Irgendwann falsch abgebogen
So hart wurde noch selten über einen Weltgebetstag gestritten wie in diesem Jahr. Massive Antisemitismusvorwürfe gegen die Liturgie aus Palästina standen im Raum. Am 1. März haben nun doch Hunderttausende in Deutschland den Weltgebetstag gefeiert. Die Frage stellt sich: Haben sich all die Diskussionen überhaupt gelohnt? Die Religionswissenschaftlerin und Journalistin Katja Dorothea Buck blickt zurück.
Dass ein Weltgebetstag (WGT) aus Palästina in Deutschland nicht einfach zu feiern sein würde, war den Verantwortlichen von Anfang an klar. 1994 war schon einmal die Liturgie aus Palästina gekommen. Und auch damals wurde mit harten Bandagen darüber gestritten, ob man in Deutschland die Formulierungen palästinensischer Frauen in einem Gottesdienst einfach übernehmen kann oder ob die historische Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk nicht doch eine Alternativliturgie erfordert, in der auch israelische Perspektiven aufleuchten. Damals entschied sich das deutsche Komitee des WGT dagegen und stellte sich hinter die Gottesdienstordnung der palästinensischen Schwestern. Protagonisten aus dem jüdisch-christlichen Gespräch wie zum Beispiel der Denkendorfer Kreis legten eigene Gottesdienstordnungen vor. Am Ende standen die Frauen in den einzelnen Gemeinden vor der Frage, nach welcher Liturgie sie nun feiern sollten. Im Zweifelsfall entschied die jeweilige Pfarrperson.
Auch in diesem Jahr waren zwei verschiedene Varianten im Umlauf. Die „originale“, welche palästinensische Christinnen bereits 2021 geschrieben hatten, und die „überarbeitete“, die das deutsche WGT-Komitee nach Antisemitismusvorwürfen mit Veränderungen und Kontextualisierungen Anfang Januar 2024 neu herausgegeben hat.
Deutscher Sonderweg
Der Deutsche Koordinierungsrat für die Gesellschaften des christlich-jüdischen Gesprächs (DKR) und einzelne Theologen hatten Ende Oktober 2023 massive Kritik gegen den Weltgebetstag erhoben und die beiden großen Kirchen aufgefordert, sich von der ökumenischen Laienbewegung zu distanzieren. Sie meinten, in der Liturgie der palästinensischen Frauen „Muster christlichen Antijudaismus“ entdeckt zu haben. Sie warfen dem WGT „eliminatorischen Antisemitismus“ vor und sahen Anzeichen für eine „Dämonisierung Israels“. Offenbar hatte der 7. Oktober für sie alles, was aus Palästina kam, verdächtig gemacht. Denn vor dem Massaker der Hamas an israelischen ZivilistInnen hatte niemand all dies in der Liturgie entdeckt.
Die Kirchen gaben den Druck weiter an das WGT-Komitee und forderten, die bereits vieltausendfach gedruckte und an alle Gemeinden versendete Gottesdienstordnung zurückzuziehen und eine Neufassung vorzulegen, die auf die Ereignisse des 7. Oktober und auf die Vorwürfe des DKR eingeht. Das deutsche WGT-Komitee hätte sich stur stellen und darauf verweisen können, dass man nicht so einfach aus der weltweiten ökumenischen Bewegung des WGT ausscheren könne. Kernidee des WGT ist schließlich, dass rund um den Globus die Stimmen der Frauen, welche die Liturgie für das jeweilige Jahr schreiben, so authentisch wie möglich zu Gehör gebracht werden. Das ist schon seit fast hundert Jahren so. Und mittlerweile feiern weltweit Millionen von Frauen (und auch ein paar Männer) in mehr als 150 Ländern den WGT. Ein deutscher Sonderweg kommt da nicht gut an.
„Antisemitische Muster“
Doch die Vorwürfe gegen den WGT waren so massiv, dass das deutsche Komitee wenig Chancen sah, gegenzuhalten. Wem in Deutschland Antisemitismus vorgeworfen wird, der hat ein Problem – egal wie viel an den Vorwürfen dran ist. Und wenn man die Dinge einmal genauer anschaut, dann war im Fall des WGT so gut wie nichts dran: Ein Vorwurf wurde am Motto-Bild des WGT festgemacht. Die aus Gaza stammende palästinensische Künstlerin Halima Aziz hatte drei betende Frauen gemalt, denen sie als Schmuck kleine Schlüsselchen an Ohren und um den Hals gehängt und in Hände und Haar Mohnblumen gemalt hatte. Schlüssel und Mohnblume sind gängige Symbole des palästinensischen Widerstands und tauchen überall in der palästinensischen Kunst auf. Sie stehen einmal für die Hoffnung auf Rückkehr der 750 000 Palästinenserinnen und Palästinenser, die zwischen 1947 und 1949 im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels vertrieben wurden oder geflohen sind. Das Rot der Mohnblume wiederum steht für das vergossene Blut derjenigen, die für die Freiheit Palästinas ihr Leben gelassen haben.
