Das Erbe kolonialer Macht

Über europäische Migrationsverhältnisse: eine kurze lange Geschichte
Gottesdienst im Französischen Dom in Berlin zur Gebeinübergabe von Herero und Nama von Deutschland an Namibia.
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Gottesdienst im Französischen Dom in Berlin zur Gebeinübergabe von Herero und Nama von Deutschland an Namibia.

Die Geschichte Europas kennt unzählige räumliche Bewegungen über kürzere oder längere Distanzen. Aus welchen Gründen sich in der Neuzeit viele Menschen aus und nach Europa aufmachten, erläutert Jochen Oltmer. Er ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.

Europäische Geschichte ist Migrationsgeschichte. Europäer:innen sind keineswegs erst in der Moderne mobil geworden. Sie überwanden bereits weite Distanzen, bevor es die heutigen Massenverkehrsmittel gab. Ein Mythos ist auch die Vorstellung, in der Vergangenheit sei Migration immer auf eine dauerhafte Niederlassung ausgerichtet gewesen. Tatsächlich kennzeichnen Rückwanderung, saisonale Bewegung und Fluktuation die lokalen, regionalen und europäischen Wanderungsverhältnisse in Vergangenheit wie Gegenwart. Weder heute noch früher gingen Migrant:innen in eine völlig unbekannte Fremde, vielmehr bildete die Bewegung innerhalb von Netzwerken ein tragendes Element räumlicher Mobilität. Meist folgten und folgen Menschen Verwandten oder Bekannten und bilden am Zielort Herkunftskollektive, die Schutz und Chancen zu bieten scheinen.

Die Geschichte Europas kennt unzählige räumliche Bewegungen über kürzere oder längere Distanzen. Die Verstädterung Europas über die Jahrhunderte ist ohne Migration nicht denkbar. Epochemachende Prozesse wie die Industrialisierung können nicht verstanden werden, solange unberücksichtigt bleibt, dass Abermillionen Menschen sich dorthin bewegten, wo Kohle gefördert wurde oder Fabriken entstanden. Blickt man auf interkontinentale Bewegungen, lässt sich in den vergangenen Jahrhunderten ein grundlegender Wandel ausmachen: Europa entwickelte sich von einem Kontinent, den Menschen in großer Zahl verließen, um andernorts Chancen für sich zu suchen, zu einem Ankunftsraum. Denn seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Migration nach Europa erheblich an Bedeutung gewonnen. 

Europas Abwanderung

Der folgende kurze Rückblick auf ein halbes Jahrtausend europäischer Migrationsgeschichte konzentriert sich auf die Frage, aus welchen Gründen sich in der Neuzeit umfangreiche und folgenreiche Migrationen aus und nach Europa ausprägten. Von räumlichen Bewegungen über die Grenze von Kontinenten kann in größerem Umfang seit dem Beginn der weltweiten politisch-territorialen, wirtschaftlichen und kulturellen Expansion Europas gesprochen werden. Die Abwanderung von Europäer:innen in andere Teile der Welt blieb dabei vom 16. bis in das frühe 19. Jahrhundert in ihrem Umfang noch moderat. Seither aber führte sie bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein zu einem weitreichenden Wandel in der Zusammensetzung der Bevölkerungen vor allem in den Amerikas, im südlichen Pazifik, aber auch in Teilen Afrikas und Asiens. Wahrscheinlich rund 60 Millionen Europäer:innen verließen zwischen den 1820er- und den 1920er-Jahren ihren Herkunftskontinent. Um 1900, auf dem Höhepunkt der Abwanderung, begann dann die Geschichte Europas als Einwanderungskontinent, zu dem er sich nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig wandelte.

Überschlägige Berechnungen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass ungefähr zehn Millionen Menschen in den mehr als drei Jahrhunderten zwischen dem Eintreffen Kolumbus’ in der Karibik 1492 und dem Jahr 1820 nach Nord- und Südamerika zogen. Davon kamen rund zwei Millionen aus Europa und etwa acht Millionen als Versklavte aus Afrika. Europa verließen neben den für die Etablierung und Aufrechterhaltung der kolonialen Herrschaft dienenden Soldaten und Beamten auch zahlreiche Missionare. Europäer:innen stellten darüber hinaus Kaufleute, Plantagenbetreiber:innen, aber auch städtische Handwerker, Bauern sowie zu vielleicht einem Drittel Arbeitskräfte, die als Unfreie auf den Doppelkontinent gekommen waren. Außerhalb Amerikas unterhielten Europäer:innen um 1800 zwar rund 500 bis 600 Handels-, Verwaltungs- und Militärstützpunkte in Afrika, Ozeanien und Asien (außerhalb Sibiriens). Darunter aber gab es nur vier dauerhaft bestehende Ansiedlungen mit mehr als jeweils 2 000 Europäer:innen: das portugiesische Goa an der Westküste des indischen Subkontinents und das spanische Manila auf der philippinischen Hauptinsel Luzon sowie die niederländischen Niederlassungen Batavia (heute Jakarta) auf der indonesischen Insel Java und Kapstadt an der Südspitze Afrikas.

