Freiheit vom postkolonialen Erbe

Kritisch-religiöse Farbklänge in der Gegenwartsliteratur der Niederlande
Ein wichtiges Thema in der Literatur wie auf Demonstrationen: Offener und versteckter Rassismus in der niederländischen Gesellschaft. Plakat auf einer Anti-Rassismus-Kundgebung in Utrecht.
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Ein wichtiges Thema in der Literatur wie auf Demonstrationen: Offener und versteckter Rassismus in der niederländischen Gesellschaft. Plakat auf einer Anti-Rassismus-Kundgebung in Utrecht.

Die Niederlande und Flandern sind die „Gastländer“ der Leipziger Buchmesse, die in wenigen Wochen ihre Pforten öffnet. Über neuere Trends in der niederländischen Literatur berichtet Christina Bickel, die über das Erzählwerk Maarten ’t Harts promoviert hat und Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck ist.

Die Niederlande präsentieren sich im März 2024 zur Leipziger Buchmesse als ein Gastland, das sich in einer bunten Vielfalt an eindrücklichen Publikationen poetisch, sprachgewaltig und kenntnisreich mit dem Leben in den Niederlanden und dessen historischen Wurzeln kritisch auseinandersetzt. Themen sind mitunter der Umgang mit der leidvollen Kolonialgeschichte aus Perspektive der People of Color, die Auseinandersetzung mit Trauer im streng-calvinistischen Milieu und der aufgeklärte Humanismus des spitzzüngigen und kosmopolitischen Denkers Erasmus von Rotterdam. Eine Aufklärung zum Wohle aller Menschen, die gleichsam von kapitalistisch-gierigen Händlern und Kolonialherren missbraucht worden ist, um vermeintlich unaufgeklärte Menschen in Lateinamerika, afrikanischen und asiatischen Ländern zu enteignen und auszubeuten. Das aufklärerische Denken wurde demnach als Überlegenheit gegen vermeintlich unaufgeklärte Menschen fehlgedeutet, woraus am Ende Machtmissbrauch und Unterdrückung resultierten.

Und obwohl die Niederlande ein stark säkulares Land sind, spielt die christliche Religion in einigen Werken eine nicht unwesentliche Rolle – ob intertextuell, formal oder inhaltlich-motivisch. Mal fällt im Kontext der Kolonialgeschichte ein dunkler Schatten voll frostiger Unmenschlichkeit und Machtmissbrauch auf sie, mal wird sie in das warme Abendrot der Sonne als Verweis auf ihre vergänglichen, sich durch kulturelle Aneignung stets verändernden Erscheinungsformen, getaucht.

Vermeintlich liberal

Simone Atangana Bekonos Debutroman „Salomés Zorn” (niederländisch: Confrontaties, 2020) erzählt aus Perspektive der Protagonistin Salomé Henriette Constance Atabong von Rassismus als Erbe des Postkolonialismus, der auch im 21. Jahrhundert nicht aus der vermeintlich liberalen niederländischen Gesellschaft verschwunden ist. Ebenso wie die Autorin ist auch Salomé Atabong Tochter eines kamerunischen Vaters und einer niederländischen Mutter. Bereits der Name der Hauptfigur verweist auf die neutestamentlichen Salomé-Erzählung – Salomé, die sich vom König Herodes den Kopf Johannes des Täufers auf einem Silbertablett bringen lässt und als „femme fatale“, als verhängnisvolle Frau, Verderben bringt.

Auch das Leben von Bekonos Salomé Atabong verläuft durch die Verwobenheit in Strukturen rassistischer Gewalt fatal. In der Schule erfährt sie Mobbing, und auf dem Nachhauseweg werfen sie zwei Schulkameraden vom Fahrrad, bespucken sie, zücken ihre Smartphones und filmen sie im Schlamm liegend, fluchend und ungeschützt. Das erfahrene Leid und die Gewaltstrukturen werden ihr schließlich zum weiteren Verhängnis: Aggressiv und impulsiv wird sie als Reaktion darauf einem ihrer jugendlichen Widersacher zum Verderben, indem sie sich sprichwörtlich nach dem Diktum „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ an ihm Rache verübt und dessen Auge schwer verletzt. Daraufhin muss sie eine Haftstrafe absitzen. Sie bleibt auch im Gefängnis nicht frei und muss auch dort Gewalt gegen People of Color erleben. Ihr Therapeut, einst Teilnehmer an einer geschmacklosen Afrika-Reality-Show, meint beispielsweise herablassend, dass er schon immer Respekt vor dem primitiven Leben in Afrika gehabt habe.

In einem eigenen sowohl drastischen als auch traumwandlerisch-tastenden Sound erzählt Bekono eine Geschichte von Schuld, Scham und Wut. Während die Mordmotive der biblischen Salomé im Dunkeln bleiben, füllt Bekono diese Leerstelle mit dem Tatmotiv und evoziert dadurch die Frage nach der Legitimität des Rachehandelns der Protagonistin. Es ist ein Roman, der beunruhigt, irritiert – und im besten kafkaesken Sinne wie ein Hammerschlag auf den Kopf der Lesenden wirkt.

