Neue Offensive in Europa
China hat nicht geschlafen und ist den Europäern bei den immer wichtigeren Elektroautos davongefahren. Längst hat Peking die Automobilindustrie als strategisch wichtiges Wachstumsfeld identifiziert und in den vergangenen Jahren enorm viel Staatsgeld in die Branche gesteckt. Ist das Ende der deutschen Autoherrlichkeit nahe? Eine Analyse von Kai Schöneberg, der das Ressort Wirtschaft und Umwelt der tageszeitung taz leitet.
Saic Anji Sincerity“ oder „ Explorer 1“: So heißen die 200 Meter langen und fast 40 Meter breiten Frachter mit tausenden Neuwagen an Bord, die derzeit für tiefe Grübelfalten bei Deutschlands Autobossen sorgen. Die Riesenpötte sind Teil der neuen chinesischen Autooffensive in Europa. Allein E-Auto-Branchenprimus BYD hat acht von ihnen bestellt, um den alten Kontinent mit Elektroautos aus der Volksrepublik zu fluten.
Es ist ein weiterer Versuch aus Fernost, die uralte Regel zu brechen, dass wirklich gute Autos aus dem Westen kommen müssen. Seit Jahrzehnten gelten Fahrzeuge „Made in Germany“ als Exportschlager: Ob VW Golf, BMW 7er oder Mercedes S-Klasse, sie waren und sind geschätzt in allen Teilen der Welt. Doch in der Zeit der Coronapandemie haben die deutschen Autokonzerne die Antriebswende verpasst: weg von fossilem Benzin und Diesel, hin zum Fahren mit Strom. China hat nicht geschlafen – und ist den Europäern bei den immer wichtigeren Elektroautos davongefahren. Längst hat Peking die Automobilindustrie als strategisch wichtiges Wachstumsfeld identifiziert und in den vergangenen Jahren enorm viel Staatsgeld in die Branche gesteckt.
Das zahlt sich im Zuge der Elektrifizierung des Sektors nun aus. „Wir dürfen nicht den Fehler machen, aufgrund der Erfolge der Vergangenheit zu erwarten, auch in Zukunft erfolgreich zu sein“, sagt Philipp Kupferschmidt, Autoexperte bei der Unternehmensberatung Accenture. Viele Europäer sind in Panikstimmung: Die Branche befinde sich in einer „darwinistischen Periode“, sagte unlängst Stellantis-Chef Carlos Tavares. Stellantis ist die Holding des derzeit weltweit fünftgrößten Autoherstellers mit Marken wie Fiat, Peugeot oder Opel.
Etwa 100 E-Auto-Hersteller aus China versuchen sich inzwischen auf dem Markt – und haben gigantische Überkapazitäten für die Produktion von rund 50 Millionen Fahrzeugen im Jahr geschaffen. Insbesondere betroffen davon könnte das Autoland Deutschland sein. Der britische Economist malte sich bereits aus, was passieren würde, wenn die mit 780 000 direkt Beschäftigten größte hiesige Industriebranche in die Knie gehen würde: Es wäre das Ende der deutschen ökonomischen Vorherrschaft in Europa – und wahrscheinlich Startpunkt einer langen Ära mit ultrarechten Regierungen in Berlin.
Erst zu spät haben auch die Verantwortlichen die Dramatik der Lage begriffen. „Die Zukunft der Marke VW steht auf dem Spiel“, beschrieb Volkswagen-Markenchef Stephan Schäfer vor Managern die Lage des Konzerns. Er sprach von zu vielen hohen Kosten, fallender Nachfrage und unklaren politischen Vorgaben. „Das Dach brennt lichterloh“, versuchte Schäfer die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Europas größtem Autokonzern wachzurütteln. Stefan Bratzel, Auto-Experte und Leiter des Forschungsinstituts Center of Automotive Management, beschreibt die Krux der hiesigen Hersteller so: „Gerade deutsche Autobauer müssen mindestens so viel innovativer und besser sein, wie sie teurer sind.“ Das können sie jedoch derzeit nicht gewährleisten.
Einige Fachleute fürchten bereits, dass sich der erste „China-Schock“ wiederholt, also die Folgen der Integration des damals noch zum Großteil bitterarmen Landes in den Weltmarkt in den Jahren 1997 bis 2011. Der beginnende Aufstieg zur Supermacht hat für den Westen bis heute spürbare Folgen. Er führte damals allein in den USA zu einer Million verlorener Produktionsjobs und in der Folge zu hohen Todeszahlen bei Arbeiterinnen und Arbeitern. Außerdem förderte er den Aufstieg Donald Trumps und war einer der Startpunkte der beginnenden Deglobalisierung. Viele fragen sich nun: Steht derzeit ein ähnliches Fiasko für die Automobilindustrie des Westens ins Haus, vor allem für die Deutschlands?
