Erklärungsbibeln haben eine lange Geschichte. Schon die erste Lutherbibel von 1534 enthält Vorreden zu größeren Abschnitten und einzelnen Schriften, Marginalien, Herkunftsangaben am Ende der Briefe, später dann auch die Hervorhebung von so genannten Kernsätzen. Dieser immer weiter anwachsende Metatext führt schließlich zur Entstehung ein neues Genres, das in der Erklärungsbibel von Daniel Cramer (Stettin 1627) zu erster Blüte und in dem opulenten Werk von Christoph Matthäus Pfaff (Tübingen 1729) zu höchster Vollendung gelangt – ausgestattet mit Skizzen, Karten, Querverweisen, lexikalischen Erläuterungen, Tabellen und sogar einer ersten Synopse.
In dieser Ahnenreihe steht auch die traditionsreiche Stuttgarter Erklärungsbibel, die 1992 (mit dem Luthertext von 1984) erstmals erschien. Ihr ging bereits die Jubiläumsbibel von 1912 voraus, der sich das Stuttgarter Biblische Nachschlagewerk als gehaltvolle Ergänzung hinzugesellte. Die jüngste Auflage der Stuttgarter Erklärungsbibel von 2023 basiert auf dem revidierten Luthertext von 2017 und unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen auf vielfältige Weise. Der Metatext dieser modernen Ausgabe ist völlig neu konzipiert und spiegelt den jüngsten Stand exegetischer Forschung. Erstmals steht ein Essay über die Bibel als Ganze voran, der Altes Testament, Neues Testament und Apokryphen sowie die jüdische und die christliche Bibel einfühlsam zueinander in Beziehung setzt. Außer den drei Hauptteilen sind auch den großen Schriftengruppen sowie jedem einzelnen Buch kompakte Einführungen vorangestellt, die Einleitungswissen mit gediegenen theologischen Durchblicken verbinden. Gliederungen und Überschriften folgen Luther 2017.
Das Herz des Projektes aber schlägt am vernehmlichsten in den Erläuterungen, die den Bibeltext nach Bedarf unterbrechen und sich (in Petitdruck sichtbar abgesetzt) in die fortlaufende Lektüre einschalten. Sie betreffen nicht nur schwierige Wendungen oder historische Zusammenhänge, sondern leisten insgesamt wertvolle Hilfestellungen für ein Gesamtverständnis des jeweiligen Textes. Ein kleiner Apparat am Seitenende notiert die wichtigsten Querverweise, um die intertextuelle Vernetzung der biblischen Schriften nachverfolgen zu können. Besondere Qualität zeichnet die Anhänge und Beigaben aus. Die Zeittafel von der Königszeit bis zum Bar-Kochba-Aufstand erscheint gegenüber den Vorgängern in deutlich verfeinerter Gestalt. Maße, Gewichte und Geldwerte werden vollständig aufgelistet sowie mit Belegstellen und Umrechnungen versehen. Die umfangreichen Sach- und Worterklärungen (97 Seiten) bieten ein Bibellexikon en miniature.
Einem besonderen Anliegen von Luther 2017 verdankt sich die Einführung „Zur Textüberlieferung der Bibel“. Was Archäologie und Bibelwissenschaften verbindet, kommt anhand ausgewählter Themen wie Methodik, Epocheneinteilung, Epigraphik, Ikonographie zur Sprache. „Wo finde ich was?“ stellt ein kleines Vademecum vor allem zu zentralen theologischen Sachverhalten zusammen; das anschließende Stichwortverzeichnis ermöglicht es, punktgenau im Bibeltext zu navigieren. Informationen „Zur Schreibung der Eigennamen“ klären über die ökumenischen Richtlinien sowie davon abweichende Besonderheiten auf. Mit den abschließenden Karten und Skizzen wird schließlich noch ein kleiner Bibelatlas nachgeschoben: neun Karten zur gesamten Zeittafel, fünf zur Baugeschichte Jerusalems, drei zur Rekonstruktion des Tempelareals, dazu vier durch ein Ortsregister erschlossene farbige Karten der alten Welt.
Aus der Fülle an Informationen springt schon beim flüchtigen Durchblättern die eine oder andere exegetische Miniatur ins Auge, wie etwa in der Einführung zum Johannesevangelium. Theologie und Literaturwissenschaft gehen Hand in Hand. Mit großer Selbstverständlichkeit hat das christlich-jüdische Gespräch Eingang in die Erklärungen gefunden. Theologische Arbeit und kirchliche Wirklichkeit befinden sich in einem fruchtbaren Austausch. In jedem Falle aber regen die Einführungen und Erläuterungen im Detail dazu an, Zusammenhänge wahrzunehmen, beliebte Irrtümer aufzuklären und neue Zugänge zum Bibeltext zu entdecken. Diese Erklärungsbibel ist deshalb auch kein Kurzkommentar für Eilige. Im Gegenteil: Sie lädt ein zur langsamen Lektüre, zum Innehalten, Hin- und Herblättern und Nachdenken.
Die Stuttgarter Erklärungsbibel ist heute nicht mehr die einzige ihrer Art, aber noch immer das Flaggschiff in der Armada aller Erklärungsbibeln, die sich ihr angeschlossen haben. Ihr wichtigster Gesprächspartner dürfte inzwischen Das Neue Testament jüdisch erklärt (2021) aus demselben Hause sein. Es ist das große Verdienst der Herausgeber Beate Ego, Ulrich Heckel und Christoph Rösel, den Bibeltext in diesen weiten Horizont gestellt zu haben, und er ist jede Empfehlung wert.
Christfried Böttrich
Dr. Christfried Böttrich ist Professor am Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Greifswald.