Historische Verzerrungen

„Palestine will set us free“ – postkolonialer Zeitgeist und Erlösungsantizionismus
Studentinnen an der Columbia University während einer pro-palästinensischen Demonstration am 1. Juni auf dem Campus in New York City.
Foto: picture alliance/Anadolu
Studentinnen an der Columbia University während einer pro-palästinensischen Demonstration am 1. Juni auf dem Campus in New York City.

Wissenschaftler des postkolonialen Ansatzes glauben, einen Schlüssel zum Verständnis von Judentum, Zionismus, Antisemitismus und Shoa gefunden zu haben. Dadurch entstehen systematische theoretische Verzerrungen, erläutert Ingo Elbe, Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg.

Seit dem Pogrom vom 7. Oktober überschwemmt eine Welle von Hass gegen Israel westliche Universitäten. Insbesondere auf einem US-Campus kommt es zu einer Radikalisierung unvermuteten Ausmaßes: An der Columbia-Universität hält ein Aktivist ein Schild in die Richtung von Studenten, die die israelische Fahne schwenken. Darauf ist zu lesen: „Al-Qassams nächste Ziele“ – ein Hinweis auf den militärischen Arm der Hamas und eine offene Morddrohung. Ein Führer der Anti-Israel-Bewegung an der Columbia äußert unmissverständlich: „Zionisten verdienen es nicht, zu leben. … Seid dankbar, dass ich nicht einfach losziehe und Zionisten ermorde.“ Jüdischen Studenten wird zugerufen: „Geht zurück nach Polen! Parolen wie „Brennt Tel Aviv bis auf den Grund nieder“ sind zu hören. In Princeton sitzt ein Student mit Akustik-Gitarre und Kufiya ausgestattet vor einer wie eine Picknickdecke vor ihm ausgebreiteten Hisbollah-Fahne. Ein Symbolbild für die Hintergründe dieses hemmungslosen Hasses von Teilen der linken akademischen Elite liefern ein weiteres Mal die Proteste an der Columbia: Eine vermummte Studentin hält ein Schild in die Kamera, auf dem zu lesen ist: „Columbia, warum verlangt ihr von mir, Professor Edward Said zu lesen, wenn ihr nicht wollt, dass ich ihn anwende?“

Hemmungsloser Hass

In der Tat liefert die auch auf Edward Said zurückgehende, in vielen Bereichen des akademischen Betriebs inzwischen tonangebende postkoloniale Theorie einen wesentlichen Beitrag zur gegenwärtigen Entwicklung. Die postkolonialen Studien beanspruchen, auch nach dem formalen Ende der Kolonialherrschaft koloniale Spuren in Wissensformen und sozialen Strukturen nachzuweisen. Das Motiv der „Kolonialität“ – ein Sammelbegriff für die Diagnose einer den „globalen Süden“ seit über 500 Jahren mit rassistischer Ausgrenzung, Ausbeutung und Genozid überziehenden westlichen Weltordnung – wird dabei zum Hauptkriterium von Geschichtsbetrachtung und Sozialkritik erklärt. Adepten dieser neuen großen Erzählung glauben, mit dem Prinzip der „Kolonialität“ auch einen Schlüssel zum Verständnis von Judentum, Zionismus, Antisemitismus und Shoa gefunden zu haben. Dadurch entstehen systematische theoretische Verzerrungen: die begriffliche Auflösung des Antisemitismus in Rassismus, die Relativierung des Holocaust zum Kolonialverbrechen, die Dämonisierung Israels und die Ausblendung des islamischen und arabischen Antisemitismus.

