Einladen oder zulassen?

Kirchlicher Segen im Horizont der mutigen Gnade Gottes
Rembrandt van Rijn: „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (um 1642).
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Rembrandt van Rijn: „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (um 1642).

Welche Logik leitet unser Handeln in den Amtshandlungen, und wie lassen sich verschiedene Logiken verbinden? Beate Hofmann, Bischöfin der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck, über die heutigen Sichtweisen kirchlicher Kasualfeiern und die damit einhergehenden Kirchenbilder.

Kasualien sind derzeit ein Schauplatz für den Streit verschiedener Kirchenbilder. Viele Pfarrpersonen erleben Kasualien als sehr ambivalent: Einerseits kommen sie dabei mit sehr unterschiedlichen Menschen in hochemotionalen Momenten in Kontakt. Sie erleben diese Möglichkeit zur Lebensbegleitung als sinnvoll und befriedigend. Gleichzeitig sind sie mit steigenden Ansprüchen an Kasualfeiern konfrontiert. Das Desiderat der Authentizität und Einzigartigkeit in der singularisierten Gesellschaft schlägt sich im Wunsch nach individuell gestalteten, ganz auf die persönlichen Wünsche eingehenden Kasualfeiern nieder. Ein Pochen auf Zuständigkeiten oder Regeln wie dem Fotografierverbot oder der Taufe im Gemeindegottesdienst werden nicht mehr verstanden. Oft wandern Segensuchende dann ab zu „freien“ Rednern und ihren Angeboten.

Schmerzvoll und enttäuschend

Andererseits verbinden sich mit Kasualien auch Ärger- und Wutgeschichten: Da tritt der Taufvater 14 Tage nach der aufwändig gestalteten Taufe aus und betont im Gespräch: „Das ist überhaupt nicht gegen Sie persönlich gerichtet. Wir müssen halt sparen.“ Die Verknüpfung von Segens- und Mitgliedschaftsfragen führt in Widersprüche, die als schmerzvoll und enttäuschend erlebt werden.

Darum streiten wir im Blick auf Kasualien über die Frage: Lassen wir zu oder laden wir ein? Fragen wir zuerst nach der Kirchenmitgliedschaft, um zu entscheiden, ob jemand getraut, beerdigt oder Taufpate werden kann – das wäre die Zulassung. Oder bieten wir Segen und Begleitung an, ohne Bedingungen zu stellen? Das wäre die Einladung.

Schon länger schwirrt in diesem Zusammenhang durch unsere Kirche der Ruf, über Zugehörigkeit zu Kirche vielfältiger zu denken. Der ehemalige EKD-Vizepräsident Thies Gundlach schrieb schon vor einiger Zeit, der Begriff der Zugehörigkeit erlaube verschiedene Grade der Verbindlichkeit und Intensität der Bindung. „Zugehörigkeit“ würde als offener und freier empfunden als „Mitgliedschaft“. Zugehörigkeit sei „eine Zukunftskategorie, weil sie Engagement und Beheimatung verbindet, ohne zugleich die Frage nach Identifikation und Verantwortung für die Organisation beziehungsweise Institution zu stellen.“ (zz 2018/10)

Die Herausforderung für die Kirche liegt darin, diesem situativ entstehenden Gefühl der Zugehörigkeit Gelegenheit zum Ausdruck zu bieten. In unserer kurhessischen Landeskirche war die Landesgartenschau 2023 so ein Ort. Chor- oder Kunstprojekte, Friedensgebete oder Pilgerwege bieten diese Gelegenheit, für manche auch digitale Communities. Damit entsteht ein Nebeneinander von lebenslang Verbundenen, die treu Kirchensteuer bezahlen, gelegentlich am Gemeindeleben teilnehmen und eine gute Begleitung durch zugewandte Kasualien und Beistand in Krisen erwarten. Daneben gibt es Menschen mit situativen Formen der Zugehörigkeit. Das führt uns in ein Dilemma.

Die evangelische Kirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt in Deutschland braucht die verbindliche Form der Zugehörigkeit und Finanzierung als Basis für eine Struktur der Präsenz, die auch andere Formen der Zugehörigkeit überhaupt erst ermöglicht. Darum forderte Thies Gundlach 2018: „Wir brauchen eine überzeugendere Verhältnisbestimmung zwischen verlässlichen und fluiden Formen der Zugehörigkeit. Denn ohne qualifizierte Theologie, ohne refinanzierte Strukturen, ohne wiederauffindbare (Kirchen-)Orte und erkennbare Rituale wird sich auch keine Zugehörigkeit etablieren.“

Daraus ergibt sich die weitreichende Frage: Halten die, die sich verbindlich zugehörig fühlen, es aus, dass andere in anderen Formen von Zugehörigkeit leben oder erodiert dadurch auch das Modell von dauerhafter Zugehörigkeit mit regelmäßigem Mitgliedsbeitrag?

