Humanitäre Abschottung?
Am 10. April hat auch das Europäische Parlament dem neuen Pakt für Asyl und Migration zugestimmt. Es ist ein hoch komplexer, mühsam errungener Kompromiss unter den zunehmend migrationsskeptischen 27 EU-Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament. Es ist sicher nicht der Endpunkt der asylpolitischen EU-Debatte. Katrin Hatzinger, Leiterin der EKD-Dienststelle in Brüssel, stellt ihn vor.
Vor der finalen Abstimmung am 10. April 2024 im Europäischen Parlament in Brüssel über den neuen Pakt für Asyl und Migration wurde es nochmal spannend. Würden wirklich alle zehn Gesetzestexte zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) die ausreichende Mehrheit erhalten, oder würde dieses hochumstrittene Gesetzgebungspaket auf der Zielgeraden scheitern? Am Ende hat es – teils mit hauchdünnnen Mehrheiten – doch gereicht, der Pakt wurde verabschiedet, und auch im Rat der EU-Innenminister wurde das Paket Mitte Mai trotz lautstarker Proteste gegen die Reform aus Polen und der Slowakei mit qualifizierter Mehrheit angenommen.
Neben den kirchlichen Büros in Brüssel haben sich zahlreiche EKD-Gremien, nicht zuletzt die EKD-Synode, seit der Vorstellung des Pakts im September 2020 immer wieder mit den Vorschlägen beschäftigt, die politische Handlungsfähigkeit demonstrieren, Dysfunktionalitäten des aktuellen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems beseitigen, Solidarität mit besonders betroffenen Mitgliedstaaten schaffen, Vertrauen in eine gemeinsame europäische Politik und einen besseren Schutz der Außengrenzen angesichts zunehmender irregulärer Migration bewirken sollten.
Die Bemühungen einer Reform der EU-, Asyl- und Migrationspolitik reichen bis in das Jahr 2016 zurück, als die EU-Kommission unter dem Eindruck der Erfahrungen aus dem Jahr 2015 eine umfassende Reform der geltenden Regeln anstieß, die schlussendlich an den widerstreitenden Interessen der EU-Mitgliedstaaten scheiterte.
Der nun vorliegende 2000 Seiten umfassende Pakt ist ein hoch komplexer, mühsam errungener Kompromiss unter den zunehmend migrationsskeptischen 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament. Die erzielte Einigung setzt sicherlich nicht den Endpunkt der asylpolitischen Debatte auf EU-Ebene, zumal die Regeln nicht unmittelbar, sondern erst ab 2026 greifen. In der Zwischenzeit wird das Thema der Externalisierung des Flüchtlingsschutzes in Drittstaaten außerhalb der EU in Form des so genannten Ruanda- oder Albanien-Modells nicht nur von den Tories in Großbritannien und den Regierungen in Dänemark oder Italien vorangetrieben, sondern auch von der CDU/CSU in Deutschland im Europawahlprogramm oder im CDU-Grundsatzprogramm gehypt.
Zudem schließt die EU-Kommission unermüdlich umstrittene Migrationsabkommen mit Drittstaaten wie zum Beispiel Tunesien oder Ägypten. Der Pakt könnte vor diesem Hintergrund auch eine Chance bieten, die getroffenen gesetzlichen Regeln insbesondere zum Flüchtlingsschutz tatsächlich anzuwenden und mit Hilfe einer kritischen Begleitung durch die Zivilgesellschaft, das Europäische Parlament, EU-Agenturen und die EU-Kommission als „Hüterin der Verträge“ auch in den Mitgliedstaaten durchzusetzen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln.
Die Alternative zum Pakt wäre angesichts der zahlreichen europaskeptischen und Rechtsaußen-Regierungen in der EU sehr wahrscheinlich eine weitere Abkehr von gemeinsamen europäischen Regeln und der Genfer Flüchtlingskonvention hin zu einer weiteren Re-Nationalisierung und Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik. Dies würde zu noch mehr eigenmächtigem Handeln auf Kosten der Menschenrechte in rechtlichen Graubereichen ohne jegliche europäische politische Kontrolle oder einen kritischen Blick des Europäischen Gerichtshofs führen.