Ökonomische Globalisierung

Seit dem frühen 19. Jahrhundert wuchs die Zahl der Menschen rapide, die Europa den Rücken kehrten. Die Phase beschleunigter kolonialer Erschließung der Welt und ökonomischer Globalisierung in den 30, 40 Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs bildete dann den Höhepunkt. Der kleinere Teil der Europäer:innen, die kontinentale Grenzen überwanden, nahm Pfade über Land und siedelte sich vornehmlich in den asiatischen Gebieten des Zarenreichs an. Der überwiegende Teil überwand die maritimen Grenzen des Kontinents: Von den 60 Millionen Europäer:innen, die im „langen“ 19. Jahrhundert nach Übersee zogen, gingen mehr als zwei Drittel nach Nordamerika. Die USA dominierten hierbei eindeutig gegenüber Kanada mit einer um mehr als das Sechsfache höheren Zugewandertenzahl. Rund ein Fünftel wanderte nach Südamerika ab, sieben Prozent erreichten Australien und Neuseeland. Nordamerika, Australien, Neuseeland, das südliche Südamerika sowie Sibirien bildeten als europäische Siedlungsgebiete „Neo-Europas“.

Die Besiedlung dieser „Neo-Europas“ bedeutete eine Verdrängung der einheimischen Bevölkerung in periphere Räume und zeigte nicht selten genozidale Tendenzen. Sie führte zu einer weitreichenden Marginalisierung oder sogar völligen Beseitigung der überkommenen ökonomischen und sozialen Systeme, Herrschaftsgefüge und kulturellen Muster. Den zentralen Anstoß für eine verstärkte europäische Zuwanderung bildete im 19. Jahrhundert die beschleunigte Einbindung der Siedlungsräume in den Weltmarkt. Die europäische Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln sowie der Investitionsschub durch den Kapitalexport aus Europa erzeugten einen hohen Arbeitskräftebedarf in einzelnen Teilen der Welt und ließen neue Migrationsziele für Europäer:innen entstehen. Deren Zuwanderung wiederum führte dort zur Etablierung von Massenmärkten für europäische Fertigwaren, die die wirtschaftlichen Interdependenzen weiter verstärkten. Wesentliche Voraussetzung für den Anstieg der europäischen Überseemigration bildete die bereits seit langem bestehende migratorische Verflechtung zwischen Europa und überseeischen Zielen: Pioniermigrant:innen lieferten Informationen über Möglichkeiten, Pfade und Risiken der Abwanderung nach Übersee. Erleichtert wurden Fernwanderungen zudem durch die im Zuge der Industrialisierung wesentlich verbesserte Verkehrssituation in Europa, nach Übersee und in den Zielgebieten – Raum verdichtete sich. Dadurch verminderte sich nicht nur der zeitliche Aufwand für eine Reise. Auch die Kosten sanken erheblich.

Neue Arbeitswanderungen

Neben die Niederlassung von Menschen aus Europa in den kolonialen Räumen traten die vielgestaltigen und umfangreichen Migrationen insbesondere von Afrikaner:innen und Asiat:innen als unmittelbares oder mittelbares Ergebnis der globalen politisch-territorialen Expansion Europas und der von Europa ausgehenden wirtschaftlichen Globalisierung: Sie waren als Flucht, Vertreibung oder Umsiedlung Ergebnis der Aufrichtung und Durchsetzung von Kolonialherrschaft. Sie waren als Deportation Ergebnis des in vielen Kolonialgebieten praktizierten Zwangs zum Anbau marktförmiger Produkte oder der weitreichenden Etablierung von Plantagenwirtschaften, die auf längere Sicht auf zahlreiche (Zwangs-)Arbeitskräfte angewiesen blieben. Sie waren als Arbeitswanderungen Ergebnis der Veränderung ökonomischer Strukturen, darunter insbesondere der Exploration und raschen Ausbeutung von für die europäische Industrialisierung wichtigen Rohstoffvorkommen, der Umstellung der Landwirtschaft auf Handelspflanzen, des Wachstums urbaner Wirtschaftsräume oder des Ausbaus der Infrastruktur (Eisenbahn-, Kanal- und Hafenbau).