In Kontrast dazu zeichnet Raoul de Jong in „Jaguarmann“ (niederländisch: „Jaguarman“, 2020) ein neues, befreiendes, postkoloniales Narrativ jenseits von Schwarz und Weiß: De Jong, der bei seiner niederländischen Mutter aufgewachsen ist, trifft nach 28 Jahren einen Vater mit surinamischen Wurzeln wieder und begibt sich, ausgelöst durch diese Begegnung, auf die Suche nach dem Jaguarmann, nach seiner eigenen, wahren Identität.

Der Ich-Erzähler reist ins surinamische Paramaribu und verfolgt die Geschichte seines Vaters, seiner Vorfahren und der dort lebenden People of Color bis nach Afrika zurück. Dabei stößt er neben Anton Koms „Wir Sklaven von Suriname“ auf das Buch „Voice of the Leopard: African Secret Societies and Cuba” von Ivor Miller. Demnach soll einst aus einem Fluss in Nigeria vor langer Zeit die Stimme des Leoparden erklungen sein. Eine Stimme voll von Wissen, die bis heute in Form von Tänzen, Ritualen wie dem Winti-Zauber und Voodoo-Kult und Geheimschriften von der geheimen Gesellschaft „Ekpé – Leopard“ tradiert werde. Die höchstrangigen Mitglieder der „Ekpé“ könnten sich demnach selbst in die Raubkatze verwandeln. Durch Verschiffung der versklavten Menschen von Afrika ins lateinamerikanische Surinam sei der Leopard zum Jaguar geworden. Schließlich sei durch sich im Glaubenseifer überhöhende Missionare der angebliche „Fluch des Jaguars“ gebannt worden.

In einer berührenden persönlichen Ansprache schreibt der Ich-Erzähler an seinen Vater, dass es keinen „Fluch des Jaguars“ gebe, nur eine Superkraft, denn der Jaguar habe sich nicht unterdrücken lassen. Dem Glauben seines Vaters, er stamme von Sklaven ab und sei nichts wert, setzt er entgegen, dass er von Jaguaren mit Superkräften abstamme, und er werde der Jaguarmann sein, den sein Vater verdiene.

Gebet an alle

De Jong schließt sein Buch, ein Buch, das von uns allen handelt, mit einem Empowerment und Gebet an uns alle, die wir Jaguarmenschen sind: „Habt keine Angst vor euren Superkräften. Nutzt sie! Zieht los und macht die Welt schöner! Es geht! Ein einzelner Mensch kann die Geschichte verändern. Seid euch darüber im Klaren, wie schön ihr seid. Und vergesst nicht zu tanzen. Amen!“

„Jaguarmann“ berührt dadurch, wie sich de Jong, postkolonialistischen Verletzungen zum Trotz, auf den Weg zu seinen Wurzeln begibt und Versöhnung durch Umdeutung einer bis in die Gegenwart andauernden Leidgeschichte findet. Dies kommt im weisen Inhalt des Appells, gegossen in die westliche Form des Gebets, kraftvoll-heiter zum Ausdruck.

Unerzählt bleibt die Erlösung hingegen in (Marieke) Lucas Rijnevelds „Was man sät“ (niederländisch: De avond is ongemak, 2018). Der Autor stammt aus dem orthodox-calvinistischen Milieu der so genannten „Schwarzstrumpfcalvinisten“ und folgt als junger Erfolgsautor mit unverwechselbarem Sound in der originellen Auseinandersetzung mit dem strengen Calvinismus der früheren Autorengeneration um Jan Siebelink, Jan Wolkers und Maarten ‘t Hart.

Rijneveld erzählt in einer eindrücklich-religiösen Bildsprache aus Perspektive der 12-jährigen Jas, wie sie und ihre Familie den Verlust ihres Bruders Matthis verarbeiten, der beim Schlittschuhfahren ins Eis eingebrochen ist. Mit strenger Opfertheologie sozialisiert, gibt Jas sich dafür die Schuld, da sie den Tod als Ersatzopfer für ihr geliebtes Kaninchen, das sie nicht hergeben wollte, versteht. Jas zieht sich immer mehr in sich selbst zurück und vergräbt sich in ihre rote Winterjacke (niederländisch: „jas“), die ihr ihren Spitznamen eingebracht hat. Die Verstummte hofft auf ein Wunder, eine Wende des Geschehenen, auf eine Art Auferstehung. Um zu testen, ob ihr innigster Wunsch erhört werden kann, bricht sie einem Engelchen aus Plastik die Flügel ab. Ein göttliches Zeichen blieb aus – keine nachwachsenden Flügel. Das Engelchen landete schließlich zwischen „vergessenen roten Zwiebeln“ als Symbol dafür, dass die liebevollen Tränen, die Jas um ihren Bruder weint, resonanzlos bleiben.