Doch auch der Pakt birgt einige Fallstricke für den Flüchtlingsschutz, wie im Folgenden zu zeigen ist: Der Beschluss der EKD-Synode vom 15. November 2023 verdeutlicht, welche Anliegen der EKD in der Endphase der Verhandlungen besonders wichtig waren, nämlich dass der individuelle Zugang zu Asylverfahren für Schutzsuchende gewährleistet bleibt, das Konzept der so genannten sicheren Drittstaaten eng definiert wird und dass für die Annahme einer „Verbindung“ zu einem Drittstaat die Durchreise allein nicht ausreicht, dass Schutzsuchende in allen Verfahrensschritten Zugang zu Nichtregierungsorganisationen (NGOs), kostenloser Rechtsberatung und effektivem Rechtsschutz haben, dass die Rechte von Kindern vollumfänglich geachtet werden, dass insbesondere Kinder und ihre Familien vom geplanten beschleunigten Grenzverfahren ausgenommen und nicht in haftähnlichen Einrichtungen festgehalten werden dürfen sowie eine gute medizinische und psychologische Versorgung aller Schutzsuchenden an den Außengrenzen gewährleistet wird, um (Re-)Traumatisierungen zu verhindern. Und weiter: Die Definition von Krise, Instrumentalisierung und Force Majeure soll so eng wie möglich gefasst werden, damit beispielsweise Aktivitäten von NGOs nicht als ein Fall von Instrumentalisierung im Rahmen der Krisenverordnung eingestuft werden und zum Schluss bei der Prüfung, welcher Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig ist, humanitäre Ermessensregeln und kurze Überstellungsfristen beibehalten werden.
Der Pakt umfasst zehn Gesetzestexte, einige davon stammen noch aus dem Jahr 2016, wie etwa die überarbeitete Richtlinie über Aufnahmebedingungen, die überarbeitete Qualifikationsverordnung oder ein neuer Rechtsrahmen für die Flüchtlingsneuansiedlung („Resettlement“). Im Folgenden soll besonders auf vier teils sehr umstrittene Gesetze eingegangen werden.
Beschleunigte Verfahren
Die so genannte Screening-Verordnung legt fest, dass Personen, die irregulär in die EU einreisen, ein so genanntes Screening durchlaufen müssen. Dieses umfasst ihre Identifizierung und Registrierung, zudem werden sie einer Sicherheits- und Gesundheitskontrolle unterzogen, und es wird geprüft, ob sie besonders schutzbedürftig sind. Im Rahmen des Screenings wird auch geprüft, welches weitere Verfahren (Asyl- oder Rückführungsverfahren) einschlägig ist. Durch einen unabhängigen Monitoring-Mechanismus zur Überwachung der Grundrechte soll sichergestellt werden, dass die Grundrechte der Antragsteller während des Screening-Verfahrens (und auch des Grenzverfahrens) eingehalten werden.
Zum Zweiten die Asylverfahrensverordnung: Sie umfasst ein gemeinsames europäisches Verfahren für die Erteilung und den Entzug internationalen Schutzes. Die EU-Mitgliedstaaten werden in bestimmten Fällen verpflichtet, beschleunigte Asylverfahren an den EU-Außengrenzen durchzuführen (so genannte Grenzverfahren). In anderen Fällen besteht lediglich die Möglichkeit für Mitgliedstaaten, solche Verfahren anzuwenden. Die Verpflichtung zu Grenzverfahren gilt unter anderem, wenn ein Antragsteller aus einem Land kommt, dessen durchschnittliche unionsweite Anerkennungsquote im vergangenen Jahr unter 20 Prozent lag. Die Verordnung sieht außerdem vor, dass Mitgliedstaaten angemessene Aufnahme- und Personalkapazitäten aufbauen müssen. Daneben hat die EU eine Verordnung zur Rückführung an den EU-Außengrenzen geschaffen. Die Höchstdauer des Asyl- und Rückkehrverfahrens an der Grenze sollte sechs Monate nicht überschreiten.
Drittens: die Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (Asylum and Migration Management Regulation kurz: AMMR). Sie soll die so genannte Dublin-Verordnung ablösen und regelt unter anderem die Zuständigkeit des jeweiligen EU-Mitgliedstaats in Asylverfahren, wobei sie am umstrittenen „Prinzip der Ersteinreise“ festhält. Das heißt, der Staat, der die Einreise ermöglicht oder nicht verhindert hat, ist für das Asylverfahren zuständig. Zudem führt sie einen neuen „Solidaritätsmechanismus“ ein, nach dem Mitgliedstaaten, in denen die meisten Migranten ankommen, durch andere Mitgliedstaaten entlastet werden sollen. Die Teilnahme an diesem Mechanismus ist für alle Mitgliedstaaten verpflichtend, es liegt aber an ihnen zu entscheiden, auf welche Weise sie sich solidarisch zeigen wollen: durch Übernahmen, Finanzbeiträge oder alternative Solidaritätsmaßnahmen.
Abweichen in Krisensituationen
Und viertens: die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Fällen höherer Gewalt (Krisenverordnung). Sie gibt den EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit, in Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt für einen begrenzten Zeitraum von den allgemeinen Verfahrensregeln und Aufnahmebedingungen abzuweichen. Situationen, in denen Migranten für politische Zwecke instrumentalisiert werden, um die Kapazitäten des Bestimmungsmitgliedstaats zu überlasten und ihn zu destabilisieren, werden als Krise gewertet. Die Zulässigkeit dieser Ausnahmen muss im Einzelfall in einem aufwendigen Verfahren, an dem die EU-Kommission und der Rat beteiligt sind, festgestellt werden.
