Juwel Kirchenmusik

Die 6. KMU und die Bedeutung der Kirchenmusik
Posaunen beim Abschlussgottesdienst des regionalen Ökumenischen Kirchentags am 18. Juni 2023 in Osnabrück.
Foto: epd
Posaunen beim Abschlussgottesdienst des regionalen Ökumenischen Kirchentags am 18. Juni 2023 in Osnabrück.

In den bisherigen Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft war Kirchen­musik ein blinder Fleck. In der 6. KMU (vergleiche zz 12/23 und zz 1/24) wurde aber danach gefragt. Die Ergebnisse bezeugen den wichtigen Beitrag der Kirchenmusik für den gesamten Sozialraum einer Kirchengemeinde, meint Daniel Hörsch, sozialwissenschaftlicher Referent der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) in Berlin.

Der Begriff ‚Kirchenmusik‘ bezeichnet die originäre Symbiose von Kirche, Musik und Gottesdienst. Dazu gehört auch die Aufführung von geistlichen und sonstigen Werken im kirchlich verantworteten Handlungskontext. Kirchenmusik hat im Verlauf der Jahrhunderte vielfache Veränderungen erfahren und ist bis in die Gegenwart vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. Sie kann als jene Musik verstanden werden, „in der sich christlicher Glaube musikalisch-ästhetisch mitteilt und ausspricht“ (Christoph Krummacher, Kirchenmusik, Tübingen 2020).

Umso erstaunlicher ist, dass in den zurückliegenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen die Kirchenmusik weitgehend ein Desiderat war. Es wurde zwar nach Eindrücken der Kirchenmusik im Zusammenhang mit dem gottesdienstlichen Geschehen gefragt. Und dabei kam insbesondere der Sonntagsgottesdienst in den Blick. Es ging um die Bedeutung des Singens für die Kirchgänger und den Besuch von dezidiert musikalischen Gottesdienstformen. Ebenso wurden Kontakte zum kirchlichen Personal dieses Arbeitsfeldes (Kirchenmusiker/Organist/ Chorleitende) und zum Austausch über Fragen zum Sinn des Lebens (mit Chormitgliedern) hergestellt. Und empirisch ist das Feld „Kirchenmusik und Gottesdienst“ in den zurückliegenden fünfzehn Jahren zunehmend besser erforscht worden. So sind etliche quantitative und auch einige qualitative Studien in diesem Themenfeld entstanden – von der Gospel- über die Posaunenchorbefragung bis zu den Singe-Studien und Untersuchungen zum Gottesdiensterleben und Zählprojekten.

Das Feld der Kirchenmusik außerhalb des Gottesdienstes aber blieb in den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen bisher weitgehend ein blinder Fleck, obgleich vor Corona im Jahr 2019 66 000 kirchenmusikalische Veranstaltungen rund 7,4 Millionen Menschen außerhalb der Gottesdienste in die Kirchen lockten. In der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (6. KMU) wurde deshalb ein Fragecluster eigens zum Themenfeld Kirchenmusik aufgenommen, das sowohl die Bedeutung der Kirchenmusik im Gottesdienst und das kirchenmusikalische Erleben untersucht als auch das Teilnahmeverhalten an kirchenmusikalischen Veranstaltungen außerhalb des Gottesdienstes in den Blick nimmt. Hier eine erste Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse:

1. Singen und moderne Musik im Gottesdienst: Danach gefragt, ob das Singen von Kirchenliedern im Gottesdienst als langweilig und überflüssig empfunden wird, antworteten in der Repräsentativ-Erhebung der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 70 Prozent, dass das Singen von Kirchenliedern nicht langweilig und nicht entbehrlich sei. Das Singen im Gottesdienst hat nach wie vor nachweislich als rituelle religiöse Praxis eine hohe Bedeutung. Zum anderen wurde in der 6. KMU hinsichtlich des Wunsches nach mehr moderner Musik gefragt: 65 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich mehr moderne Musik in der Kirche wünschen. Dies sagt ein erheblicher Teil derjenigen, die ein- bis dreimal monatlich (64 Prozent) oder seltener (62 Prozent) in den Gottesdienst gehen. Zwischen der Aussage „Singen von Kirchenliedern wird als langweilig empfunden“ und dem Wunsch nach moderner Musik im Gottesdienst besteht ein – wenn auch schwacher – Zusammenhang. Das heißt, dass diejenigen, die das Singen als langweilig empfinden, auch tendenziell häufiger dem Wunsch nach moderner Musik Ausdruck verleihen.