Das Ergebnis ist nicht eindeutig. Einerseits haben die chinesischen Hersteller in den vergangenen Jahren enorm auf- und überholt. Bei den Batterien sind sie ohnehin seit langem Technologie- und Weltmarktführer. Aber nun sind sie auch bei Software und Hightech-Schnickschnack im Auto den Europäern enteilt. Der Kostenvorteil der Chinesen gegenüber hiesigen Herstellern liegt laut Fachleuten derzeit insgesamt bei 20 bis 30 Prozent.
Geld vom Staat
Auf das Geld müssen Saic oder auch Marken wie Xiaomi, Nio und Xpeng aber ohnehin nicht so genau achten: Die Expansion der Autoindustrie wird strategisch mit Fünfjahresplänen vom chinesischen Staat gesteuert – und hoch subventioniert. Allein BYD bekam im vergangenen Jahr umgerechnet zwei Milliarden Euro vom Staat, zeigt eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Mitautor Dirk Dohse kann der im Westen als Preisdumping empfundenen Politik zum Beispiel bei Solarpanels sogar positive Aspekte abgewinnen: „Zwar ist die europäische Industrie gegen die Konkurrenz aus China preislich oftmals nicht mehr konkurrenzfähig. Ohne Chinas subventionierte Technik würden aber auch Produkte teurer und knapper, die Deutschland für die grüne Transformation benötigt.“ Das „bezahlbare Elektroauto aus China ist ja so etwas wie die große Hoffnung des deutschen Bürgers“, erklärt auch Frank Schwope, Autoexperte der Fachhochschule des Mittelstands in Köln und Hannover.
Aber die hiesigen Autobauer fühlen sich in ihrer Existenz bedroht – und kündigten unisono an, innovativer und effizienter zu werden. Volkswagen spricht von Milliardenkürzungen und kostensparenden Arbeitsverlagerungen in Werke zum Beispiel in Polen. Überraschend kam dann selbst für Fachleute Ende Juni die Ansage, die Wolfsburger wollten fünf Milliarden Dollar in das bislang weitgehend erfolglose Elektroauto-Start-up Rivian stecken.
Die Idee dahinter: Die US-Amerikaner sollen den Job erledigen, den die Volkswagen-Tochter Cariad bislang oft zu spät und nicht mit den gewünschten Ergebnissen lieferte: Software à la Volkswagen programmieren. Die VW-Bosse hoffen nun, mit Rivian schneller den nötigen Paradigmenwechsel in der Fahrzeugproduktion zu meistern. Es geht um die Entwicklung von „Software Defined Vehicles“: Statt das Auto außen und innen zu designen und die Steuerung später einzubauen, steht nun die Betriebssoftware am Anfang des Prozesses. Die Fahrzeug-Hardware wird nachrangiger – und später angepasst. Die ersten Autos mit Rivian-Technologie – Software, Zentralrechner und Kabel – sollen 2028 auf die Straßen kommen, zunächst bei Fahrzeugen der VW-Töchter von Audi und Porsche.
Eingekaufte Hilfe
Auch auf dem aktuell schwierigen Automarkt in China musste sich VW bereits Hilfe einkaufen: Gemeinsam mit dem Autobauer Xpeng wollen die Wolfsburger eine neue, kostengünstige E-Auto-Plattform für China entwickeln. Die ersten beiden Modelle aus der deutsch-chinesischen Liaison sind für 2026 angekündigt. Den ersten E-Kleinwagen für um die 20 000 Euro für Deutschland will VW erst 2027 auf den Markt bringen.
Ähnliches hat die Konkurrenz aus Fernost aber längst im Angebot. Und noch viel mehr: Die Zahl der weltweit exportierten chinesischen Fahrzeuge hat sich in den vergangenen fünf Jahren auf fast fünf Millionen im Jahr 2023 verzehnfacht. Die Volksrepublik exportiert damit inzwischen mehr Fahrzeuge als jedes andere Land weltweit. Deutschland kam dagegen „nur“ auf 3,1 Millionen exportierte Autos. Die Tendenz zeigt insgesamt nach Fernost: An den zehn umsatzstärksten Automodellen weltweit seien derzeit Produzenten aus der Volksrepublik bereits mit rund 83 Prozent an der Wertschöpfung beteiligt, Firmen aus anderen Teilen der Welt kämen lediglich auf einen Anteil von 17 Prozent, rechnete unlängst die Unternehmensberatung Boston Consulting Group aus. Noch größer ist das Missverhältnis der Untersuchung zufolge beim Herzstück der Autos: Batterien entstammten weltweit zu mehr als 90 Prozent chinesischer Produktion. Im traditionellen Geschäft mit Benzin- und Dieselfahrzeugen kommen Anbieter aus der Volksrepublik dagegen lediglich auf einen Wertschöpfungsanteil von knapp 30 Prozent.
