Nicht am Symptom abarbeiten

Warum die Debatte um den Sonntagmorgengottesdienst für eine Kirche im Umbruch steht
Gottesdienstgemeinde singt in einer evangelischen Kirche während eines Sonntagsgottesdiensts.
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Gottesdienstgemeinde singt in einer evangelischen Kirche während eines Sonntagsgottesdiensts.

Die Frage nach der Zukunft des Sonntagsgottesdienstes ist nicht neu. Aber die Heftigkeit, mit der sie in diesen Wochen diskutiert wird, überrascht. In vielem ist sie Symptom und Indikator für eine Kirche im Umbruch. Daher lohnt es sich, genauer hinzuschauen, meint Ernst-Wilhelm Gohl, Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.  

Etwas drei Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder besuchen in der Regel den Sonntagmorgengottesdienst.[1] Natürlich gibt es Ausnahmen, wie zum Beispiel die Gottesdienste zur Konfirmation oder zum Erntedankfest. Faktisch aber bedeutet das: Die große Mehrheit der Kirchenmitglieder nimmt dieses regelmäßige Angebot nicht wahr. Dem gegenüber stehen die zeitlichen und finanziellen Ressourcen, die für die regelmäßige Feier des Sonntagsgottesdienstes von den Kirchengemeinden aufgewendet werden. Die Gottesdienstvorbereitung durch Pfarrinnen und Pfarrer. Die immer schwieriger werdende Versorgung mit Kirchenmusikerinnen -musikern. Die niedrigen Deputate der Mesnerinnen und Mesner. Die gestiegenen Energiekosten, vor allem aber die Frustration der Beteiligten und Besuchenden über niedrige Gottesdienstbesucherzahlen. All diese Faktoren haben zu einer Legitimationskrise des Sonntagsmorgengottesdienstes geführt. Schon 2019 fragte Thomas Klatt in zeitzeichen pointiert „Geht es auch ohne?”, um festzustellen, „der Sonntagsgottesdienst scheint zum Auslaufmodell zu werden”[2].

Nun könnten wir einfach zur Tagesordnung übergehen und dieses Gottesdienst-Angebot wie viele andere Angebote auch einer Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen. Wenn ich aber die Debatte der letzten Tage betrachte, die durch den Beitrag von Hanna Jakobs in „Die Zeit/Christ & Welt“ („Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!”) mächtig an Fahrt aufgenommen hat, geht es offenkundig um mehr.[3]

Zwei Hauptgründe werden in den Debatten für die Krise des Sonntagmorgengottesdienstes verantwortlich gemacht. Erstens: Das veränderte Freizeitverhalten am Wochenende. Es führt zu einer Konkurrenz mit anderen Bedürfnissen. Zweitens: Die agendarische Form des Gottesdienstes. Sie sei zu traditionell und entspreche nicht mehr dem Musikgeschmack und den Kulturbedürfnissen einer Mehrheit der Kirchenmitglieder.

Erstaunlich redundant

Dieser Befund ist nicht neu. Im Gegenteil: Seit den 1970er-Jahren wurden in den Landeskirchen zahlreiche Strategien entwickelt, um dieser Krise zu begegnen. Die aktuelle Debatte ist daher erstaunlich redundant. Im Wesentlichen lassen sich fünf Strategien im Umgang mit der Krise des Sonntagmorgengottesdienst unterscheiden:

  • Zahlreiche Gemeinden, gerade in Württemberg, haben in den vergangenen dreißig Jahren ihr Gottesdienstangebot konsequent ausgeweitet. Unter dem „Label” Zweitgottesdienst wurden Formate entwickelt, die Gottesdienste zu anderen Uhrzeiten am Sonntag oder auch Samstag meist zusätzlich zum Hauptgottesdienst am Sonntagmorgen anboten. Diese Gottesdienste integrierten alternative liturgische Elemente und einen anderen Musikstil. Viele dieser Angebote sind mittlerweile selbst in die Jahre gekommen und keine echte Alternative zum Sonntagmorgengottesdienst.
  • Die Beobachtung, dass einzelne Anlässe wie ein Jubiläum, ein Gedenken oder eine biografische Wegmarke die Attraktivität eines Gottesdienstes erhöhen kann, hat zu einer regelrechten Kasualisierung des Sonntagsgottesdienstes geführt. Kritisch wird der Eventcharakter der Gottesdienste gesehen.
  • Die bisherige Engführung auf bestimmte kirchenmusikalische Traditionen ist einer Verbreiterung des Musikangebots gewichen. Es gibt den Beruf des Popkantors, der Popkantorin. Lobpreisbands, Kinderchöre und Taizé-Gruppen sind längst fester Bestandteil des kirchenmusikalischen Angebots und haben die Gottesdienste bereichert.
  • Die starre Orientierung an den Grenzen der Parochie, die dazu führte, dass in kleinräumlicher Nähe in benachbarten Gemeinden beinahe identische Gottesdienste angeboten werden, ist gerade im städtischen Raum einer Ausdifferenzierung der Angebote gewichen und verbindet sich mit dem Konzept der „kirchlichen Orte” (Uta Pohl-Patalong).
  • Dasselbe gilt für die Verbindlichkeit agendarisch festgelegter Formen in der Gottesdienstpraxis. Auch sie ist einer Freude am Experimentieren gewichen. Das betrifft die Abendmahlsfeiern, aber auch die einzelnen liturgischen Stücke insbesondere der Eingangsliturgie.

