Aus der Tiefe des Traums

Mutter flüstert das Ergebnis – Erinnerungen kurz vor dem Start der Europameisterschaft
Der 17-jährige Pele (2.v.l.) weint vor Freude nach dem WM-Gewinn Brasiliens durch das 5:2 im Finale gegen Schweden in Stockholm 1958.
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Der 17-jährige Pele (2.v.l.) weint vor Freude nach dem WM-Gewinn Brasiliens durch das 5:2 im Finale gegen Schweden in Stockholm 1958.

Heute Abend beginnt die Euro 2024. Wir wissen noch nicht, wie das Eröffnungsspiel Deutschland gegen Schottland ausgeht, geschweige denn, was das erste große Fußballturnier bei uns seit 2006 am Ende bringt. Aber so unterschiedlich Fußball und Religion auch sind, eins ist für eingefleischte Fans immer wichtig: die Erinnerung. Und der Theologe und Kabarettist Okko Herlyn erinnert sich – an 1958, an 1973 und an Helmut Rahn.

Kann man Fußball theologisch deuten? Nachdem Bekenntnis und Lehrsatz bekanntlich ausgedient haben, ist ja inzwischen die „Deutung“ zum zentralen Arbeitsauftrag der Theologie avanciert. Im Hinblick auf den Fußball ist das insofern ein Problem, als hier die Deutungen ziemlich weit auseinanderliegen. Etwa – man muss es so unverblümt sagen – so weit wie Hölle und Himmel. 

Die einen sehen im Fußball – etwa auf der Linie von Luthers berühmter Auslegung des ersten Gebots („Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“) – schlicht und schnörkellos einen modernen „Abgott“. Und kein geringerer als Karl Barth zählte den Hype um den 17-jährigen brasilianischen Wunderstürmer Pelé anlässlich der WM 1958, der diesem – so Barth – „neben viel Geld nicht weniger als fünfhundert Heiratsanträge“ eingebracht habe, zu den viel zitierten „herrenlosen Gewalten“.

Andere zeigen mit ihrem theologischen Deutefinger geradezu diametral entgegengesetzt in den Himmel: Ganze Doktorarbeiten weisen inzwischen darauf hin, dass im Fußball doch auffallend viele religiöse Aspekte zu beobachten seien, die man nicht einfach ignorieren könne. Man denke nur an die mannigfachen Parallelen etwa zwischen Fankultur und gottesdienstlicher Liturgie: Lobeshymnen und Schuldbekenntnisse, Kult und Gemeinschaft, wiederkehrende Rituale und magische Momente – das alles gebe es doch hüben wie drüben. Von Bekreuzigungen, nach oben gerichteten Gesten, „erlösenden“ Toren und „heiligen“ Kehlchen ganz zu schweigen. Und wenn etwa Real Madrid auf Bayern München treffe, so werde bekanntlich in der „Kathedrale“ Bernabéu-Stadion das „Hochamt“ des Fußballs „zelebriert“.  Sollte man solche religiösen Phänomene quasi wie eine ungenutzte Torchance einfach liegen lassen? Die noch vor Jahren vielfach diskutierte „missionarische Gelegenheit“ unserer Kasualpraxis bekomme hier doch eine ganz neue Aktualität.

Völlig verkannt wird allerdings, dass dem Fußball abseits von allem Deutungsgerangel zwischen „Teufels Beitrag“ und „religiöser Dimension“ ein ganz eigenes Humanum innewohnt. Gemeint sind jetzt nicht die bekannten herzzerreißenden Augenblicke, in denen auch hartgesottene Männer etwa über einen verschossenen Elfmeter in Tränen ausbrechen oder andere in Momenten höchsten Triumphes gemahnen, jetzt nicht einfach abzuheben, sondern „demütig zu bleiben“. Es geht vielmehr darum, dass der Fußball offensichtlich in der Lage ist, immer wieder das eine oder andere eher verborgene menschliche Gesicht unserer Existenz zum Leuchten zu bringen. 