Die beiden Theologen Günter Thomas und Thomas Wessel verknüpften beide Symbole mit dem Hamas-Terror und behaupteten, dass es der Künstlerin nicht allein um die Gründung eines palästinensischen Staates, sondern um die Auslöschung des Staates Israel gehe. Der WGT würde antisemitische Muster bedienen, wenn er dieses Bild weiter verwende. Gerüchte, Halima Aziz habe sich direkt nach den Anschlägen vom 7. Oktober in den sozialen Medien „Hamas-freundlich“ geäußert, wurden von verschiedenen Seiten gestreut. Sie konnten weder belegt noch ausgeräumt werden.
Das deutsche WGT-Komitee wollte auf der sicheren Seite sein und zog das Bild zurück. Alternativ wurde das unverfängliche Foto eines Olivenzweigs vor blauem Himmel angeboten. Dass manche Gemeinden das originale Motto-Bild von Halima Aziz dennoch verwendeten, konnte damit nicht verhindert werden. Dafür ist der Weltgebetstag zu sehr Basisbewegung. Wenn man sie lässt, entscheiden die Frauen in den Gemeinden nämlich gerne selbst, wie sie den Gottesdienst feiern.
Ein weiterer Vorwurf des DKR an den WGT lautete, dass in der Liturgie nicht explizit erwähnt werde, dass Jesus als Jude geboren wurde und als solcher gelebt und gelehrt hat. Auch dass der Psalm 85 nicht als ein Gebet aus jüdischer Tradition eingeführt wurde, wurde bemängelt. Sicherlich, die Mechanismen eines 2000 Jahre alten christlichen Antijudaismus, der die eigenen jüdischen Wurzeln verschleiert oder abwertet, gehören zu den subtilsten und wirksamsten Werkzeugen des europäischen Antisemitismus. Sich ihrer bewusst zu sein, ist umso wichtiger. Doch wenn selbst in den allermeisten Gottesdiensten in Deutschland die jüdischen Wurzeln des Christentums als selbstverständlich vorausgesetzt und deswegen nicht immer betont werden, warum sollte dies nun bei einer Liturgie aus Palästina unbedingt gemacht werden? Unterstellt man etwa den Palästinenserinnen, sie würden dies bewusst unterschlagen? Das WGT-Komitee jedenfalls wollte auch hier auf der sicheren Seite sein und fügte entsprechende Passagen und Ergänzungen ein.
Sprachlich wurde ebenfalls einiges geglättet, oder besser gesagt, es wurde alles beseitigt, was in sensiblen deutschen Ohren als antisemitisch oder israelfeindlich gehört werden könnte. So heißt es etwa über die Männer, die den Sarg der bei einem Presseeinsatz erschossenen Journalistin Shireen Abu Aqleh trotz Warnschüssen durch die aufgebrachten Menschenmassen trugen: „Sie ließen sich von den israelischen Streitkräften nicht einschüchtern.“ Daraus wurden in der Bearbeitung Männer, „die den Sarg von Shireen auf ihren Schultern trugen trotz aller Widrigkeiten und Einschüchterungen.“ Die israelischen Streitkräfte waren auf einmal verschwunden.