Zum Beispiel „Brot und Liebe“

Neben diesen Modernisierungsstrategien des Sonntagsgottesdienstes hat die Coronapandemie zu einer grundsätzlichen Überprüfung dieses Gottesdienstangebotes geführt. Aufgrund einzelner Coronaschutzmaßnahmen mussten Gottesdienste zeitlich verkürzt werden. Hier stellte sich die Frage nach der Priorisierung. Streamingangebote ermöglichten den Abruf zu einem späteren Zeitpunkt und die Nutzung räumlich weit entfernter Angebote. Die Contoc-Studie hat gezeigt, dass diese Angebote während der Pandemie durchaus zur Teilnahme an diesen neuen Formaten geführt haben. Sie wurden aber vor allem als Ersatz für den präsentischen Gottesdienst angesehen. Einzelne Gruppen nutzen bis heute diese Angebote, wie zum Beispiel „Brot und Liebe”. [4]

Die aktuelle Debatte ist meines Erachtens „nur“ ein weiterer Impuls für die Dauerfrage nach der Zukunftsfähigkeit der evangelischen Kirchen insgesamt. Trotz zahlreicher Reformbemühungen ist diese Frage noch immer unbeantwortet. In diesem Zusammenhang scheint mir eine grundsätzliche Unterscheidung in der Debatte hilfreich: Die Differenz zwischen den empirischen Erkenntnissen dieser Gottesdienstkrise und ihrem normativen Gehalt.

Wird ein rein empirischen Maßstab anlegt, setzen sich am Ende in einer Gemeinde die Gottesdienst-Angebote durch, die den größten Zuspruch erhalten. Je nach Gemeindeprägung werden das unterschiedliche Leitvarianten sein. 

Auch normativer Charakter

Allerdings geschehen solche Veränderungsprozesse nach wie vor im Kontext kirchlichen Rechts. Geschäftsordnungen regeln Zeitpunkt, Frequenz und agendarische Form verlässlicher Gottesdienstangebote und müssen zum Beispiel in Württemberg prinzipiell genehmigt werden. Auch, wenn hier durch die Etablierung von Erprobungsräumen vieles in Bewegung gekommen ist, machen diese Ordnungen den normativen Charakter bestimmter Gottesdienstangebote sichtbar.

Der Sonntagsmorgengottesdienst macht den grundlegenden Resonanzraum jedes christlichen Gottesdienstes erkennbar: die Auferstehung Jesu Christi am Morgen des ersten Ostertages. Jeder Gottesdienst wiederholt und aktualisiert die Erfahrung der Auferstehung. Allerdings stellt Martin Luther fest: Es liegt in der christlichen Freiheit begründet, sich als christliche Gemeinde auch auf einen anderen Tag zu verständigen.[5]

Das reformatorische Gottesdienstverständnis ist stark von dem theologischen Deutungsrahmen des Gemeinschaftsbegriffs im Gottesdienst bestimmt. Die Confessio Augustana bezeichnet in CA VII die Gottesdienstgemeinschaft als „congregatio“, als Versammlung.[6] Konstitutiv für den Gottesdienst ist die Verkündigung des Wortes Gottes, zu dem sich die christliche Gemeinde versammelt, und zwar immer wieder neu. Hier steht ein aktuales Verständnis christlicher Gemeinschaft im Mittelpunkt. Dagegen dominiert in der lutherischen Theologie von Beginn an der Begriff der „communio“. Die christliche Gemeinschaft ist die Gemeinschaft der Getauften. Der Gottesdienst bildet diese Gemeinschaft ab und macht sie immer neu erfahrbar.[7]

Im Sinne dieses Verständnisses bildet der Gottesdienst die beste Möglichkeit, diese communio erfahrbar zu machen. Die Rede vom Gottesdienst als Mitte der Gemeinde (oder als ihr Herzschlag) hat hier ihre Wurzel.