Nun aber ab ins Bett

Ich jedenfalls habe das erlebt: 8. Juni 1958. Ein Sonntag. Abends das erste Spiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Schweden. Gegner: Argentinien. Anstoß: 19.00 Uhr. Seit Tagen fiebere ich der Radioreportage entgegen. Zur Halbzeit führt die deutsche Elf mit 2:1. „So, nun aber ab ins Bett“, heißt es da auf einmal von elterlicher Seite, ohne Widerworte zu dulden, „du musst morgen schließlich früh raus“. Dazu muss man wissen, dass ich, damals elf Jahre alt, als Fahrschüler jeden Morgen um 5.30 Uhr aufzustehen hatte, jenes Gebot also eher einer elterlichen Fürsorgepflicht entsprang. Hinzu kam, dass meine Eltern überhaupt keine Beziehung zum Fußball hatten. Wenig später liege ich murrend und hadernd in den Kissen, während all meine Gedanken und Sehnsüchte nach Malmö schweifen. Von Einschlafen keine Rede. Etwa eine Stunde später vernehme ich ein leises Geräusch an der Tür. Lautlos, wohl um es vor meinem etwas strengeren Vater zu verheimlichen, schleicht sich meine Mutter in das Kinderzimmer und flüstert mir zu: „3:1“. Was für eine großartige menschliche, gewissermaßen sich selbst verleugnende Geste von ihr, der völlig Fußball-Unaffinen!

17. Juni 1970. Halbfinale bei der Weltmeisterschaft in Mexiko zwischen der deutschen und der italienischen Nationalmannschaft. Das berühmte „Jahrhundertspiel“. Ich hocke zusammen mit ein paar anderen Tübinger Theologiestudenten vor einem etwas altersschwachen Fernseher. Die Fakten

sind bekannt. Achte Minute: 1:0 Italien. 90. Minute: Ausgleich Deutschland („ausgerechnet Schnellinger“). Erste Halbzeit der Verlängerung: 2:1 Deutschland (Müller), dann Ausgleich und Führung Italien zum 3:2. Zweite Halbzeit der Verlängerung: 3:3 (natürlich wieder Müller), im Gegenzug: 4:3 Italien. Kurz darauf Schlusspfiff. Schockstarre legt sich auf unsere kleine Fußballgemeinde. Das Bier ist schal geworden. Wortlos geht jeder seines Weges. Das Leben kann so leer und sinnlos sein.

Als ich viele Jahrzehnte später in der Hamburger Kunsthalle vor Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ stehe, sucht mich die Erinnerung an jenes Spiel wieder heim. Auch das gehört wohl zu unserem Menschsein, dass wir manchmal den kalten Hauch des Nichts geradezu unmittelbar zu spüren meinen. Ob einsam am Meer oder innerlich entleert nach einer sinnlosen Niederlage.

Caspar David Friedrich (1774-1840): „Der Mönch am Meer“ um 1808/10.

Caspar David Friedrich (1774-1840): „Der Mönch am Meer“ um 1808/10. Foto: picture alliance

 

23. Juni 1973. Am Morgen dieses Tages ahne ich noch nicht, dass ich heute Zeuge einer „Sternstunde der Menschheit“ werden soll. Eine solche ist ja nach Stefan Zweig ein Augenblick der Geschichte, in dem sich – oft erst viel später als solcher erkannt – Unerhörtes, Weltbewegendes ereignet. Die entscheidende Minute von Waterloo etwa oder die Geburt des Händelschen „Messias“, solche Sachen halt.

Ich habe eine Karte für das Pokalendspiel Borussia Mönchengladbach gegen den 1. FC Köln im Düsseldorfer Rheinstadion ergattert. Zur Verwunderung aller treten die Gladbacher zunächst ohne ihren Star Günter Netzer an. Als Grund vermutet die BILD-Zeitung eine Verstimmung mit Trainer Hennes Weisweiler. Erst in der Verlängerung kommt Netzer „aus der Tiefe des Raums“ und schießt nach Doppelpass mit Rainer Bonhof das Siegtor. Ein toller Treffer! 

Doch bei aller Anerkennung: Solche oder ähnliche Momente hat man schon häufiger mitbekommen. Was diesen Augenblick nun allerdings zu einem „wahrhaft historischen“ (Zweig) macht, erfahre ich erst Jahre später in Dutzenden von Interviews mit dem Torschützen: Netzer hatte sich – was ja bekanntlich gar nicht geht – selber eingewechselt. Unfassbar. Eine „Sternstunde“ des Fußballs, ach was, „der Menschheit“. Ich hatte sie miterlebt und – frei nach Erzvater Jakob – „wusste es nicht“.

