Heilig’s Blechle

Die Verschrottung des Autohimmels
Auto
Foto: akg-images/Elizaveta Becker

Sein Vater fuhr ein fettes Auto. Ein Bonzenauto. Schwedenstahl! Hier wurde erneut ein strukturelles Problem des Calvinismus deutlich: Durfte man dieses äußere Zeichen von Gottes Segen auf sich selbst zeigen – oder verbot dies die unabdingliche Demut? Der Autor und Theologe Klaas Huizing über das schrecklich-schöne Zusammenspiel von Auto und Mythos.

Der Schamspeicher meines Vaters war stets gut gefüllt, das verdankte er seiner calvinistischen Grundausbildung. Und er war herrlich gewieft darin, ein strukturelles Problem des Calvinismus zu lösen: Einerseits wurde beruflicher und geschäftlicher Erfolg gedeutet als Zeichen dafür, Gott lasse Segen auf der Arbeit ruhen, bitteschön; andererseits durften sichtbare Zeichen des Erfolgs allenfalls demütig präsentiert werden. An Demut machte uns Calvinisten keiner etwas vor.

Mein Vater fuhr ein fettes Auto. Ein Bonzenauto. Schwedenstahl! Ein Volvo 164. In der Litfaßsäulen-Werbung stand ein Elefant auf dem Dach; der Autohimmel brach trotzdem nicht ein. Unverwüstlich. Sicherheit pur. Allerdings 20 bis 23 Liter Benzin pro 100 km im Stadtverkehr. Nun gut. Wir lebten auf dem Dorf. Das Auto hatte eine prächtige Schnauze, ein Kühlerglanzstück, das verdächtig an einen Rolls Royce erinnerte. Mein Vater zögerte lange, ob er als Farbe gold- oder silbermetallic wählen sollte. Er entschied sich für die demütigere Farbe. Dafür gab es als kleine Extras ein Holzlenkrad, eine Wurzelholzausstattung und echte Ledersitze. Ein Designpanzer auf Rädern. Ich durfte bei der Jungfernfahrt vorne sitzen. Kerzengrade. Wusste damals natürlich noch nicht, dass dieses Auto später meine Hochzeitskutsche werden würde. Als mein Vater auf deutlich über hundert Sachen beschleunigte, konnte sein Gesicht die Freude nicht länger zurückhalten, er überstrahlte die Sonne und zwinkerte mir aus dem rechten Auge verschwörerisch zu.

Einen ganzen Frühling und einen ganzen Sommer lang gingen wir nach dem Kauf des Autos sonntags zu Fuß zur Kirche. Meine Mutter mit einem gerade noch demütigen Absatz unter ihren Sonntagsschuhen. Das war der Trick meines Vaters. Er löste seine Schamverdrückung temporal. Erst nach einem halben Jahr fuhr er ungebremst mit dem Auto zur Kirche, sagte sehr selbstbewusst auf spitze Bemerkungen hin, das Auto sei ja nicht mehr neu, schon bald gebe es ein neues Modell, es sei schon beinahe eine alte Karre. Meine Mutter kopierte die Methode: An einem Sonntag trug sie den neuen Kostümrock auf dem Kirchenlaufsteg, eine Woche später nur die Jacke, dann das ganze Kostüm plus Bluse, nach vier Wochen gesellten sich die Schuhe hinzu. Jetzt war die Garderobe komplett. Der Reigen konnte erneut beginnen.

Der französische Philosoph Roland Barthes (übrigens ein reformierter Christ und regelmäßiger Gottesdienstbesucher, zugleich ausgestattet mit einem elastischen Gewissen) hat ein wunderbares Buch über die Mythen des Alltags (1957) geschrieben. Ein Mythos: der neue Citroën. „Ich glaube, daß das Automobil heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist: Soll heißen: eine große epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch ein ganzes Volk zehrt, das sie sich als ein vollkommen magisches Objekt aneignet. Der neue Citroën ist offenbar vom Himmel gefallen, (…) aus einer anderen Welt auf uns gekommen“. Ein Tempel herrlich geschwungener und glatt polierter Flächen, ohne sichtbare Schweißnähte, denn auch „der Heilige Rock war ungenäht“. Und dann folgt die Entweihung des DS 19, zärtlich Déesse genannt, in den Ausstellungshallen: Es werden die „Polster betastet, die Sitze ausprobiert, die Türen gestreichelt, die Lehnen befühlt. Hinter dem Lenkrad wird mit dem ganzen Körper das Fahren simuliert. Das Objekt wird hier völlig prostituiert, in Besitz genommen.“ Immerhin: Nach dem untröstlichen Ende der irdischen Produktion wurde die Déesse vom noch immer verliebten und enthusiasmierten Publikum sofort heiliggesprochen: subito.