Eine Fürbitte heißt im Original: „Wir beten besonders mit den palästinensischen Familien, deren Häuser von den israelischen Behörden abgerissen werden.“ Daraus wurde eine Fürbitte für palästinensische Familien, „deren Häuser zerstört wurden oder nicht mehr sicher sind.“ Wer da die Bagger schickt, wurde nicht mehr erwähnt. Dafür wird Gott ganz allgemein gebeten, „dass Bedrohung und Zerstörung enden und Gerechtigkeit einkehrt“. Im Original stand noch: „Lass dieses zerstörerische Vorgehen ein Ende finden und die Familien Gerechtigkeit erfahren.“
Immer dann, wenn die Täter in der palästinensischen Liturgie als israelisch benannt werden, wählte das WGT-Komitee eine abstraktere, neutralere Formulierung. Braucht es das wirklich? Es ist schließlich Fakt, dass israelische Soldaten 1948 Palästinenser vertrieben haben, dass es israelische Behörden sind, die immer wieder entscheiden und durchsetzen, dass Häuser von Palästinensern wegen fehlender oder fraglicher Lizenzen zerstört werden. Und es war ein israelischer Soldat, der Shireen Abu Aqleh erschossen hat. Das gibt mittlerweile sogar das israelische Militär selbst zu.
Es sind diese vielen kleinen sprachlichen Veränderungen in der Liturgie, die mehr über uns in Deutschland aussagen, als dass sie die palästinensische Wirklichkeit widerspiegeln. Genau das hatte auch die palästinensischen Frauen verletzt. In einem offenen Brief schrieben sie Ende Januar an das deutsche WGT-Komitee, dass sie sich übergangen fühlen, bevormundet, dass es nicht mehr ihre Worte seien, mit denen nun in Deutschland der WGT-Gottesdienst gefeiert werden soll.
Es ist nicht das erste Mal, dass den deutschen Kirchen, insbesondere den evangelischen, vorgeworfen wird, im Nahostkonflikt auf einem Auge blind zu sein. Auch bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe im Sommer 2022 sorgte die Haltung der EKD zu einer Stellungnahme zum Nahostkonflikt für Unmut, weil die EKD als zahlungskräftigste Mitgliedskirche ein wortgewaltiges Veto einlegte, um zu verhindern, dass das Wort „Apartheid“ im Zusammenhang mit Israel genannt wird. Dies hatte eine Mehrheit der ÖRK-Kirchen gefordert. Der Verweis, dass wir in Deutschland nun mal eine historische Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk haben, ist zwar richtig, löst in ökumenischen Kreisen aber nur noch genervtes Augenrollen aus. „Die Deutschen mit ihrem ewigen Schuldkomplex“, heißt es dann. Denn mittlerweile wird die Haltung der deutschen Kirchen als Blockade wahrgenommen, als feige Augenwischerei, sich der brutalen Realität nicht stellen zu wollen, in der die Palästinenser leben.
Spätestens seit dem 7. Oktober müsste allen Beteiligten, ob sie auf israelischer oder palästinensischer Seite stehen, klar geworden sein, dass es so nicht weitergehen kann. 75 Jahre dauert dieser Konflikt nun schon. Und in keinen Konflikt auf der Welt wurde mehr Energie und Geld gesteckt, um ihn zu lösen. Doch wohin hat all dieses Engagement geführt? Nichts und niemand hat verhindert, dass das schlimmste Massaker an Jüdinnen und Juden nach dem Holocaust stattfinden konnte. Gleichzeitig sterben mehr Palästinenserinnen und Palästinenser in dem Konflikt denn je. Was hat die internationale Gemeinschaft all die Jahre eigentlich getan? Irgendwo müssen wir doch alle miteinander falsch abgebogen sein!
Versöhnung vernachlässigt?
Eine muslimische Friedensaktivistin hatte bei einem gemeinsamen Kaffee in Jerusalem im vergangenen Frühling dafür eine einfache Erklärung. Das war noch vor dem 7. Oktober. Aber schon damals war klar, dass es so nicht weitergehen kann. Sie verwies darauf, dass alles Geld und alle Energie in Projekte der humanitären Hilfe und in Menschenrechtsarbeit geflossen seien, was man sicher alles brauche. Sträflich vernachlässigt worden seien aber echte Versöhnungsprojekte, also Prozesse, bei denen Menschen lernen, den jeweils anderen als Menschen wahrzunehmen mit all seinen Ängsten, Verletzungen und Traumata, erklärte sie. Weder die Menschen in Israel und Palästina noch die internationale Gemeinschaft glaubten daran, dass eine Versöhnung zwischen Juden und Arabern möglich sei. Dabei sei dies doch die einzige Lösung des Konflikts.
Info
Lesen Sie zu diesem Thema auch Günther Thomas: Illusionäre Hoffnung – Warum der Weltgebetstag den Nahostkonflikt befeuert und nicht befriedet. www.zeitzeichen.net/node/11029
Katja Dorothea Buck
Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren zum Thema Christen im Nahen Osten, Ökumene und Dialog.