altem Silberbesteck und Kristallkaraffen gedeckt. Messinglampen im reinen Art déco verbreiten ihr warmes Licht, überall tun sich gemütliche Sitzecken auf, in denen abends stille Leser sitzen oder Gäste beim Drink angeregt plaudern. Das ganze Ambiente atmet den Geist der „guten alten Zeit“ vor dem Ersten Weltkrieg, bevor in Europa die Lichter ausgingen. Damals war die große Welt hier zu Gast, unter anderem eben auch Sigmund Freud. In einem der schweren Ledersessel im Leseraum im warmen Licht der Stehlampe mag Freud gesessen haben, als er seine Abhandlung Totem und Tabu entwarf.

Noch heute kann man, wie der Begründer der Psychoanalyse, mit der Rittnerbahn anreisen und im Hotel Holzner wohnen.
Foto: Martin Glauert

Freud glaubt, den Ursprung der Religion entdeckt zu haben. Die Störungen im Seelenleben seiner Patienten sind für ihn Spuren, die ihn detektivisch zurück in fernste Vergangenheit und zu den Wurzeln jeglicher Religion führen. Dieser gewagte „Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden“, beinhaltet Gedankengänge, die man als genial oder als absurd betrachten kann – auf jeden Fall sind sie es wert, erwähnt zu werden. Kurz zusammengefasst, geht es darum: Bei den primitiven Völkern Melanesiens gibt es ein so genanntes Totemtier, das an bestimmten religiösen Feiertagen verehrt, getötet und verzehrt wird. Freud ist der Auffassung, dass dieses Ritual aus unbewusster Erinnerung an ein Urverbrechen in grauer Vorzeit geschieht. Damals habe die Urhorde ihren Vater, einen Tyrann und unumschränkten Herrscher, getötet und dann verzehrt. Danach aber sei sie von Schuldgefühlen überfallen worden. Zur Sühne und um die Wiederholung eines solchen Verbrechens zu verhindern, habe die Brüderhorde das Tabu des Vatermordes und des Inzests geschaffen. Das Totem sei nichts anderes als „die erste Form des Vaterersatzes, der Gott aber eine spätere, in welcher der Vater seine menschliche Gestalt wiedergewonnen.“ Die Einführung väterlicher Gottheiten geschah also, damit die Söhne ihnen gegenüber die Schuld des Urvatermordes verbüßen konnten. Die seelischen Anlagen und die Erinnerungen der primitiven Gemeinschaft hätten sich in den Menschen über Jahrtausende im Unbewussten bis heute erhalten. Die Beziehung zum Vater und der Ödipuskomplex sind nach Freud der Ursprung der Religion und bilden gleichzeitig auch den Kern aller individueller Neurosen. Er nahm an, dass „die Zwangsvorstellung die Religion des Neurotikers ist, während die Religion die Zwangsneurose der Menschheit ist.“

Wie Freud selbst vorausgesehen hatte, riefen dermaßen provokante Deutungen in der Fachwelt ein tief gespaltenes Echo hervor. Der weltberühmte Anthropologe Claude Lévi-Strauss schrieb: „Was ‚Totem und Tabu‘… unannehmbar macht, ist die Unhaltbarkeit der Hypothese der Männerhorde und des Mords am Urvater.“ Ganz anders urteilte der Dichter Umberto Comisso: „Es ist ein auf die Ursprünge der Menschheit gerichtetes Lichtbündel; es ist der größte Schritt, der nach Darwin gemacht wurde.“ 

Auf der Freud-Promenade

Die Südtiroler erteilten Sigmund Freud nicht das von ihm gefürchtete Einreiseverbot, im Gegenteil widmeten sie ihrem berühmten Gast anlässlich seines 150. Geburtstages die „Freud-Promenade“, die einzige weltweit! Der knapp sechs Kilometer lange Wanderweg von Oberbozen zum Nachbarort Klobenstein führt durch Wiesen und kleine Waldstücke, immer wieder öffnen sich herrlich freie Blicke auf die Dolomiten. 

Auf halber Strecke der Freud- Promenade steht der Meister persönlich mit seiner Tochter am Arm.
Foto: Martin Glauert

Auf halber Strecke der Freud-Promenade steht der Meister persönlich mit seiner Tochter am Arm.

13 Sitzbänke stehen am Weg, geschmückt mit Fotos, Briefausschnitten und Zitaten aus Freuds Werken, die zum Nachdenken anregen. Auf halber Strecke treffen wir sogar auf den lebensgroßen Meister persönlich, der auf einem alten Foto mit seiner Tochter Anna untergehakt hier lustwandelt. Am Bahnhof Klobenstein angekommen, ist eine abstrakte Skulptur nicht zu übersehen, die an das Werk Totem und Tabu  erinnert, das in dieser Gegend entstanden ist. Der Ritten hat offensichtlich kein Problem mit Freud.

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