Die Dämonisierung Israels ist in dieser Strömung Standard und kann verschiedene Formen annehmen. Häufig findet man eine direkte Übertragung antisemitischer Motive auf Israel. So spricht Judith Butler vom israelischen „Mord an Kindern“ und knüpft damit an uralte Motive der christlichen Judenfeindschaft an. An die Legende des zu ewiger Wanderschaft verdammten Juden erinnert ihr Vorwurf, Juden, die einen Nationalstaat verteidigen, würden ihr Wesen verraten, das in einem Diaspora-Dasein der Auslieferung an den Anderen bestehe. Die israelische Historikerin Anita Shapira stellt treffend fest: „Der Jude als Opfer wird zum Ideal.“ Hier docken die notorischen Gleichsetzungen von Nationalsozialismus und Israel an. Die Idee jüdischer Mehrheit und territorialer Souveränität führe angeblich einen in den Holocaust mündenden Nationalismus fort, weshalb prominente Postcolonials zu grotesken Analogien greifen: Die Situation im Gazastreifen oder im Westjordanland erinnere an NS-Konzentrationslager oder an das Warschauer Ghetto. Der französische Philosoph Etienne Balibar unterstellt Israel in Anlehnung an Achille Mbembes Konzept der „Nekropolitik“ gar ein „Töten um des Tötens willen“. Für den in Berkeley lehrenden Ramón Grosfoguel ist der Zionismus ein „Hitlerismus“, mit dem Juden „Jagd auf Palästinenser“ machten. Im Kampf gegen Israel stehe gar „die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel“: „Wir befinden uns in einem zutiefst spirituellen und messianischen Moment“, meint er. „Entweder wir organisieren uns und beenden diese Ungerechtigkeit [den vermeintlichen Genozid in Gaza und die Existenz des jüdischen Staates, Ingo Elbe], oder wir bewegen uns unaufhaltsam auf die Zerstörung des Lebens auf dem Planeten Erde zu.“ Der „palästinensische Sieg“, so sein erlösungsantizionistischer Gedanke, werde „die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsebene führen“.

Dieser wahnhafte Erlösungsgedanke wird in letzter Zeit häufiger bei antiisraelischen Demonstrationen im Westen verlautbart – einer seiner Slogans lautet „Palestine will set us free“. Dass vom Tod der Juden (heute: der Vernichtung des jüdischen Staates) eine Erlösung der Menschheit ausgehen werde, ist ebenfalls ein alter antisemitischer Topos – in radikalster Form vertrat ihn Adolf Hitler in Mein Kampf.

Israel gilt den Postcolonials als Inkarnation aller westlichen Kolonialverbrechen, welche das „indigene Volk“ der Palästinenser „eliminiere“. Der angebliche weiße jüdische Siedler darf, folgt man der US-Aktivistin Linda Sarsour, sogar entmenschlicht werden. So warnte sie mit Blick auf die Zionisten: „Wenn du … versuchst, den Unterdrücker zu vermenschlichen, dann ist das ein Problem.“ Hier wenden heutige Ideologen die gewaltverherrlichenden Vorstellungen eines Vorläufers der postkolonialen Theorie, Frantz Fanon, auf den arabisch-israelischen Konflikt an. Fanon pries die gemeinschaftsstiftende „absolute Gewalt“ gegen den Kolonialherrn ohne jede moralische Hemmung. Kein Wunder also, dass der Columbia-Professor Joseph Massad die Ermordung, Vergewaltigung und Verschleppung israelischer Bürgerinnen und Bürger und die jubelnden Reaktionen palästinensischer Zivilisten darauf „verblüffend“, „beeindruckend“, „bemerkenswert“ und „erstaunlich“ findet. Die Flucht israelischer Bürger aus israelischen Städten könne sich, so hofft er, „als ein dauerhafter Exodus erweisen“. Der Londoner Professor Gilbert Achcar bezeichnet das Massaker als „quasi verzweifelten Akt der Tapferkeit“, die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean findet die Bilder der Hamas-Paragleiter „beglückend“. Sie verteidigt die Hamas als „revolutionäres Subjekt“, das für alle Unterdrückten kämpfe: „Palästina spricht für alle.“