Wie ist die Einigung zu werten? Die Komplexität des Gesetzespakets ist sicherlich ein Problem für eine vollständige und einheitliche Umsetzung ebenso wie die Finanzierung der zahlreichen Maßnahmen und das Vorhalten ausreichender räumlicher, aber auch fachlicher Kapazitäten. Dazu kommt, dass wichtige Themen wie Erleichterung bei der legalen (Arbeits-)Migration sowie sichere und legale Wege zu internationalem Schutz trotz der Einigung auf den Resettlement-Rahmen eher stiefmütterlich behandelt werden. Auch das Thema Seenotrettung kommt nur am Rande vor. Als klarer Fortschritt ist das unabhängige Grundrechte-Monitoring im Bereich des Screenings und des Grenzverfahrens zu werten. Dies bietet ein wichtiges Einsatzfeld für Ombudsstellen oder Menschenrechtsagenturen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, um Missstände an den Außengrenzen aufzudecken und Menschenrechtsverletzungen möglichst vorzubeugen. Ebenfalls positiv zu werten ist das besondere Augenmerk auf vulnerable Antragssteller im Rahmen von Screening, Asylverfahrensverordnung, AMMR und Aufnahmebedingungsrichtlinie. Auch gibt es differenzierte Regeln im Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen. Daneben ist positiv zu vermerken, dass Antragsstellern mehr Informationen bereitgestellt werden und in allen Verfahrensschritten Zugang zu kostenloser Rechtsberatung gewährleistet sein soll. Allerdings ist unklar, wie effizient und weitreichend diese sein wird, und auch die Regeln zu Rechtsbehelfen sind verwirrend. Schließlich ist es gelungen, einen flexiblen Solidaritätsmechanismus zu etablieren, der allerdings Polen, der Slowakei und Ungarn immer noch zu weitgehend und hyperkomplex ist.
Kritisch zu werten ist, dass das beschleunigte Grenzverfahren für bestimmte Personengruppen verpflichtend angewandt werden muss. Auch wenn die Inhaftierung von Kindern und ihren Familienangehörigen nur „ultima ratio“ sein soll, sind diese nicht von dem beschleunigten Grenzverfahren ausgenommen. Ein weiterer Kritikpunkt bleibt, dass Anträge auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt werden können, wenn der Antragsteller über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Allerdings steht die Anwendung des Konzepts im Ermessen der Staaten, und es muss ein Verbindungselement zu dem Drittstaat vorliegen. Ob der alleinige Transit bereits ausreicht, um dieses anzunehmen, ist unklar.
Besonders problematisch ist die Krisen-Verordnung, die in Krisensituationen zahlreiche Ausnahmen von regulären Asylverfahrensstandards ermöglicht. So können Verfahrensfristen etwa bei der Registrierung verlängert werden, mit der Folge, dass sich auch der Zugang zu Rechten verzögert. Es besteht die Sorge, dass auch bestimmte NGO-Aktivitäten etwa zur Seenotrettung als Instrumentalisierung gewertet werden könnten. Ferner besteht die Befürchtung, dass rechtswidrige Praktiken einzelner Mitgliedstaaten unter Berufung auf diese Regelungen nachträglich legitimiert werden könnten.
Mehr denn je wird die Umsetzung dieses Reformpakets ausschlaggebend dafür sein, ob die Mitgliedstaaten sich an die EU-rechtlichen Vorgaben halten und bei der Anwendung der komplexen Vorgaben den Flüchtlingsschutz in den Vordergrund stellen oder wie so oft in der Vergangenheit die restriktiven Elemente überwiegen und allein auf Abschreckung und Abschottung gesetzt wird. Vieles ist hier in das Ermessen der Staaten gestellt.
Die EU-Kommission erarbeitet bis Juni Leitlinien zur Umsetzung der neuen rechtlichen Vorgaben. Die Mitgliedstaaten haben dann sechs Monate Zeit, eigene Umsetzungspläne zu erarbeiten. Auf Brüsseler Ebene sind Kirchen und NGOs bereits im Austausch mit der Kommission und der EU-Asylagentur, um auf mögliche Schutzlücken und unklare Regelungsbereiche hinzuweisen. Aber vor allem auf nationaler Ebene wird Kirchen und NGOs jetzt eine wichtige Aufgabe zukommen, um zu einer menschenrechtsbasierten Umsetzung des Pakts beizutragen.
Katrin Hatzinger
Katrin Hatzinger ist Oberkirchenrätin und Leiterin der Dienststelle Brüssel des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Dienststelle Brüssel.