Diese Frage lässt sich am Beispiel der Erzählung vom verlorenen Sohn reflektieren (Lukas 15,11-32). Das Gleichnis lässt offen, ob der ältere Sohn an seiner Enttäuschung über die väterliche Gnade festhält oder ob er sich auf die bedingungslose Liebe seines Vaters einlassen kann. Können die zwei verschiedenen Logiken in Einklang gebracht werden, die Logik der Treue und die Logik der Gnade?

Logik der Gnade

Die Logik der Treue lebt aus Kontinuität und Berechenbarkeit: Der ältere Sohn hat sich entschieden, auf dem Hof zu bleiben, dort mitzuarbeiten und eigene Wünsche zurückzustellen. Er bleibt dem Vater und dem Familienerbe treu. Die Logik der Gnade zeigt sich in der grenzenlosen Liebe des Vaters zu seinen Kindern: Dass der jüngere Sohn zurückkehrt, ist ihm wichtiger als Schuld und Ökonomie. „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (15,20)

Die Logik der Treue kann auch ohne Gnade existieren, doch dann verliert sie ihr Einfühlungsvermögen. Die Logik der Gnade hofft darauf, dass die Treuen die Wiederannäherung der Distanzierten mittragen. Der jüngere Sohn kann nur zum Vater und in die Hofgemeinschaft zurückkehren, weil dieser Hof von den Treuen weitergeführt wurde.

Die Treuen werden dies nur bejahen, wenn ihnen ihre lebensbegleitenden Feste erhalten bleiben – sonst ist ihr Zorn erwartbar: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir (…), und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre“, murrt im Gleichnis der ältere Sohn. (15,29)

Wie können diese unterschiedlichen Gruppen eine Haltung gegenseitiger Akzeptanz finden, statt sich voneinander abzugrenzen und um Anteile pastoraler Aufmerksamkeit zu rangeln? Können wir die Logik der Treue als Rückgrat der Kirche so gestalten, dass wir uns gleichzeitig in der Verkündigung ausrichten in der Logik der Gnade? Können wir Trost und Segen ohne die Erwartung anbieten, Mitglieder nach der Logik der Treue zu gewinnen?

Die Logik der Treue verlangt weiterhin Mitgliedschaft in der Kirche mit der Pflicht zur fairen Mitfinanzierung, sei es als Kirchensteuer oder durch verlässliche Alternativmodelle. Die Logik der Gnade mit ihrer Zugehörigkeit „von Fall zu Fall“ kann diese Grundfinanzierung durch freiwillige Beiträge ergänzen, etwa durch Spenden und kleinere Beiträge zu Fördervereinen.

In meiner theologischen Perspektive muss in einer auf das Evangelium bezogenen Kirche die Logik der Gnade prioritär sein. Denn sie steht am Anfang der Beziehung zu Gott. Gottes Gnade ist bedingungslos und voraussetzungslos. Im Unterschied zur Rede von Liebe, die von Resonanz und Gegenseitigkeit lebt, ist Gnade etwas Einseitiges: Sie wird geschenkt, ohne Anspruch und Gegengabe. Das ist das Risiko der mutigen Gnade Gottes, die im segnenden Handeln der Kirche Gestalt gewinnt.

Besonders drängend stellt sich diese Frage bei der Taufe. Andere Kasualien können im Sinn der Einladungslogik mit fluider Zugehörigkeit gelebt und gestaltet werden. Die Taufe ist in besonderer Weise vielschichtig. Die Taufe ist nicht nur Segenshandlung, sondern auch Sakrament. Glaube und Zeichenhandlung, Zuspruch Gottes und Antwort des Menschen sind in besonderer Form verknüpft und haben besondere Folgen: die Zugehörigkeit zum Leib Christi und die Mitgliedschaft in der Kirche.

Durch die Entscheidung für die Kindertaufe hat die evangelische Kirche seit Martin Luther die Taufe als Handeln auf Hoffnung hin gestaltet. Die Antwort des Menschen auf Gottes Zuspruch erfolgt stellvertretend durch Eltern und Paten. Im Vordergrund steht die bedingungslose Annahme und Zuwendung Gottes.

Was bedeutet das für die Gestaltung von Taufen? An der Taufhandlung selbst verändert sich durch veränderte Kontextbedingungen nichts. Die Taufgespräche etwa bei Drop-in-Taufen (vergleiche zeitzeichen 11/2022) und Tauffesten zeigen: Der Taufwunsch ist bei den Menschen in einer inneren Vorbereitung lange gereift, bevor sie sich auf den Weg machen. Spannend ist die Frage der Mitgliedschaft. Durch die Taufe wird ein Mensch Teil der Kirche Jesu Christi in ihrer unsichtbaren wie in ihrer sichtbaren Gestalt. Dass daraus eine konkrete Form der Mitgliedschaft mit Pflichten und Rechten, Zugehörigkeit zu einer Parochie und Kirchensteuern folgt, hat sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt. Diese Bedingungen sind aber nicht theologisch zwingend.