Gewaltverherrlichende Vorstellungen

In einem von Größen der Postcolonial Studies wie Gayatri Spivak, Partha Chatterjee und Mahmood Mamdani unterzeichneten „Offenen Brief von der Columbia-Universität“ stimmten diese der Einordnung des Oktoberpogroms als „militärische Reaktion eines Volkes“ zu, „das über viele Jahre hinweg erdrückende und unerbittliche staatliche Gewalt durch eine Besatzungsmacht erduldet hatte“. Die Dämonisierung Israels durch De-Realisierung antisemitischer Gewalt findet man in vielen „Kontextualisierungen“ des 7. Oktobers. So heißt es in einem unter anderem von führenden Vertretern der Postcolonial Studies wie A. Dirk Moses und Michael Rothberg, aber auch von der Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung, Stefanie Schüler-Springorum, unterzeichneten offenen Brief: „Fünfundsiebzig Jahre Vertreibung, sechsundfünfzig Jahre Besatzung und sechzehn Jahre Blockade des Gazastreifens haben zu einer immer schlimmer werdenden Spirale der Gewalt geführt, die nur durch eine politische Lösung gestoppt werden kann.“ Hier werden arabische Pogrome gegen den Jischuw in den 1920er- und 1930er-Jahren, die palästinensische Verweigerungshaltung gegenüber einem jüdischen Staat, die Angriffskriege arabischer Armeen gegen Israel und dessen Friedensangebote der Jahre 2000 oder 2008 völlig ausgeblendet.

Dieser Form der Dämonisierung liegt auch ein zentraler methodischer Defekt der postkolonialen Studien zugrunde. Folgt man Edward Saids Idee des Orientalismus, einem Schlüsselkonzept dieses Denkens, dann erfindet der Westen das Bild eines herabgewürdigten orientalischen Anderen, um sich selbst zu definieren, sich von negativen Selbstanteilen imaginär zu befreien und einen imperialen Herrschaftsanspruch zu begründen. Dabei wird in vielen postkolonialen Beiträgen ein doppelter Standard gepflegt: Man betrachtet nur das Sprechen des „Westens“ über den „globalen Süden“. Ohne sich die Frage nach der Sachhaltigkeit dieser Rede zu stellen, wird diese stets als illegitime koloniale Machtstrategie verstanden. Der „globale Süden“ kommt oft nur als Opfer oder stumme Projektionsfläche vor und wird damit konzeptionell entmündigt. Der Islamwissenschaftler Bernard Lewis sprach ironisch von der „white man’s burden of guilt“, einem negativen Überlegenheitsdenken, das unterstelle, ausschließlich weiße Europäer könnten für die Übel der Welt verantwortlich sein. Die „Anderen“, also zum Beispiel islamistische Regime und Bewegungen wie der Iran oder die Hamas, tauchen als Akteure meist gar nicht auf. Wenn deren Gewaltakte und Herrschaftsverhältnisse ausnahmsweise doch einmal Thema sind, werden sie nicht ernst genommen, antisemitische Aussagen als bloße Rhetorik verzweifelter Opfer verharmlost und ihre Taten als bloße Reaktionen auf Aktionen des Westens oder Israels gedeutet.

Auch als komplexer geltende Varianten postkolonialen Denkens haben systematische Fallstricke. Kolonialität und liberale Demokratie werden hier als zwei Seiten einer Medaille betrachtet. Was nach der „kolonialen Moderne“ folgen soll, bleibt hingegen unklar. Häufig wird nach dem Muster eines auf links gewendeten Ethnopluralismus eine „multipolare Weltordnung“ als Alternative gepriesen und damit autoritären Mächten wie Russland, dem Iran oder China Legitimität verschafft. Solche „alternativen Modernen“ sollen durch „Hybridität“ erreicht werden. Das bedeutet, dass (angeblich) kolonisierte Konzepte wie Menschenrechte oder Demokratie aus ihrer spezifisch ethnokulturellen Perspektive heraus subversiv umdeuten sollen: Kulturspezifische Menschenrechte oder „islamische Demokratie“ werden damit erstrebenswerte Ziele im Kampf gegen die westliche Hegemonie. Das führt zu ideologischen Bündnissen postkolonialer Linker mit Dschihadisten: So will Judith Butler „Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen … verstehen, die fortschrittlich, links und Teil einer globalen Linken sind“, so beschwört der einflussreiche argentinische Denker Walter Mignolo Ayatollah Khomeini als „dekolonialen“ Theoretiker, oder so erhofft sich die prominente Philosophin Susan Buck-Morss von einem Bündnis aus Adornos kritischer Theorie und dem Denken des islamistischen Antisemiten Sayyid Qutb einen „Angriff von innen und außen“ auf die westlich-kapitalistischen Gesellschaften.

