Das Heldenhafte des Königsbergers
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht …: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Mit diesem Kernsatz der Philosophie von Immanuel Kant setzten sich der Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann in einer Soiree in der Hauptstadt auseinander. Und entfalteten ebenso wie das staunende Publikum in all den schweren Gedanken Kants auch die Poesie seiner Ideen und Worte.
Ursprünglich sollte es eine geschlossene Soiree sein, und möglichst klein. Aber wenn Daniel Kehlmann und Omri Boehm über den Jahrtausenddenker Immanuel Kant (1724–1804) sprechen, ist das natürlich kaum durchzuhalten. So wurde der geschlossene Abend immer offener für viele Interessierte, und das lag nicht etwa an den leckeren Canapés, dem edlen Wein oder dem erwartbar gediegenen Ambiente des Ullstein-Verlagshauses an der Friedrichstraße in Berlin, nahe der Spree. Nein, Kehlmann, der derzeit wohl erfolgreichste Literat deutscher Zunge, dessen Bücher seit Die Vermessung der Welt vor bald 20 Jahren zuverlässig die Bestsellerlisten für Belletristik bis ganz nach oben klettern, ist immer ein Ereignis. Eines, das man eben erlebt haben muss. Gerade weil der 49-jährige Deutsch-Österreicher stets so jungenhaft-unprätentiös daherkommt. Kehlmann ist ein häufig im Gespräch kurz auflachender Intellektueller, der bis an sein Lebensende als hoffentlich alter Herr wohl wie ein Konfirmand aussehen wird, den man aus Versehen in einen Anzug gesteckt hat.
Dazu gesellte sich an diesem Winterabend der deutsch-israelische Philosophieprofessor Boehm. Der lässig-elegante Mann ist wenige Jahre jünger als Kehlmann, wurde in Haifa geboren und lehrt in New York. Zuletzt erschien von Boehm das Buch Radikaler Universalismus, das sich mit originellen und klugen Überlegungen der weltweiten Debatte um Identitätspolitik widmete. Während seines Wehrdienstes in Israel diente Boehm übrigens beim Geheimdienst Shin Bet, was an Coolness kaum zu überbieten ist, wenn man denn eine grundsätzliche Sympathie für die einzige (und von innen wie außen so bedrohte) Demokratie im Nahen Osten hat. Kehlmann und Boehm also, was für ein Paar! Ein intellektuelles Dreamteam, kann man sagen. Aber sind die beiden auch ausreichend kompetent und eloquent genug, um sich ausgerechnet über Kant öffentlich auszutauschen? Über einen Denker also, dessen Gedanken und Sprache nicht gerade leicht zu konsumieren sind, und das in möglichst nachvollziehbarer, vielleicht sogar unterhaltsamer Weise?
Nun, diese keineswegs abwegigen Befürchtungen eines drögen akademischen Abends verflogen im Verlagshaus sehr schnell. Denn Kehlmann und Boehm haben schon eine intensive Erfahrung im fesselnden Austausch über Kant: Im Propyläen-Verlag, der zu Ullstein gehört, haben die beiden Autoren gerade ihren Gesprächsband Der bestirnte Himmel über mir vorgelegt – und das war natürlich der Anlass dieses Abends. In diesem „Gespräch über Kant“, so der Untertitel des Buches, entfalten Boehm und Kehlmann das Leben, das Denken und die Wirkung des Königsberger Philosophen, und dies, also der Dialog über ein philosophisches Thema, ist ja seit Platon eine durchaus angemessene Form. Zugleich glückt dieser Dialog von Kehlmann und Boehm auf so eine leichte, gleichwohl tiefgründige Art, dass man fast versucht wäre, Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) mal wieder in die Hand zu nehmen, also sein ebenso schwieriges wie zugleich Epoche machendes Hauptwerk in Sachen Erkenntnistheorie.