Rijnevelds Roman berührt durch den spielerisch-ernsten Umgang der jungen Protagonistin mit der streng religiösen Prägung ihres Elternhauses und dem Changieren zwischen der Brüchigkeit im Leben und der Hoffnung auf eine bessere Zeit.

Eine monumentale Biografie von der Kindheit bis zum Tod hat schließlich die Historikerin Sandra Langereis mit „Erasmus. Biografie eines Freigeistes“ vorgelegt. Darin zeichnet sie, wie im Prolog beschrieben, dessen Leben und Werk.

Auf der Weltbühne

Ihr opus magnum weist Ähnlichkeiten mit dem bronzenen Standbild von dem großen Humanisten und Denker Erasmus in Rotterdam auf. Denn wie die Plastik von Hendrick de Keyser Erasmus ikonisch mit Buch, Mantel und Kappe abbildet, so sei auch ihr Werk, ähnlich der Abbildung eines Schauspielers, die Abbildung davon, wie sich der Denker und Humanist 1536 auf der Weltenbühne in seinem Werk und der Wahrnehmung der Zeitgenossen als Kosmopolit präsentiert hat und schnell zu großer Berühmtheit, Königen gleich, avancierte.

So ist Erasmus beispielsweise bereits um 1600 in Japan durch das Handelsschiff „Liefde“ (deutsch: „Liebe“) der Niederländischen Ostindien-Kolonie bekannt geworden, welches Erasmus als Gallionsfigur getragen hat. An den Handelsaustausch erinnert im Tokioer Nationalmuseum eine Skulptur, die als „christliches Objekt“ bezeichnet wird und die kulturelle Begegnung zwischen Ost und West symbolisiert. Es sind Begegnungen, die heutzutage durch die auf den Denker zurückgehende Erasmus-Stipendien für Auslandsstudien gefördert werden.

Langereis erzählt, wie der berühmte Rotterdamer die philologisch-kritische Ausgabe des „Novum Testamentum“ erarbeitet hat, welches zunächst „Novum Instrumentum“ genannt wurde, um nicht in den Verdacht der Ketzerei mit einer neuen Bibelausgabe neben der Vulgata zu geraten.

Hochgebildet in den Schriften der Antike, auch in den kirchlich zensierten wie etwa den Komödien des Terenz, hat Erasmus Zeit seines Lebens für die Mündigkeit des Individuums gekämpft. Er befreite sich selbst durch das Schreiben vom frommen, autoritären Klosterleben der Chorherren, bei denen er aufgewachsen ist. Denn sie glaubten ihm zufolge kritiklos und fundamentalistisch, hielten sich an „formelle Rituale“, „abstumpfende Regeln“ und waren als „devote Barbaren“ voller Ignoranz gegenüber den klassischen Sprachen.

Langereis ist ein differenziertes und kenntnisreiches Portrait des niederländischen Humanisten, Philologen und revolutionären liberalen Theologen gelungen. Sie beschreibt ihn als widerständigen, weit in Europa gereisten Freigeist, eckig und kantig eingezeichnet in die (Gelehrten-)Welt und Umwelt seiner Zeit. Die Biografin zeigt, welch hohe Güter freies Denken und kritische Theologie sind. Sowohl bei „Jaguarmann“ wie bei der Erasmus-Biografie ist zudem die Ambivalenz des aufklärerischen Denkens zu beobachten.

Gegen Fundamentalismen

Die vier vorgestellten Werke der niederländischen Gegenwartsliteratur sind in diesen Zeiten des zunehmenden Rechtsrucks, des erstarkenden Rassismus und Antisemitismus mit ähnlichen Dynamiken fast überall in Europa thematisch besonders aktuell. Die Bücher liegen am Puls der Zeit, sie bedrücken, rütteln auf, regen zu selbstständig-kritischen und originellen Denken an, fernab von religiösen oder ideologischen Fundamentalismen.

Die Werke übermalen gekonnt mit fein nuancierten Farbakzenten in unterschiedlich schimmernden poetischen Lasuren blinde Flecken, schwarz-weiße bedrückende Enge bis hin zur Gewalt. Bisweilen gelingt es ihnen, die Welt neu einzufärben. Doch dann bahnt sich die Vergangenheit auch immer wieder ihren Weg zur Oberfläche und bricht wie Craquelés alter Bilder, wie Risse im Firnis, hervor. Es sind Risse, die durch unterschiedliche Spannungen in der Leinwand und vorgenommene Retuschen besonders zutage treten, aber ebenso dazugehören.

Religion in Brüchigkeit und Spannungen, dadurch zeichnen sich die literarischen Bilder der vier Autor:innen aus. Jedes für sich kann als Hommage an Frieden und Freiheit gelesen werden – ob von Trauer, Rassismus, postkolonialem Denken oder fundamentalistischer Religiosität. 

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