Natürlich sind nicht alle postkolonialen Wissenschaftler islamlinke Extremisten. Es ist völlig legitim, die kolonialen Bestände des „Westens“ einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Doch hat sich dieses Unternehmen über weite Strecken in eine aktivistische Weltanschauung verwandelt. Große Teile der akademischen Linken üben sich daher in Kritikabwehr: Man praktiziert Erkenntnisverhinderung durch Simulation von Überkomplexität, indem man verkündet, die postkoloniale Theorie existiere nicht.

Oder man behauptet, es gebe einen Abgrund zwischen überaus differenzierten postkolonialen Studien und ihrer simplifizierenden Rezeption in aktivistischen Kreisen. Doch bei allen internen Differenzen postkolonialer Ansätze tauchen viele der oben genannten Argumentationsmuster derart häufig und zudem bei prominenten Vertretern dieser Strömung auf, dass man von einem vorherrschenden Denkmuster sprechen muss. Und schließlich agieren diese Akademiker häufig selbst als Aktivisten und verstehen sich auch als solche. Nicht nur in der inzwischen kaum noch überschaubaren Menge an offenen Briefen gegen Israel wird dabei manichäisch und bis zur Schmerzgrenze simplifizierend argumentiert. 

Ein Propagandawerk

Das Genre der Postkolonialismus-Apologetik bestätigt eher die Vorwürfe. Wenn beispielsweise der Philosoph Urs Lindner meint, Edward Said habe die Täter-Opfer-Dichotomie „überwunden“, indem er die Palästinenser als Opfer der Opfer des Holocaust beschreibe, so reibt man sich verwundert die Augen. Es mag zwar im palästinensischen Kontext bemerkenswert sein, wenn jemand überhaupt die Juden als Opfer des Holocaust würdigt. Doch bediente Said einen grotesk einseitigen Opfermythos, wenn er Israel die Absicht vorwarf, die Palästinenser „theoretisch wie praktisch auszulöschen“. Der Opfer-der-Opfer-Mythos ignoriert zudem vollkommen, dass das palästinensische Flüchtlingsproblem erst im Zuge eines als Vernichtungskrieg geplanten Angriffs arabischer Milizen und Armeen auf Israel entstand. Die Verantwortung arabischer Akteure wird hier also einmal mehr ausgeblendet, Täter und Opfer werden einseitig und klar zugeordnet. Dass Saids Buch The Question of Palestine ein Propagandawerk voller historischer Verzerrungen, Okzidentalismen und Titulierungen des Zionismus als Projekt „kolonialer Apartheid-Politik“ ist, er auch später den Friedensprozess zwischen Israel und der PLO ablehnte und bezeichnenderweise in diesem Zusammenhang von einem „palästinensischen Versailles“ sprach, bleibt dabei ebenfalls außen vor. Bei allen Ambivalenzen auch des Denkens des Nestors der postkolonialen Studien, der kein Hamasnik war – die Studentin der Columbia hat nicht ganz Unrecht, wenn sie meint, dass das, was wir derzeit erleben, die, wenn auch noch einmal zugespitzte, Anwendung des Denkens von Said ist. 

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