Im Einsatz für Europa

Lukas Meyer untersucht das Agieren der Kirchen in den Krisen der Europäischen Union
Lukas Meyer
Foto: privat

Verfassungs-, Finanz- und Migrationskrise – wenn es politisch schwierig wird, ist die EU besonders gefordert. Ebenso wie die Kirchen. Wie gehen sie mit dieser Verantwortung um? Das hat Lukas Meyer in seiner Dissertation analysiert.

Ich bin Pfarrerskind und habe meine Kindheit in Argentinien verbracht. Daher kommt wahrscheinlich mein heutiges Interesse an Protestantismus in der Diaspora. Später waren wir als Familie die längste Zeit in Hildesheim. In meinem Stammbaum gibt es viele Theologinnen und Theologen, mittlerweile schon in der sechsten Generation. Bei meiner Studienwahl hat das sicher eine Rolle gespielt.

Zunächst habe ich gezögert, Theologie zu studieren. Nach dem Abitur war ich ein Jahr in Sarajevo bei einer NGO. Das war damals genau mein Ding. Mit 20 Jahren habe ich zuerst mit Philosophie und Wirtschaft begonnen. Aber dann hat mich die Theologie doch gepackt, und ich bin nach Göttingen gegangen. Besonders hat mich die Ethik des Politischen interessiert. Nach dem Ersten Examen war ich auch ein halbes Jahr in Brüssel bei Arne Lietz, der für die SPD Europa-Abgeordneter war.

Mein Dissertationsthema habe ich in München bei Reiner Anselm gefunden. Ich gehe im Wesentlichen der Frage nach, wie die Kirchen auf Europakrisen reagieren. Europakrisen bezeichne ich als europäischen Ernstfall: Der tritt ein, wenn eine Krise dazu führt, dass die EU an sich in Frage gestellt wird. Mich hat interessiert: Wie äußern sich die Kirchen öffentlich in diesen Ereignissen? Zunächst untersuche ich die jüngere Vergangenheit der EU. Die Verfassungs-, Finanz- und Migrationskrisen halte ich dabei für zentral. Im Hauptteil schaue ich auf die Kirchen. Ich vergleiche, wie die großen konfessionellen Familien, also Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie, auf die drei Krisen reagieren.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg trieben die katholische Kirche und christdemokratische Staatsmänner die Gründung der Montanunion stark voran. Der Glaube, vor allem der katholische, war ein entscheidender Antrieb für das Friedensprojekt. Das gilt besonders für den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer, den französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman oder den italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi. Man sollte aber auch linkskatholische Einflüsse nicht unterschätzen. Jacques Delors, der langjährige Präsident der Europäischen Kommission, war Sozialist und Katholik. In der Zeit der Wende förderte er die europäische Integration maßgeblich.

Diese christliche Tradition setzt sich bis heute fort, wenn auch weniger sichtbar und vielfältiger: Ich weiß von mehreren Abgeordneten im Europäischen Parlament, die durch die ökumenische Taizé-Bewegung geprägt sind. Sie repräsentieren ganz unterschiedliche Parteien und Länder. Bemerkenswert fand ich ein Statement der jetzigen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – übrigens eine Evangelische aus Niedersachsen. Sie erklärte nach dem Tod des früheren Papstes Benedikt XVI.: Er habe nach seinem Rücktritt mit der Kraft des Gebetes gedient. Die wohl wichtigste EU-Kommissarin, Margrethe Vestager, ist Tochter eines Pfarrer-Ehepaars aus Dänemark. Theologie hat sie aber nicht studiert.

Der Glaube muss sich besonders in Krisen bewähren: in persönlichen wie in gesellschaftlichen, um die es in meinem Projekt geht. EU-Krisen kennen alle, die die Nachrichten verfolgen: Verfassungskrise, Bürokratie-, Finanz-, Rechtsstaatlichkeits-, Schulden-, Euro-, Ukraine-, Migrations-, Brexit-, Coronakrise und so weiter. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal die Krise als „Normalzustand“ der Moderne bezeichnet. Für die EU gilt das in jedem Fall auch.

Hier ist ein interessantes Phänomen zu beobachten: Lange konnte das Einigungswerk, damals noch in Gestalt der EG, beinahe unbeobachtet und mit technokratischer Ruhe schalten und walten. Das ändert sich mit dem Vertrag von Maastricht. Der Staatenverbund wird zur politischen Union. Gerade in den Krisen ist die EU besonders herausgefordert. Von besonderer Relevanz sind drei Krisen: die Verfassungs-, die Finanz- und die Migrationskrise. Es wird gut greifbar, wie die Kirchen es mit Europa halten. Deshalb habe ich sie eingehender analysiert.

In der Präambel des Verfassungsentwurfs konnte sich zwar das laizistische Lager durchsetzen. Vor allem katholische und teils orthodoxe Stimmen forderten einen Gottes- und Christentumsbezug. Ein polnischer Erzbischof sagte besonders pointiert: „Wir haben nicht das Recht, die Steine der Berliner Mauer zu verwenden, um ohne christliche Fundamente einen neuen Turm zu Babel zu bauen.“ Ganz anders der europäische Protestantismus, der den Präambelstreit ziemlich spröde begleitete. Gerade die Protestantismen etwa in Frankreich oder Italien sehen Laizismus als eine Chance. Dennoch steht der Verfassungsvertrag für den wohl größten ökumenischen Lobbyerfolg. Trotz mancher Differenz arbeiteten die Kirchen gut zusammen. Und so gelangte der Artikel 17 in das europäische Primärrecht. Dieser so genannte Kirchen-Artikel garantiert einen regelmäßigen Dialog zwischen EU und Kirchen. Das ist schon bemerkenswert.

In der Finanzkrise setzten die Kirchen auf Solidarität mit den stark verschuldeten Griechen. Das gilt auch für die evangelischen Kirchen, die aber die Eigenverantwortung der Regierungen stärker betonten. Die oft als „typisch evangelisch“ bezeichnete Austeritätspolitik, für die Merkel und Schäuble standen, war jedenfalls kein kirchlich vorangetriebenes Projekt. Bei der Migrationskrise sind die Differenzen größer. Das gilt für die EU wie für die Kirchen. Papst Franziskus und der Ökumenische Patriarch Bartholomaios haben zwar 2016 ein viel beachtetes Zeichen gesetzt. Sie besuchten Geflüchtete auf der Insel Lesbos und betonten Gastfreundschaft als gelebte Nächstenliebe. Aber die größeren Kirchen in Polen oder Ungarn zeigten deutlich ihr Verständnis für den Kurs der rechtspopulistischen Regierungen in ihrem Land.

Der Konziliare Prozess nennt ja die Leitbegriffe Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Das orientiert nach wie vor die Kirchen in Europa. Aber in den Krisen wird es natürlich kompliziert. Dennoch sollte man das Engagement der Kirchen für das Gemeinsame nicht unterschätzen. Europa kann es jedenfalls gut gebrauchen. 

 

Hinweis
Lukas Meyers Dissertation „Öffentliches Christentum im europäischen Ernstfall“ ist im vergangenen Jahr bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig erschienen. Sie hat 340 Seiten und kostet Euro 98,–.

Aufgezeichnet von Philipp Gessler

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