Playmobil für Erwachsene

Vom Himmel gefallen? Ach! Die Liebe hat gelitten, wurde mehrfach umlackiert und wurde trotzdem korrosiv. Im neuen Narrativ gibt es zwar noch Autosalons, aber keine echten Cowboys mehr. Verzückte, die die Kühlerhaube streicheln? Fehlanzeige. Aus dem Autosalon wird schleichend ein Gerichtsprozess: Schuld an der Klimakrise ist das Auto (rülpsende Kühe freilich auch). Und das E-Auto verliert zusehends an Faszination. Von 0 auf 100? Ziemlich fix! Flüsternder Betrieb. Okay. (Aber es gibt Extras, die knatternde Motoren und Auspuffe simulieren! Unfassbar.) Das Auto hat unsäglich viel Assistenz, erinnert hinterrücks an betreutes Wohnen. Dann doch lieber sofort die Wagenlenkerin oder den Wagenlenker berenten. Und der Kühler ist nur noch alberne Requisite, so, als würde man der Kathedrale ein Stahlgerüst einziehen. Überhaupt: Semantisch muss nachgearbeitet werden: Der Name Kühlerhaube ist für E-Autos irreführend. Ein läppischer E-Motor benötigt keine krönende Kopfbedeckung. Sogar aufgemotzt wirkt das E-Auto wie ein Playmobil für Erwachsene. Die Werbung hyperventiliert und schwadroniert von Freiheit. Sollen wir wirklich das avisierte autonome Fahren als Freiheitsgewinn bejubeln, weil wir ungestört im Auto arbeiten können? Wiederholt sich nicht hier die Volte der Arbeitgeber, die Büroräume zu sparen, indem man das Homeoffice feiert? Oder bekommt jetzt jede Angestellte (ich meine: jede!) einen Dienstwagen? Wir alle werden Zeuge eines Abgesangs. Autobruch mit Zuschauer. Ein Fetisch? Die Heiligkeit ist längst abgeschafft. Die Profanation hat gesiegt.

Der Mythos-Verfall ist nicht aufzuhalten. Ich will wenigstens wehmütig einige Verluste inventarisieren, die wir abzuschreiben haben. Es ist eine offene Liste, mit biografischen Erfahrungen verknüpft, die auf intersubjektive Anschlüsse zielen.

Sonntags Spazierenfahren

Zu den Verlierern zählt die Freizeitbeschäftigung des sonntäglichen Spazierenfahrens, die bei älteren Alterskohorten zumindest vereinzelt noch in Mode ist. Nach dem Tode meines Großvaters hatten meine Eltern dessen Holz- und Baustoffhandel übernommen und für Bauern Hähnchenbrutställe vorfinanziert – beide waren gelernte Bankkaufleute (Das Tierwohl stand in den 1960er-Jahren kaum im Fokus!). Am Wochenende liebten beide es, durch die Gegend zu fahren, um sich Neubauten anzuschauen und den Fortgang der von ihnen finanzierten Ställe in Augenschein zu nehmen. Ich war meistens mit dabei, lernte die Grafschaft Bentheim mit allen Schleichwegen bestens kennen. Mitwelttechnisch könnte das E-Auto gewissenbereinigt das sonntägliche Spazierenfahren neu beleben. Das E-Bike ist bereits auf bestem Wege. Das E-Wohnmobil auch. Dagegen bietet das selbstfahrende Auto in dieser Frage keine Verheißung. Bis auf weiteres sind diese Autos auf genormte Wege ausgerichtet. Eine Neubausiedlung durchfahren? Keine Chance. Selbstredend wird das System künftig mit einprogrammierten Ausflugszielen angeben, aber Neues werde ich im Wortsinn nicht erfahren. Freiheit fühlt sich anders an. Aber wahrscheinlich war diese Freiheit mit Gas und Kuppel und Bleifuß schon immer die falsche Freiheit.

