Die rechte Kante

Anmerkungen zur Positionierung der Kirchen zur AfD
Demonstration in Rottenburg (Baden-Württemberg) am 23. Januar 2024.
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Demonstration in Rottenburg (Baden-Württemberg) am 23. Januar 2024.

Die Kirchen haben sich in den vergangenen Wochen eindeutig gegen die AfD positioniert. Doch diese klare kirchliche Kante wirft Fragen über das Verhältnis der Kirchen zu Demokratie und Politik auf, meint der Theologe Armin Kummer aus Leuven (Belgien). Er warnt vor einer allzu einfachen Unterscheidung zwischen Gut und Böse und sieht den Grund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwerfungen in der vorherrschenden Austeritätspolitik.

Damit das erstmal aus dem Weg ist: Ich glaube, Jesus von Nazareth, lebte er denn als deutscher Wähler unter uns, würde nicht die AfD wählen. Und er würde auch nicht für die AfD als Kandidat für staatliche Ämter antreten. Damit ist meines Erachtens eigentlich alles gesagt, was man als Theologie zu dieser Partei sagen sollte. Darüber hinaus wirft das gegenwärtig so dringliche Bedürfnis der Kirchen, sich zur AfD zu positionieren, einige grundlegende Fragen zum Verhältnis zwischen Kirchen, Demokratie und Politik auf.

Problem Nummer eins: Die Kirchen in Deutschland wären im gegenwärtigen Wahl- und, geben wir es zu, Kulturkampf etwas glaubwürdiger, wenn die Kirchenleitungen unserem Blick nicht ausweichen müssten bei der Frage: Wie haltet ihr es denn selbst mit der Demokratie? 

Deutschland feiert in diesen Tagen 75 Jahre Grundgesetz, aber unsere Kirchen sind immer noch nicht in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes angekommen. Schlimmer: Sie machen sich nicht einmal auf den Weg dorthin auf. Die fünf Grundsätze für demokratische Wahlen, die wir in Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes finden – allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim –, in den Verfassungen unserer Kirchen finden wir sie nicht. Eine zeitliche Mandatsbegrenzung für kirchenleitende Ämter? Fehlanzeige. Oder gar das bereits prä-demokratische Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung? Nominell unterscheiden wir zwar zwischen den Synoden als Legislative, den Landeskirchenräten und -ämtern als Exekutive und der kirchlichen Gerichtsbarkeit als Judikative. In der Praxis liegt aber alle Macht dort, wo sie seit Anfang des 19. Jahrhunderts liegt: in den Landeskirchenräten und -ämtern, die einst Teil der Staatskanzleien beziehungsweise der Kultusministerien waren. 

Wenn man an der aktuellen Zweckmäßigkeit dieser historischen Strukturen Zweifel anmeldet, weil zum Beispiel im Zusammenhang mit den Missbrauchsskandalen das Problem der Verantwortungsdiffusion deutlich wurde, dann betonen die kirchlichen Besitzstandwahrer, dass die Kirche eben etwas Besonderes sei. Das geschwisterliche Miteinander, die Dienstgemeinschaft, die Vernetzung der verschiedenen Ebenen und die möglichst breite Beteiligung an Entscheidungen sind Begrifflichkeiten, die leitende Kirchenjuristen gegen das Unterscheiden und Trennen der Gewalten und Zuständigkeiten ins Feld führen. Nun, auch die Theoretiker des italienischen Faschismus oder der Kommunistischen Partei Chinas haben plausible Argumente gegen die lästige Gewaltenteilung. Aber vereinbar mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind diese Argumente eben nicht.

Offene Flanke

Umsichtige Kirchenleitungen sind sich ihrer offenen Flanke durchaus bewusst. Trotz aller Aufrufe zur Wehrhaftigkeit und Verteidigung der Demokratie in unserem Lande, positionieren sie sich zwar „gegen Menschenverachtung, Rassismus und Gewalt“ in Deutschland, halten sich aber mit allzu prägnanten Aussagen zur Demokratie höflich zurück. Das zweite Problem ist die alte Geschichte mit der Obrigkeit. Es scheint unseren Kirchen gut zu gelingen, „klare Kante“ zu zeigen und „Brandmauern“ zu errichten, solange sich eine Partei in der Opposition befindet. Im Kampf gegen diese eilen unsere Kirchen der jeweiligen Regierung, gegenwärtig also der Ampel, gerne zur Seite. Was aber, wenn die Partei, von der man sich heute noch so deutlich abgrenzt, dann doch zu Amt und Würden kommt? Gehen dann die Kirchen in die Opposition?

