Eine Frage der Vernunft

Plädoyer eines religiösen Physikers für die Friedensvisionen von Immanuel Kant
Das Friedenszeichen als Protest gegen den Irakkrieg im Frühjahr 2003 auf der Kölner Domplatte.
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Das Friedenszeichen als Protest gegen den Irakkrieg im Frühjahr 2003 auf der Kölner Domplatte.

Eine friedliche Republik von Weltbürgern, wie sie der Philosoph Immanuel Kant vor gut 200 Jahren formulierte, scheint gerade weit entfernt. Dennoch war die Formulierung dieser Vision notwendig und auf ihre Art sogar prophetisch, meint Ingo Hofmann, emeritierter Professor für Physik und langjähriger Sprecher der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland. Er sieht die Religionen der Welt zum gemeinsamen Einsatz für den Weltfrieden aufgefordert.

Immanuel Kants philosophischer Entwurf findet auch im 300. Jubiläumsjahr (siehe Schwerpunkt in zz 04/2024) nur sehr geteilte Zustimmung in Kreisen der Philosophie, der „Mutter aller Wissenschaften“. Auch die Theologie ist sich – nicht überraschend – uneins, wenngleich sie sich gefordert sieht. Ein an das Trans­zendente glaubender Physiker darf das mit „einfacheren“ Augen sehen. Einsteins Wort „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind“ ist philosophisch oder theologisch gesehen vermutlich nicht sehr haltbar. Als zeitlebens (nicht nur) mit Physik konfrontierter Mensch halte ich es für sehr vernünftig und auch zeitgemäßen religiösen Glaubensvorstellungen zugänglich.

Geist eines Weltbürgers

Kant, der seine Heimatstadt Königsberg nie verließ, mag heute vielen rätselhaft erscheinen. In seiner viel diskutierten Schrift Zum ewigen Frieden postulierte er noch mit 71 Jahren eine „Föderale Republik von Weltbürgern“ – und damit ein Ende aller Kriege – als unausweichliches Gebot der Vernunft. Bereits Sokrates soll auf die Frage nach seiner Heimat geantwortet haben: „die Welt“. In ihr war offenbar sein Geist als Weltbürger zu Hause, in Athen nur sein Körper. Philosophen haben das Recht, „prophetisch“ in die Zukunft zu blicken, Religionsstifter tun das ohnehin.

Wer den Oskar-gekrönten Film Oppenheimer erlebte, wird daran erinnert, dass die Atombombe die Welt von Grund auf verändert hat und tiefgreifende moralische Fragen aufwarf. Wer Friedrich Dürrenmatts Stück Die Physiker liest, wird auch diesem Schriftsteller prophetischen Blick zubilligen müssen. Mit der Freiheit der Kunst nannte er sein Drama eine „Komödie in zwei Akten“. Er wusste wohl, dass er eine mögliche Tragödie der Menschheit beschreibt, aber nur die Form der Komödie dies erträglich macht. In ihr enden die großen Naturwissenschaftler Isaac Newton, Albert Einstein und auch August-Ferdinand Möbius, das größte Genie aller Zeiten, im Irrenhaus.

Möbius fand dort den Schlüssel für alle Probleme. Newton spricht aus seiner Epoche: „Es geht um die Freiheit unserer Wissenschaft und um nichts weiter. … Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.“ Einstein und Möbius widersprechen. Möbius: „Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: Der Untergang der Menschheit ist ein solches.“ Möbius, als König Salomo, beendet das Stück: „Ich war ein Fürst des Friedens und der Gerechtigkeit. Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht, und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum. Nun sind die Städte tot, über die ich regierte, mein Reich leer, das mir anvertraut worden war, eine blauschimmernde Wüste, und irgendwo um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern kreist, sinnlos, immerzu, die radioaktive Erde.“

Zurück zu Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, so lautet eine seiner wichtigen Forderungen. Damit sollte die Vernunft im Geiste der Aufklärung die Vorherrschaft der „verkirchlichten“ Religion beenden und Fortschritt und Freiheit bringen. Die blutigen Kriege gingen aber weiter. Dagegen entwickelte Kant in seinem „Ewigen Frieden“ die Vorstellung der „vollkommenen bürgerlichen Vereinigung der Menschengattung“ in einer föderalen Weltrepublik. Und dies nicht im Vertrauen auf das Gute im Menschen oder göttliche Vorsehung, sondern allein auf der Grundlage von Vernunft und Recht.

Streitigkeiten zwischen Staaten können nur durch eine „oberste gesetzgebende, regierende und richtende Gewalt“ gewaltlos gelöst werden, wenn diese sich freiwillig einer föderalen Weltrepublik anschließen. Das Rechts des Stärkeren sollte durch ein auf Vernunft basiertes und damit universal gültiges Recht ersetzt werden. Nach Staatsbürgerrechten innerhalb eines Volkes sah Kant in einem zweiten Schritt dann ein Völkerrecht zwischen den Staaten – ähnlich dem späteren Völkerbund – und im dritten Schritt ein „Weltbürgerrecht“, in dem alle „… Bürger eines allgemeinen Menschenstaats“ sind.