Gedankliche Übersetzungsleistung
Und das, obwohl schon so viele Generationen an Leserinnen und Lesern ob Kants altertümlich-komplizierten Stils nur mühsam einen Zugang in seine Gedanken- und Sprachwelt gefunden haben. In Der bestirnte Himmel über mir gelingt Kehlmann und Boehm eine enorme sprachliche und gedankliche Übersetzungsleistung: Sie holen Kants Sprache und Ideen ins Heute, was alles andere als leicht und selbstverständlich ist. Klar, Boehm ist als Akademiker, der jungen Leuten Philosophie lehrt, qua Amt sicherlich zu dieser Übersetzungsarbeit ins Heute verpflichtet. Und Kehlmann? Der war, wie er am Anfang des Abends erklärte, dabei, über das Erhabene bei Kant zu promovieren, als der große literarische Erfolg ihn einholte – weshalb er seine Dissertation über Kant nicht abschloss. Und die Frage ist: Soll man das bedauern?
Es war Kehlmann, der denn auch zu Beginn des Gesprächs mit Boehm genau mit seinem Studium und der nicht abgeschlossenen Dissertation zu Kant begann. Ihm sei, so der Bestsellerautor, schon während des Philosophiestudiums zweierlei aufgefallen: Wie sehr Kant sein, also Kehlmanns Denken verändert habe – aber auch, wie seltsam es sei, dass viele Fragen noch heute philosophisch als offen gälten, obwohl Kant sie doch eigentlich bereits vor Jahrhunderten geklärt habe. Zugleich nutzte Kehlmann schon in seinen ersten Sätzen wie im gemeinsamen Buch mit Boehm einen Zugang zum großen Aufklärer, der sowohl viel von ihm erklärt wie menschliches Interesse weckt: Kehlmann erzählte von Kants Leben. Tatsächlich ist das sinnvoll, denn hier ist schon die erste Pointe versteckt: So ist der Königsberger im Allgemeinwissen verankert und war lange verschrien als pedantischer, leicht zwanghafter Mensch, der einem freudlos-preußisch-strikten Lebenswandel gefolgt sei, fast nach der Stechuhr. Berühmt sind Kants Spaziergänge, die so regelmäßig zwischen 16 und 17 Uhr auf dem fast immer gleichen Weg durch Königsberg stattfanden, dass man angeblich die Uhr danach stellen konnte. Motto: Ich sehe Kant an dieser Stelle, es muss genau 16.30 Uhr sein.
Kehlmann aber wendete im Gespräch mit Boehm diese Polemik gegen Kant ins Nachvollziehbar-Verständliche, ja gar ins „Heldenhafte“, wie er sagt: Kant habe eben gewusst, dass er angesichts der im Vergleich zu heute katastrophalen Medizin des späten 18. Jahrhunderts penibel auf seine Gesundheit habe aufpassen müssen, um nicht durch einen unsteten Lebenswandel vielleicht recht früh aus dem Leben scheiden zu müssen. Warum? Weil der große Philosoph, so Kehlmann, unbedingt seine Hauptwerke, eben unter anderem die Kritik der reinen Vernunft, habe fertigstellen wollen. Und Kant habe gewusst: Seine eigene Lebenszeit war nach langen Jahren des Vor- und Durchdenkens knapp. Ja, im Grunde könne das für Generationen voraussichtlich niemand anderes, wenn er es nicht schaffe, so tickte Kant. Insofern war Kants auf den ersten Blick pedantisch-spießiger, ja fast öder Alltag ein Dienst, nämlich einer an der Menschheit und ihrem Fortschritt, wenn man will.