Der katholische Erzbischof von Berlin, Heiner Koch, hat bereits angedeutet, dass man einen demokratisch gewählten AfD Bürgermeister wohl doch irgendwie anerkennen und zum Gemeindefest einladen werde. Auch die traditionelle evangelisch-lutherische Auslegung von Römer 13 lässt erwarten, dass man sich mit der jeweiligen gewählten Obrigkeit schnell arrangiert. Bei aller nachträglichen Dankbarkeit für die Existenz einer Bekennenden Kirche in Deutschlands dunkelsten Jahren: Die Erfahrung der vergangenen fünf Jahrhunderte macht die Aussicht auf die Metamorphose des deutschen Mehrheitsprotestantismus zur oppositionellen Kraft statistisch eher unwahrscheinlich.

Erzbischof Kochs kompromissbereite Haltung hingegen zeugt von Weitsicht. Man will den Teufel ja nicht an die Wand malen, doch die Wahlprognosen legen nahe, dass man wohl bald schon bei einigen Kirchenvertretern, die sich heute allzu weit aus dem Fenster lehnen, erstaunliche Konversionserfahrungen beobachten können wird. Da scheint es langfristig klüger, gute christliche Argumente gegen menschenfeindliche Parolen und Ideologien ins Gespräch zu bringen, als Kandidaten und Wähler pauschal zu verdammen und sich so aus dem kritischen Gespräch zu verabschieden. So haben zum Beispiel der Hamburger Erzbischof Stefan Heße und Berlins Bischof Christian Stäblein in einem gemeinsamen Brief anlässlich des CDU-Parteitags die Flüchtlingspolitik der CDU als unchristlich gebrandmarkt.

Naserümpfend herabgeschaut

Ein drittes Problem ist die Frage, warum sich die Kirchen derzeit zwar lautstark an der Abgrenzung „gegen rechts“ beteiligen, nicht aber an der etwas anspruchsvolleren Debatte, warum rechte Parteien in ganz Europa derzeit eigentlich so viel Unterstützung erhalten. Es gibt natürlich Personen in der Kirchenleitung, die hierfür eine Erklärungen bereithalten: Die Menschen sind von den Komplexitäten der ausgehenden Spätmoderne tief verunsichert und lassen sich von den Populisten komplexitätsreduzierende Scheinlösungen verkaufen. In diesem Tenor höre ich die Stimme einer bildungsbürgerlich sozialisierten Pfarrperson, die aus der verbeamteten Sicherheit des Pfarrhauses naserümpfend auf den einfältigen und ungehobelten Pöbel herabschaut. Rechtspopulismus als Folge mangelnder Ambiguitätstoleranz, versichern sich einander solch feinsinnige Theologen.

Entgegen dieses selbstgefälligen Erklärungsmusters beobachten etwas neugierigere Sozialwissenschaftler den Trend nach rechts bereits seit der Finanzkrise im Jahr 2008. Der Grund für die Migration der Wähler von der regierenden Mitte zu den rechten Rändern wird oft in einem einzigen Wort zusammengefasst: Austerität. Auf Deutsch: Sparpolitik oder Haushaltsdisziplin. Die Austeritätspolitik wurde in Deutschland von der sogenannten Mitte als „Schuldenbremse“ sogar in der Verfassung festgeschrieben. Überall, wo in den vergangenen zwei Jahrzehnten Austerität verordnet wurde, blüht heute der Rechtspopulismus.

Wenn die neoliberale Austeritätspolitik das Grundübel der heutigen gesellschaftlichen Malaise darstellt, so sind deren Symptome mannigfaltig. Wohnungsnot. Pflegenotstand. Lehrermangel. Marode Infrastruktur. Verspätete Züge. Digitalisierungsdefizite in der Verwaltung. Leere Kassen bei den Kommunen, die sich unter anderem um die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen und Migranten kümmern sollen. (Einwanderung, um das hier mal provokativ einzuwerfen, ist nur dann ein gesellschaftliches Problem, wenn man nicht genug Geld in die Hand nimmt, um eine effektive Integrationspolitik zu veranstalten.)

Schrumpfen und verwelken

Austerität verstärkt sich selbst, führt also in eine Abwärtsspirale. Theologen können hier das Gleichnis von den anvertrauten Talenten als grobe Analogie heranziehen (Matthäus 25, 14-30). Einfachere Geister können sich auch einfach an die keynesianische Maxime „von nichts kommt nichts“ halten. Wenn der Staat Jahr für Jahr nicht in die Zukunft investiert – also vor allem in Bildung, Gesundheit, Wohnen und Infrastruktur – dann fallen Wirtschaft und Gesellschaft jedes Jahr weiter zurück. Statt zu wachsen und zu blühen, schrumpfen und verwelken Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Austerität ist eine Falle.