Die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) zeigt deutlich: Zugehörigkeit entsteht nicht durch Übereinstimmung in der Lehre, sondern in Beziehungen, durch Engagement wie im Kirchenasyl, im Seniorencafé, im Chor oder in der Konfiarbeit. Glaubens-Bildung ist der zweite, gewiss notwendige Schritt. „Belonging before believing“ nennt das die anglikanische Kirche: Die meisten gehören erst zu kirchlichen Gemeinschaftsformen, bevor sie sich mit Glaubensfragen beschäftigen.

Kirchliche Bindung erwächst in vielen Fällen nicht mehr in den Familien und fern vom Wohnort. Sie entsteht da, wo Kirche Gast wird, sich fremden Bedingungen aussetzt und auch wieder geht. Kirchliche Bindung bildet sich, wo Kirche vom anderen nicht verlangt „Werdet wie wir“, sondern ohne Vorbehalte auf Menschen zugeht und das Evangelium verkündigt, diakonisch handelt und segnet.

Eine veränderte Kasualpraxis wird die parochiale Kirchengemeinde in ihrer bisherigen Form nicht retten. Einladende Taufpraxis wird auch die sinkenden Mitgliedszahlen nicht ausgleichen. Aber die Begleitung von Lebensschwellen und die Weitergabe von Gottes Segen sind wesentliche Kontaktflächen zu Kirche. Hier kann sich zeigen, wie Gott Menschen begegnet: mit einem Horizont, der über die eigene Geschichte hinausweist, in einer Kraft, die über die eigene Kraft hinausgeht.

Wie gehen wir mit dem Schatz des Segens um? Hüten wir ihn mit regulierten Zugangsmöglichkeiten, oder teilen wir ihn freigiebig, weil die Menschen diesen Schatz brauchen und er uns genau dazu anvertraut ist?

Wenn wir das segnende Handeln der Kirche als eine zentrale Aufgabe der Lebensbegleitung begreifen, dann hat das Folgen, zum Beispiel für die Rolle und Arbeitsgestaltung von Pfarrpersonen. Persönliche Kasualgestaltung ist aufwändig. In der Muster-Dienstbeschreibung für den Gemeindepfarrdienst der EKKW sind 8,5 Stunden für einen Gottesdienst und 5 Stunden für eine Amtshandlung einschließlich Seelsorge vorgesehen. Wenn wir eine Kasualie als zentrale Kontaktfläche für 89 Prozent unserer Kirchenmitglieder ernst nehmen, sollten sich unsere Pfarrpersonen dafür mehr Zeit nehmen dürfen. Das können sie nur, wenn sie an anderer Stelle weniger Zeit aufbringen müssen.

Die zunehmende Zahl an nicht besetzten Pfarrstellen wird uns zusätzlich herausfordern. Neben vernetzter Praxis in Kooperationsräumen erproben einige Landeskirchen derzeit das Modell von Kasualagenturen. Sie sind ein Versuch, Segen vielfältig und leicht zugänglich zu teilen.

Wer eine Amtshandlung außerhalb seiner Wohnortgemeinde wünscht, benötigt dafür ein „Dimissoriale“. Wir sollten den Umgang mit dem Dimissoriale überprüfen und eine möglichst unbürokratische Handhabung entwickeln, es vielleicht sogar abschaffen! 

Hohe Resonanz

Fragen der Gestaltung von Kirchenmitgliedschaft können Landeskirchen nicht allein entscheiden, das ist eine gesamtdeutsche und ökumenische Aufgabe. Aber jede Landeskirche kann „Zugangsregeln“ zu Kasualien setzen und über finanzielle Fragen nachdenken, zum Beispiel über eine finanzielle Regelung für „Nichtkirchensteuerzahler“ und über passende Spendentools.

Die Taufkampagne der EKD im vergangenen Jahr hat eine ungewöhnlich hohe Resonanz erfahren. Mit solchen Aktionen zeigen wir: Wir ziehen uns als Kirche nicht zurück in die Wagenburg der Hochverbundenen und feiern mit engen Mitgliedschaftsregeln Feste für die, die so dazugehören wollen. Wir gehen hinaus in den öffentlichen Raum, bieten Begegnung mit dem Segen Gottes und stellen uns missional in das Risiko der Gnade Gottes, die verschenkt, ohne zu erwarten.

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