Führerscheinparty auf dem Dorf

Auf dem Dorf war es eindeutig: Erwachsen war man nicht, wenn man die Schule verließ oder wählen durfte. Erwachsen war man, sobald man den Führerschein (umgangssprachlich Fleppe genannt) stolz präsentieren konnte. Ich habe ganz entschieden mehr Angst vor der Fahrprüfung gehabt als vor den Abiturprüfungen. Ich erinnere noch präzise das klebrige Gefühl, von einer Person dirigiert zu werden, die schräg hinter mir im Auto des Fahrlehrers sitzt und auf Fehler lauert. Vierzig nicht enden wollende Minuten und nahezu unzählige Möglichkeiten, Fehler zu machen. Plötzlich erging das Kommando, bei der nächsten Möglichkeit rechts abzubiegen. Und prompt war die nächste Straße, die zum Abbiegen einlud, eine Straße, die nur für Anlieger freigegeben war. Anfahren am Berg. Dieses seltsame Zittern in der rechten Wade, die das Auto leicht stottern ließ. Rückwärts einparken. Man hatte zweieinhalb Chancen, je nach Laune des Prüfers. Fahren Sie bitte rechts ran. Erging der Befehl nach zwanzig Minuten, traf man den Prüfer in einigen Monaten nochmals. Ich hatte strapaziertes Glück. Die Party mit den Freunden, ich war der Vorletzte in der Runde, war ausgelassen. Ich gehörte endlich dazu. Ich habe im Traum wochenlang die Prüfung wiederholt. Anfahren am Berg. Hochfahren im Bett. Mein erstes Auto war ein Fiat 127. Nach einem selbstverschuldeten Totalschaden bei Regen im ersten Jahr nach dem Erhalt des Führerscheins, ich war knapp mit dem Leben davongekommen, bin ich, auf Druck meiner Mutter, auf Volvo umgestiegen. Ein Panzer kennt kein Aquaplaning. Die Lust am Autofahren, nach dem Crash deutlich umsichtiger, ist mir geblieben.

Mein Beifahrerblues

Es gibt wenig gute Beifahrer. Wahrscheinlich kann man eine Kurz-Geschichte des Feminismus an diesem Beispiel erzählen. Frauen sollten in den 1960er- und 1970er- und 1980er-Jahren gefälligst den Führerschein machen, um die Kinder zur Musikschule zu kutschieren und um nach Festen den stark alkoholisierten Gatten nach Hause zu manövrieren. Aber sogar dann schien sich der Beifahrer über die Fahrkünste der Fahrerin förmlich zu entleiben: entweder zu langsam oder zu zackig und immer zu weit rechts, den Bäumen entschieden zu nah. Die Versuchung, ins Steuer zu greifen, drohte an jeder Kreuzung. Inzwischen dürfte der Streit gleichmäßiger verteilt sein. Jede Kurve kann Anlass für eine Paarkrise sein. Eine empirische Untersuchung wäre spannend: Wer ist der beste Beifahrer oder die beste Beifahrerin? Ich habe ein hartes Kriterium: Kann ich als Beifahrer schlafen, wenn der oder die andere fährt? Selbstfahrende Autos sind in dieser Frage eine Verheißung. Frieden im Auto. Endlich. Alkohol am Steuer? Null Problem. Der Kampf zwischen Auto und Bike an den Ampeln? Befriedet. Das Risiko fürs Rechtsabbiegen? Minimiert. Unfallopfer: endlich mit Tendenz gegen Null. Die Lichthupendiskos auf der Autobahn (häufig inszeniert auf der A 9 zwischen Ingolstadt und München)? Abgesagt. Und geschlossen.