Als Ergebnis der Politik der Parteien der Mitte wird im Jahre 2024 der Handlungsspielraum des Staates zermahlen zwischen der selbstverschuldeten Austeritätsfalle auf der einen Seite und der kostspieligen Kriegstüchtigkeit, die den Steuerzahlern als Folge einer vermeintlichen geopolitischen Zeitenwende verordnet wird, auf der anderen. Von den Erfordernissen einer klimapolitischen Wende ganz zu schweigen. Wie auch immer man diesen Krieg moralisch bewertet, sozioökonomisch haben der Krieg in der Ukraine und die internationale Sanktionspolitik zu stark angestiegenen Energie- und Lebenshaltungskosten für die Menschen in Deutschland geführt. Glaubt man den Meinungsforschern, lehnt die Mehrheit der Deutschen die Fortführung dieses Krieges sowie die geplante militärische Aufrüstungspolitik ab. Wenn nun aber die rüstungsbeflissenen Parteien der Mitte die Zeichen der Zeit oder die Stimmen der Mehrheit rundweg ignorieren, dann ist zu befürchten, dass sich die Wähler einer Alternative zuwenden – einige aus Überzeugung, viele aus Wut oder Ratlosigkeit. 

Nach sechzehn Jahren Austerität und zweieinhalb Jahren Kriegswirtschaft droht nun also eine selbsterkorene Alternative bei den vor uns liegenden Wahlen 2024 und 2025 kräftig zuzulegen. Die Kirchen wollen „klare Kante“ zeigen. Aber gegen wen eigentlich? Gilt die Abgrenzung einer unappetitlichen Partei oder aber ihren angeblich so komplexitätsüberforderten Wählern, denen es vielleicht einfach stinkt, dass sie keine erschwingliche Wohnung finden und mit ständig steigenden Lebenshaltungskosten fertig werden müssen. Jüngste Umfragen in Frankreich identifizieren genau die letzteren zwei Faktoren – Wohnungsnot und Lebenshaltungskosten - als Gründe für die in freiem Fall befindliche Zustimmung für Präsident Macron und die steigende Popularität des Rassemblement National.

Im Lichte christlicher Grundüberzeugungen

Was folgt aus alledem? Im Englischen unterscheidet man zwischen politics und policies. Ersteres beschreibt den Kampf unterschiedlicher Interessen und Parteien um die Macht. Zweiteres beschreibt staatliches Handeln in einem bestimmte Politikfeld, wie er zum Beispiel in den Begriffen „Bildungspolitik“ oder „Industriepolitik“ zum Ausdruck kommt. Ich halte es für weitaus ratsamer – aber sicherlich auch anspruchsvoller – wenn die Kirchen ihre Stimme auf der Policy-Ebene einbringen würden. Auf dieser Ebene gibt es meist keine einfache Unterscheidung zwischen Gut und Böse, aber man kann, wie die Bischöfe Stäblein und Heße es bewiesen haben, konkrete Politikentwürfe durchaus im Lichte christlicher Grundüberzeugungen bewerten. Auf der Ebene der Parteipolitik, die leider viel schneller zu einem dualistischen Dafür-oder-Dagegen einlädt, ist der spezifisch kirchliche Mehrwert für die demokratische Debatte in unserer Gesellschaft eher gering, vor allem solange die Kirchen ihren demokratischen Lippenbekenntnissen kirchenintern keine Taten folgen lassen.

Wenn es also um die Parteipolitik geht, kann ich mir nicht vorstellen, dass Jesus die AfD wählen würde. Was die Sachpolitik betrifft, glaube ich aber auch nicht, dass Jesus besonders begeistert ist von der gegenwärtigen Austeritätspolitik der Parteien der Mitte. Ich könnte mir vorstellen, dass er Investitionen in erschwinglichen Wohnraum, in Gesundheit und Bildung, in lebensdienliche Infrastruktur und in eine menschenfreundliche Integration von Migranten unterstützen würde. 

Ach ja – und den Frieden! Frieden, das wage ich als christlicher Theologe zu sagen, war schon immer eine Priorität für unsern Herrn. Für die Kirchen noch bis vor Kurzem übrigens auch. Es wäre also gar nicht so schwer für die Kirchen, eine positive Botschaft in die Wahlkämpfe dieser bewegten Zeit zu tragen. Statt nur klare Kante gegen die AfD zu zeigen, könnten sich die Kirchen inhaltlich stark machen für exakt die Themen, mit denen man den rechten Populisten das Wasser abgräbt: Zukunftsinvestitionen und Frieden. Ich denke, Jesus könnte beides unterstützen.

 

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Armin Kummer

Armin Kummer (*1972) forscht und lehrt als evangelisch-lutherischer Theologe am Research Unit Pastoral and Empirical Theology an der Katholischen Universität Leuven (Belgien). Aufgrund seiner multidisziplinären Ausbildung (Heidelberg, Cambridge, Harvard) und Karriere in Unternehmensberatung, Diplomatie und der internationalen öffentlichen Verwaltung ist er ein ökumenisch erfahrener Experte in den Bereichen kirchlicher governance, reform, and compliance sowie in Fragen kritischer Ekklesiologie.


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