Partielle Traumerfüllung

September 1983. Ein Benefizfußballspiel zwischen Mitarbeitern der Kindernothilfe Duisburg und einem Team von Redakteuren des Westdeutschen Rundfunks. Die Kindernothilfe wird durch ein paar örtliche vermeintliche „Promis“ – Lokalpolitiker, Sparkassendirektoren, Stahlmanager – verstärkt. Als Gemeindepfarrer gerate auch ich in die Mannschaft. In der zweiten Halbzeit kommt zudem der ehemalige Nationalspieler Rudi Seliger (für Unkundige: zwei Einsätze gegen Malta 1974 und Wales 1976) in unser Team. In mir blitzt ein Uralttraum der frühen Jahre auf, den ich wahrscheinlich mit Millionen anderer kleiner Jungen teile: Einmal in der Nationalmannschaft spielen! Ist gemeinsam mit einem Nationalspieler auf dem Feld stehen nicht auch schon wenigstens eine partielle Traumerfüllung?

Hat sich – um ein naheliegendes historisches Beispiel zu bemühen – etwa an der Wahrheit von Martin Luther Kings „I have a dream“ irgendetwas geändert, nur weil sich sein Traum bis heute nicht in Gänze erfüllt hat? Jene zweite Halbzeit ist zumindest ein kräftiger menschlicher Widerspruch gegen die berüchtigte Empfehlung von Altkanzler Helmut Schmidt, wonach, wer Träume oder Visionen habe, doch gefälligst zum Arzt gehen solle. Nein, Träume gehören zu unserem gesunden Menschsein. Auch in dieser Hinsicht spielt der Fußball ganz vorne mit.

Januar 2003. Anruf eines Pfarrers aus dem Ruhrgebiet. Ob ich wohl zu einem Vortrag in seine Gemeinde nach Essen- Frohnhausen kommen könne. Gerne. Frohnhausen? Ist das nicht da, wo Helmut Rahn wohnt, schießt es mir durch mein fußballerisches Allgemeinwissen. Der Name Rahn löst in mir archaische Gefühle aus. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen …“ Kenner wissen: Das Wunder von Bern 1954. Heute noch an der A 40 an drei Autobahnbrücken Richtung Dortmund in Riesenlettern zu lesen. Helmut Rahn – (neben Peter Kraus) das absolute Idol meiner frühen Jahre. „Aber ich muss Ihnen gleich sagen, Bruder Herlyn, wir sind keine sehr betuchte Gemeinde.“ Ich kenne diese Gesprächseröffnungen, wenn es um Honorarfragen geht. Ich unterbreche den Kollegen: „Wohnt in Ihrem Bezirk nicht Helmut Rahn?“ „Sicher. Sehe ich fast jeden Morgen hier vorbei in seinen Schrebergarten ziehen.“ „Vorschlag: Sie besorgen mir ein Autogramm, und die Honorarfrage ist erledigt.“ 

Autogrammkarte von Helmut Rahn, die der Autor 2003 erhielt. Foto: privat

Autogrammkarte von Helmut Rahn, die der Autor 2003 erhielt. Foto: privat

 

Ein Jahr später ist Helmut Rahn tot. Seither hüte ich dieses Kleinod wie eine Reliquie. Trotz aller reformatorischen Kritik an solchen heidnischen Gebräuchen. Eine menschliche Schwäche, ich weiß. Das zu erkennen und anzuerkennen – vielleicht auch das ein kleiner Beitrag des Fußballs zum Humanum.

Wenn ich heute, in etwas späteren Jahren, erinnernd und ein wenig wehmütig am Rande irgendeines Bolzplatzes stehe, denke ich: Wieso muss ich mich eigentlich, was den Fußball angeht, in jenes unfrohe Deutungsgetümmel zwischen modernem Götzendienst und religiöser Anbiederung stürzen? Fußball ist Fußball. Um Himmels willen: mehr nicht. Doch in dieser puren Profanität vielleicht gerade geeignet, hier und da unseren kleinen menschlichen Schwächen, Sehnsüchten und von mir aus auch theologischen Unkorrektheiten ein wenig Raum zu lassen. Es muss ja nicht immer gleich die „Tiefe des Seins“ sein. Manchmal tut es vielleicht auch einfach nur die Tiefe des Traums.

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