Therapeutisches Doppelzimmer

Es gibt folgendes Problem: Sogar in Wohnzonen von 20 km/Std empfiehlt es sich nicht, aus dem Auto zu springen. Ab 50 km/Std ist es suizidal. Zwischen Fahrer und Beifahrer gibt es ein klares Machtgefälle. Dieses Machtgefälle animiert dazu, therapeutisch instrumentalisiert zu werden. Meine Mutter war sich dieser Macht äußerst bewusst. In meinen späten Pubertätsjahren nutzte sie jede Autofahrt zu zweit zu sehr grundsätzlichen Debatten: Schule, Freundin, Kirche, Sport, Kunst. Sie hörte mir zunächst zu, wurde dann aber grundsätzlich und war, was meinen Charakter und meine Neigungen anging, sehr meinungsstark. Das Auto mutierte zum protestantischen Beichtstuhl, den ich nicht so leicht verlassen konnte. Schafsgeduld ist nicht meine Stärke. Aber präzise dann, wenn ich kurz vor dem Platzen war, gab meine Mutter ein Stückchen nach oder lenkte mich ab. Wir verließen das Auto nicht zerrüttet. Ähnlich erging es mir in Partnerschaften. Eine Strecke von 700 km zum Ferienziel kann herausfordernd sein. Oft kam ich mit einer postdramatischen Belastungsstörung ans Ziel und war endlich wirklich urlaubsreif. Sieben Stunden Autofahrt schafft Räume für eine sehr grundsätzliche Ausleuchtung verdrängter Episoden, Charakterschwächen, Näheängste, Alkoholvorlieben, Eifersuchten. Und warum ich nicht endlich eine Therapie machen würde. Ich sei überfällig. Therapieverweigerer seien Feiglinge mit Sonderausstattung. Einmal habe ich bei einer Tankstelle damit gedroht, nicht wieder einzusteigen. Das war natürlich bockig und kindisch und albern. Noch am Abend der Ankunft habe ich die selbsternannte Ehe-Therapeutin stets zum Drei-Gänge-Menü eingeladen, um wenigstens ansatzweise meine erhaltenen Therapiestunden zu entlohnen. Sollte der Privatverkehr vollständig abgelöst werden, ich wäre aus therapeutischen Gründen dafür. Obwohl, vielleicht hat es doch positive Spätfolgen gezeitigt. Ich frage nochmals nach.

Porträtstudien im Radarformat

Trotz des Tempomats, eine eingebaute Versicherung gegen den temporären Verlust des Führerscheins, bin ich häufiger in eine Radarfalle getappt. Radarfalle! Welch ein wunderbares Wort. Innovationstechnik wird schnöde eingesetzt, um Autofahrer und Autofahrerinnen, die doch das Autoland Deutschland repräsentieren und für das Wirtschaftswunder stehen, wie wildlebende Tiere in eine Falle zu locken. Bei kräftigen Verstößen droht eine Geldbuße und ein Eintrag ins Verkehrssünderregister, bei erreichter Punktzahl (siehe Bußgeldkatalog; Wiederholungstäter werden schneller bestraft) wird der Führerschein eingezogen. Das ist existenziell, weil die selbstwirksame Beschleunigung des ganzen Lebens ausgesetzt wird. Emotional wirkt das Blitzlicht nach: Zwar schaut man sofort, inzwischen bremsend, auf den Tachozähler, aber es dauert zumeist sechs Wochen – Württemberg ist wegen fehlender Work-Life-Balance deutlich schneller –, bis das ängstlich erwartete Protokoll vorliegt. Ich habe früher auf dem Überweisungsträger, heute digital unter „Anmerkungen“ stets meine Sünde eingestanden und den Ablass ohne Murren bezahlt. Ich gestehe: Ich liebe diese Porträtaufnahmen, es sind Charakterstudien, die ein Alltagsgesicht ganz unverstellt zeigen: gelangweilt, genervt, übermüdet, selten fröhlich. Man kann sich nicht in Positur setzen und mit den Oberzähnen lächeln. Ich bin, wenn ich meine Galerie der letzten Dekaden durchblättere, über meinen jeweiligen Gesichtsausdruck ehrlich erschrocken. Ich habe Haar- und Brillenmoden nach Anblick eines Fotos, zumeist leicht verpixelt übermittelt wie Gemälde Gerhardt Richters, radikal geändert. Man könnte eine Autobiografie der Zufälle 
schreiben im Rekurs auf diese Schnappschüsse. Was habe ich genau an dieser Stelle am 7. Juni 2022 oder am 17. März 2024 gemacht? War es eine wichtige Fahrt? Diese Fotos haben zugleich eine eingebaute Tücke, wenn eine Partnerin oder ein Partner den Bußgeldbescheid in Augenschein nimmt, zunächst über das Bild lacht, dann aber – zunehmend energisch – fragt, was ich an diesem Termin zu dieser seltsamen Uhrzeit und an diesem seltsamen Ort eigentlich gemacht habe! Das Foto mutiert zu einem Belastungs-Foto. Und trotzdem: Wie schade, dass diese Galerie der Porträtfotos in naher Zukunft die Tore schließt. Ich werde die Bilder vermissen. Und mich wehmütig und doch getröstet an den Mythos Auto erinnern. Was aber wird aus dem Papa-Mobil? 

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Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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