Empirisch kein Königsweg

Bezogen auf die aktuelle Situation geht es also um die Frage: Wie können Gottesdienste diese Communio der christlichen Gemeinde erfahrbar machen? Empirisch wird das vermutlich keinem Gottesdienstmodell gelingen, gleich welcher Tag, welche Uhrzeit oder liturgische Form gewählt wird. Aber die Reformbemühungen der letzten Jahrzehnte haben eine weitere Entwicklung befördert, die aus eben diesen normativen Erwägungen heraus neu wahrzunehmen ist. Die Zunahme von diversen Gottesdienstangeboten, oft auch Zielgruppengottesdienste genannt, verstärkt die Zentrifugalkräfte und steht in der Gefahr die Communio aufzulösen. Diese Gottesdienste ermöglichen Erfahrungen nur noch inmitten des eigenen Erwartungsportfolios. In Zeiten zunehmender auch kommunikativer Vereinzelung und grassierender Partikularinteressen in Gemeinden ist das kein beruhigender Befund.

Für den Sonntagsgottesdienst heißt das: Ihn leichtfertig aufzugeben, wäre ein Verhängnis, ihn nicht weiter reformieren zu wollen ebenfalls. Wichtig erscheinen mir dabei die Fragen: Wie können die Funktionen, die der Gottesdienst am Sonntagmorgen in der Vergangenheit erfüllte und heute so nicht mehr „funktionieren“, anders erfüllt werden? Wo machen Menschen die Erfahrung von der Einheit des Leibes Christi? Wie kann von einem Gottesdienstangebot eine kulturprägende Kraft ausgehen, auch und gerade für die Menschen, die diese Angebote selbst nicht nutzen, aber darauf Wert legen, dass es sie weitergibt? Wie können die klassischen Orte christlicher Verkündigung, die Kirchengebäude, auch weiterhin „bespielt“ werden?

Die Diskussion um den Sonntagsgottesdienst ist also weit mehr als die Debatte um die Zukunft eines Gottesdienstes. Sie kann Impulse für zahlreiche Veränderungsprozesse geben, in der die Kirche viele liebgewordene Sicherheiten über Bord werfen muss, um in ihrem Kern zukunftsfähig zu bleiben. Daher ist die aktuelle Debatte wichtig. Den hörbaren bilderstürmenden Unterton halte ich dagegen für übertrieben. Bilderstürmischer Eifer hat noch nie ein Problem gelöst. Das zeigt die Kirchengeschichte. Der pointierte Streit um die Zukunft des Sonntagsgottesdienstes ist dringend notwendig. Er muss aber mit Achtsamkeit geführt werden, denn es gibt viele Menschen, die diese Gottesdienste mit viel Kompetenz und Engagement vorbereiten und gerne feiern. 


 

[1] KMU VI - Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaf Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Hg. v. Evangelische Kirche in Deutschland, Hannover 2023,62ff.

[2] https://zeitzeichen.net/node/7965

[3] https://www.zeit.de/2024/21/kirche-gottesdienst-abschaffen-sonntag-religion

[4] Zoom-Gottesdienst Brot & Liebe - www.brot-liebe.net 

[5] Martin Luther, WA 49, 591: “Sondern haben die freiheit, so uns der Sabbath oder Sontag nicht gefelt, mögen wir den Montag oder einen anderen tag in der wochen nemen und einen Sontag daraus machen.”

[6] CAVII - Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Hg. v. Irene Dingel, Göttingen 2014, 103. 

[7] Contoc-Studie - Thomas Schlag/Ilona Nord, Kirche in Zeiten der Pandemie. Erfahrungen - Einsichten - Folgerungen. Einblicke in die internationale und ökumenische CONTOC-Studie, in: DtPfrBl 121 (2021), 737ff.

 

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Foto: Gottfried Stoppel

Ernst-Wilhelm Gohl

Ernst-Wilhelm Gohl (*1963), ist seit 2022 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Vorher war er von 2006 bis 2022 Dekan in Ulm.


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