Im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts lief die europäische Transatlantik-Migration als Massenphänomen aus. In den 1920er-Jahren erreichte die europäische Überseewanderung nicht mehr als die Hälfte der durchschnittlichen Jahresraten des Vorkriegsjahrzehnts. In den 1930er-Jahren sanken die Ziffern angesichts der Weltwirtschaftskrise noch weiter ab. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs ließ dann die transatlantische Migration völlig auslaufen. Staaten wie Großbritannien, die Niederlande oder (West-)Deutschland, die lange wichtige Herkunftsländer der Abwanderung aus Europa gewesen waren, verzeichneten seither meist höhere Zu- als Abwanderungsziffern. Und die Migrationsbewegungen aus anderen ehemals bedeutenden Herkunftsländern der Transatlantik-Wanderung wie Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland richteten sich jetzt weitgehend auf die expandierenden Arbeitsmärkte der nord-, west- und mitteleuropäischen Industrieländer aus – ein Prozess, der unter der falschen Bezeichnung der Gastarbeiter-Migration bekannt ist.

Die verstärkte Einwanderung auf den europäischen Kontinent förderte vor allem der Prozess der Dekolonisation: Die Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einer Rückwanderung von europäischen Siedler:innen nach Europa. Vor allem das Ende der globalen Imperien der Niederlande (in den späten 1940er-Jahren), Frankreichs (in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren) sowie Portugals (Anfang der 1970er-Jahre) brachte umfangreiche Rückkehrbewegungen mit sich. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1980 kamen wohl insgesamt fünf bis sieben Millionen Europäer:innen im Kontext der Dekolonisation aus den (ehemaligen) Kolonialgebieten auf den europäischen Kontinent, darunter viele, die weder in Europa geboren waren noch je in Europa gelebt hatten.

Paradoxon der Geschichte

Darüber hinaus wurde im Prozess der Dekolonisation die Zuwanderung kolonialer Kollaborateure in die ehemaligen Mutterländer zugelassen, die als Verwaltungsbeamte, Soldaten oder Polizisten die koloniale Herrschaft mitgetragen hatten oder den Einheimischen als Symbole extremer (politischer) Ungleichheit in der kolonialen Gesellschaft galten. Und außerdem prägten sich umfangreiche postkoloniale Zuwanderungen ehemaliger Kolonialisierter nach Europa aus, weil wegen der zum Teil weiterhin bestehenden engen Verbindungen zwischen ehemaligen kolonialen Metropolen und in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten privilegierte Zugangs­wege bestanden. Das galt unter den großen europäischen Zuwanderungsländern vor allem für Frankreich und Großbritannien, aber auch für die Niederlande und Belgien: Großbritannien etwa bot seit dem British Nationality Act von 1948 allen Bewohner:innen der Kolonien beziehungsweise des Commonwealth eine einheitliche Staatsangehörigkeit sowie freie Einreise und Arbeitsaufnahme in Großbritannien. Diese offene Regelung wurde erst seit den 1960er-Jahren schrittweise zurückgenommen. Aus der starken Migration im Kontext der Auflösung der europäischen Kolonialbesitzungen ergab sich ein Paradoxon der Geschichte der europäischen Expansion: Die europäischen Kolonialreiche waren in den europäischen Metropolen nie präsenter als mit und nach der Dekolonisation.

Die UN schätzte 2020 die Zahl der internationalen Migrant:innen weltweit auf 281 Millionen, die einen Anteil von 3,6 Prozent der Weltbevölkerung ausmachten. 96 von 100 Menschen auf der Erde leben gegenwärtig mithin in den Staaten, in denen sie geboren wurden. Die häufig gestellte Frage, ob es heute mehr oder weniger Migration gebe als früher, lässt sich nicht beantworten. Für viele Zeiträume finden sich keine verlässlichen Daten. Feststellen lässt sich aber, dass der geringere Teil der Menschen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart kontinentale Grenzen überschritt beziehungsweise überschreitet. Höher blieb immer die Zahl jener, die als Binnenwandernde innerhalb von Staaten mobil waren, benachbarte Länder aufsuchten und sich innerhalb von Weltregionen wie Westafrika, Südasien oder eben Europa bewegten.

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Jochen Oltmer

Jochen Oltmer ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück.


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