Auch die krisengeplagte Weltpolitik birgt keine guten Nachrichten für die hiesigen Fahrzeugbauer. Alle Zeichen stehen auf einen globalen Handelskonflikt rund um der Deutschen liebsten Exportschlager, das Auto. Mitte Mai kündigte der wahlkämpfende US-Präsident Joe Biden an, die Zölle auf importierte chinesische Halbleiter, Mineralien, Medizinprodukte zu erhöhen – und jene für E-Autos gar zu vervierfachen, um gegen Dumpingpreise vorzugehen.
Klingt zwar, als habe es keine Auswirkungen auf Europa, drängt jedoch die technologisch gereiften Fahrzeuge aus China automatisch in andere Volumenmärkte wie die EU. Zudem hat kurze Zeit später die alte und wahrscheinlich auch neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Strafzölle auf chinesische Stromer angekündigt – um bis zu 38 Prozent könnten sich so einzelne Marken aus Fernost verteuern. Ab 4. Juli traten die vorläufigen EU-„Sonderzölle“ in Kraft, möglicherweise auch noch über diesen Zeitpunkt hinaus wird darüber verhandelt.
Vor allem den Deutschen ist daran gelegen, dass es nicht zu einem weiteren Hochschaukeln des Streits kommt – die Abhängigkeit von China, immer noch nach den USA der zweitwichtigste deutsche Handelspartner, ist zu hoch. Während vor allem Frankreich für ein härteres Auftreten gegenüber dem auch in Richtung Taiwans immer kantiger auftretenden Peking ist, bremst das Kanzleramt in Berlin scharf ab: Es teilt die Angst der deutschen Autobauer vor chinesischen Vergeltungsmaßnahmen. Jedes dritte Fahrzeug von Mercedes und BMW wird inzwischen in China verkauft, bei Volkswagen ist es sogar fast die Hälfte.
Und als wäre das noch nicht genug: Die EU werkelt schon an einem möglicherweise weiteren Nackenschlag für die Branche. Die neuerliche Diskussion um das von der EU angepeilte Aus für den Verkauf von Verbrennermotoren im Jahr 2035 halten viele Fachleute für immens schädlich für die am liebsten langfristig planende Industrie. „Anstatt unsere Autobauer zu retten, zerstört das Gerede über eine Abkehr vom Verbrenneraus unsere Industrie“, kritisiert Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer die aktuelle Diskussion, in die auch EU-Kommissionschefin von der Leyen im Wahlkampf eingestiegen war. „Deutschlands Hersteller brauchen den Hochlauf der E-Mobilität unbedingt, um in die Massenproduktion zu kommen“, so der Ökonom. „Wer sagt, er wolle das Verbrennerverbot kippen, schadet dem Standort.“ Die E-Wende wackelt plötzlich wieder: Mercedes hat seine Pläne, bei den Verbrennermotoren abzuspecken, bereits zeitlich nach hinten geschoben.
Immerhin: Vorerst kann der erneute Angriff aus Fernost auf Europas Automärkte als gescheitert gelten. Zu Tausenden stehen die per Frachter aus China importierten E-Kisten nämlich derzeit auf riesigen Parkplätzen im Hafen von Bremerhaven, einem der größten Autoumschlagplätze der Welt. Ihnen droht Schimmelbefall im Innenraum.
Keine Entwarnung
Der schleppende Absatz hat verschiedene Ursachen: Seit dem Ende der Verkaufsprämie Ende vergangenen Jahres ist das Interesse an E-Autos in Deutschland stark gesunken, die Absatzzahlen rauschten nach unten. Die Diskussionen über die mangelhafte Ladeinfrastruktur tun ihr Übriges. Zudem ist das Image der China-Autos hierzulande weiter grau, es gibt zu wenig Werbung, wenig Werkstätten – und keine zündende Vertriebsstrategie.
Das heißt jedoch keineswegs Entwarnung für die hiesigen Autobauer. Der größte chinesische Autoexporteur Chery will 2024 mit gleich drei neuen Marken in Deutschland starten: Omoda, Jaecoo und Exlantix. Außerdem hat Chery angekündigt, eine Produktion in Spanien zu starten, um besser in Europa Fuß zu fassen. Dass eine eigene Fabrik potentielle Strafzölle umgeht, hat auch BYD erkannt – und plant eine Fabrik in Ungarn.
Kai Schöneberg
Kai Schöneberg leitet das Ressort Wirtschaft und Umwelt der tageszeitung taz in Berlin.