Kants Umfeld war natürlich alles andere als reif dafür. Das erlebte ein leidenschaftlicher Vorkämpfer der Idee des Weltbürgers und Zeitgenosse Kants namens Anacharsis Cloots (1755–1794), Sohn eines preußischen Adeligen mit französischer Staatsbürgerschaft, der in Paris stark in die Französische Revolution verwickelt war. In seinem Werk Die Republik des Menschengeschlechts (1793) forderte er eine einzige souveräne Nation auf der ganzen Erde. Sie müsse, nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie von einem Weltparlament getragen, die Erde umspannen.

Taumel der Revolution

Obwohl Cloots seit 1792 Mitglied der französischen Nationalversammlung war, erlitt er bald danach damit Schiffbruch. Als die preußisch-österreichischen Truppen den Rhein überschritten, wandte sich die noch immer nationalistisch geprägte Stimmung gegen ihn. Er wurde als spionageverdächtiger Saboteur zur Hinrichtung verurteilt. Noch auf der Guillotine soll er in alle Richtungen gerufen haben „Lang lebe die Weltrepublik“.

Auch sein Ruf und der ähnlich Denkender verhallte im Taumel der Revolution und in den folgenden Rivalitäten der aufstrebenden europäischen Nationalstaaten. Kant lehnte dogmatische Metaphysik und die Macht der Kirche seiner Zeit ab. In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sprach er aber vom „Samenkorn in gutem Acker“ im Evangelium. In der Nächstenliebe sah er zudem die Quelle für uneigennütziges Gemeinwohl.

Um das Wohl auf Erden ging es ein halbes Jahrhundert später auch Heinrich Heine in seinem aufwiegelnden Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen: „… Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten … Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“

Selbst im fernen Persien sorgte 1844 die Geburt der „aufklärungsverdächtigen“ Baha’i-Religion für Aufruhr. Ein Dorn im Auge des schiitischen Klerus waren die emanzipatorischen und antiklerikalen Forderungen der Baha’i nach einem menschengeschaffenen, republikanischen Friedensreich auf Erden. Das kostete Tausenden ihrer Anhänger das Leben. Der rückwärtsgewandte Klerus ist heute zurück an der Macht und duldet nichts anderes als eine rückwärtsgewandte Deutung seiner „einzig wahren“ Religion.

Nach einem weiteren Jahrhundert, einer NS-Schreckensherrschaft und eines Stalinismus war die von Kant postulierte Verlässlichkeit der nur auf Vernunft gegründeten Ethik in Frage gestellt. Der als Marxist und Begründer der Kritischen Theorie bekannt gewordene Max Horckheimer bekannte sich in seiner Kantkritik zur „Sehnsucht nach dem Absoluten“. In dem 1970 viel beachteten Interview mit Helmuth Gumnior mahnte er an, dass alle Versuche, die Moral auf irdische Klugheit zu gründen, also ohne unveräußerliche Werte, scheitern müssen: „Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück …“. Theologie war für ihn dabei „… das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist.“

Das Tor zu Kants „drittem Schritt“ einer föderalen, auf Gewaltenteilung beruhenden Weltrepublik, war zwar mit der Gründung der Vereinten Nationen und ihrer „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ einen Spalt weit geöffnet –dabei blieb es aber vorerst auch. Immerhin war das ein starker Auftakt zugunsten der Rechte des Einzelnen jenseits nationaler Grenzen. Ein vereintes Europa war ein weiterer Teilerfolg, wenngleich mit großen Herausforderungen von innen und außen.

Einsatz für Weltethos

Die Zeichen der Zeit scheinen, global gesehen, jedoch mehr auf Gegenkurs zu Kants Vision eines Weltfriedens zu stehen: Erfolge gegen den weltweiten Klimawandel verheddern sich in nationalen Eigeninteressen. Globales Sicherheitsdenken sowie Prozesse der Vertrauensbildung und unverzichtbaren wissenschaftlichen Zusammenarbeit geraten unter die Räder einer sich immer mehr abgrenzenden Geopolitik und wachsender atomarer Drohgebärden.

Wenn nur noch nukleare Abschreckung als ultimative Sicherheitsgarantie der Menschheit verbleibt, wer hat dann versagt? Kants Voraussicht war notwendig und auf ihre Art sogar prophetisch. Die Vernunft genügte aber nicht. Alle Religionen der Welt sind jetzt gefordert, sich mit ihren unveräußerlichen Werten für ein die gemeinsame Zukunft tragendes Weltethos einzusetzen, wie auch Hans Küng ökumenisch denkend vor drei Jahrzehnten mit deutlicher Stimme forderte. Damit nicht doch Dürrenmatts „… um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern kreist, sinnlos, immerzu, die radioaktive Erde“ wahr wird und das Geheimnis Mensch alle Spuren von sich selbst ausgelöscht haben wird. 

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Ingo Hofmann

Ingo Hofmann ist emeritierter Professor für Physik und langjähriger Sprecher der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland. 


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