Zunehmende Bewunderung
Ist das nicht etwas zu pathetisch? Vielleicht. Aber es ging Kant eben immer um alles, um all unser Denken, um die ganze Welt, ja das All, das ganze Universum – und die Rolle des Menschen in ihm. Berühmt ist diese Stelle in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Sie hat dem Boehm-Kehlmann-Buch auch seinen Namen gegeben, gerade weil sie so zentral in Kants Denken ist: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht …: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. … Ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.“ Boehm sagt dazu in dem Dialogbuch mit Kehlmann und erläuterte dies auch am Abend im Ullstein-Verlagshaus: „Auf der einen Seite sind wir Teil des natürlichen Netzwerks und als solcher völlig überwältigt von der unendlichen Mächtigkeit des Universums … Im Verhältnis zu dieser Mächtigkeit sind wir völlig unbedeutend, im Verhältnis zu dieser Unendlichkeit sind wir tatsächlich unendlich klein. Und unendlich machtlos.“
Aber, und das ist der Clou des Ganzen: Kant dreht in seinem Denken die Kleinheit des Menschen in etwas Großes, wie Boehm erklärt: „Gerade wenn man der eigenen Bedeutungslosigkeit und Einsamkeit in dem schweigenden unendlichen Universum innewird, entdeckt man auch ein Vermögen in sich, das tatsächlich größer ist als das Ganze der Natur – und das ist die Macht und die Bedeutung der Freiheit und der moralischen Integrität, die nicht ‚bloß‘ unendlich, sondern absolut ist.“ Und Boehm fährt fort: „In der gewaltigen See können wir also ertrinken, der bestirnte Himmel konfrontiert uns mit unserer eigenen Heimatlosigkeit und Bedeutungslosigkeit, aber niemand zerstört uns unsere moralische Integrität, und der Punkt ist, dass es keine Macht gibt – wenn Kant recht hat –, die unsere moralische Integrität zerstören könnte.“
In der unendlichen Kleinheit des Menschen entdeckt Kant also zugleich dessen eigentliche Größe. Und es dürfte kein Zufall sein, dass diese recht oft zitierte Stelle ob der Kühnheit des Gedankens, recht gelesen, zugleich eine gewisse poetische Kraft hat. Diese Kraft ist auch über Jahrhunderte hinweg so groß, dass Boehm, wie er an diesem Winterabend erzählte, bei der Trauung eines Paares aus seinem Philosophiekurs in den USA gebeten wurde, genau diese Sätze über den „bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ vorzutragen – was für eine Geschichte! Es gab beim Kehlmann-Boehm-Gespräch in Berlin viele dieser wunderbaren Momente des Staunens. Und natürlich ging es im Laufe des Dialogs auch um Kant und Gott. Dabei räumte Boehm mit dem schnellen oder gängigen Vor-Urteil auf, der alte Philosoph habe Gott beziehungsweise die Idee eines Gottes philosophisch endgültig getötet, oder vorsichtiger formuliert: gedanklich unmöglich gemacht. Nein, Kant hat, so Boehm, per strenger Logik lediglich die Vorstellung erledigt, man könne Gott irgendwie philosophisch „beweisen“. Der Königsberger räumte alle Gottesbeweise gedanklich ab. Und weiter: Kant widerlegt das Konzept „Gott“ zwar nicht, betont aber, dass wir „Gott“ nicht als Stütze unserer Moral brauchen. Die Moral finden wir vielmehr in uns selbst, und das macht, siehe oben, eben die Größe des Menschen aus. Eine Größe allerdings, die zugleich eine Verpflichtung oder vielmehr eine Selbstbindung ist – erinnert sei hier etwa an Kants berühmten „Kategorischen Imperativ“.
Poetische Magie
So verflog der Abend mit viel Anregung und einem mannigfachen Lernen der angenehmsten Art rasch. Und es gehörte zur völlig unerwarteten poetischen Magie dieser Stunden an der Friedrichstraße, dass zum Ende hin ein Zuhörer aus dem Kopf ein überaus passendes Gedicht des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus (1874–1936) über Kant fast komplett zitierte – das Kehlmann übrigens mit Zeilen auch aus seiner Erinnerung noch ergänzte. Es heißt „Zum ewigen Frieden“ und nimmt den Titel eines wichtigen späten Werkes von Kant (1795) auf. Das Gedicht von Karl Kraus kann sowohl als ein leicht ironisch gewürztes Loblied auf Kant gelesen werden. Aber auch als eines, das gerade im Namen von Kant jeden Krieg und jegliches deutsches Großmachtdenken verurteilt. Darin heißt es:
„Nie las ein Blick, von Tränen übermannt,
ein Wort wie dieses von Immanuel Kant.
…
Weh, wenn im deutschen Wahn die Welt verschlief
das letzte deutsche Wunder, das sie rief!
Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg.
Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.
Doch über jedes Königs Burg und Wahn
schritt eines Weltalls treuer Untertan.
…
Und seines Herzens heiliger Morgenröte
Blutschande weicht: daß Mensch den Menschen töte.
Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt:
Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!“
Information
Omri Boehm/Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir: Ein Gespräch über Kant. Propyläen Verlag, Berlin 2024, 352 Seiten, Euro 26,–. https://zeitzeichen.net/node/11061
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.