2. Teilnahme an kirchenmusikalischen Veranstaltungen außerhalb von Gottesdiensten (zum Beispiel Konzerte): In der 6. KMU geben knapp zwei Drittel der Befragten an, dass sie „nie“ an Veranstaltungen teilnehmen, die speziell der Kirchenmusik gewidmet sind. Ein Drittel gibt an, dass sie schon daran teilgenommen hat. Vor allem werden kirchenmusikalische Veranstaltungen öfters von Menschen besucht, die auch den Gottesdienst besuchen und evangelisch oder katholisch sehr verbunden sind, wobei der Anteil der Evangelischen (41 Prozent) diesbezüglich höher ist als bei den Katholischen (35 Prozent). Im Osten haben kirchenmusikalische Veranstaltungen eine deutlich größere Bedeutung als in den übrigen Regionen.

3. Rezipienten bezogenes Erleben der Kirchenmusik: In der 6. KMU wurde mit zwei Items das Erleben der Kirchenmusik erfragt. 55 Prozent der Befragten geben an, dass sie „Kirchenmusik als inspirierend empfinden, ihr gerne zuhören und sie berührt sind“. Für 25 Prozent der Befragten ist zudem Kirchenmusik „religiös wichtig“, und sie können „dabei Gottes Nähe spüren“. 91 Prozent der Befragten in der 6. KMU, die Kirchenmusik als religiös wichtig erachten beziehungsweise Gottes Nähe darin spüren, geben auch an, dass sie einen Gottesdienst besuchen, weil sie der Kirchenraum, die Musik, die ganze Atmosphäre anspricht. Zwischen religiöser Aufladung des Kirchenmusik-Erlebens und der ästhetischen Dimension des Gottesdienst-Erlebens besteht somit ein signifikanter Zusammenhang. 

Bedeutung für das Sozialkapital

4. Kirchenmusikalisches Engagement: Neben der Bedeutung der Kirchenmusik für den Gottesdienst, dem Teilnahmeverhalten an kirchenmusikalischen Veranstaltungen und dem Erleben der Kirchenmusik stand das kirchenmusikalische Engagement als weiteres Erkenntnisinteresse im Fokus der Fragen zur Kirchenmusik in der 6. KMU. 4 Prozent der Befragten geben an, dass sie kirchenmusikalisch aktiv sind. Auf 7 Prozent der Katholischen und sechs Prozent der Evangelischen trifft dies zu. In Westdeutschland ist das kirchenmusikalische Engagement der Kirchenmitglieder leicht stärker ausgeprägt als in Ostdeutschland. 80 Prozent derjenigen, die angeben, im Bereich Kirchenmusik aktiv zu sein, engagieren sich auch darüber hinaus ehrenamtlich. Zudem sind 61 Prozent derjenigen, die in der Kirchenmusik engagiert sind, auch außerhalb des Gottesdienstes im kirchlichen Kontext aktiv. Die Bedeutung des kirchenmusikalischen Engagements für das Sozialkapital ist folglich nicht gering zu schätzen.

5. Kontakt zu Kirchenmusikern: In der 6. KMU geben 34 Prozent der Befragten an, dass sie in den zurückliegenden zwölf Monaten Kontakt zu einem Kirchenmusiker oder einem Kantor hatten. Dies ist umso bemerkenswerter vor dem Hintergrund, dass lediglich vier Prozent der Befragten angeben, kirchenmusikalisch aktiv zu sein. Die Reichweite der Kirchenmusiker geht somit deutlich über die eigentliche kirchenmusikalische Arbeit hinaus.

So weit die wichtigsten Punkte der 6. KMU. In einem gesonderten Begleitforschungsprojekt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) wurde zudem das Feld der Kirchenmusik umfassender für eine ganze Landeskirche untersucht. Hierzu wurden die Aktiven in den kirchenmusikalischen Gruppen der EKM, die Chorleitenden und in neun ausgewählten Kirchenkreisen der EKM die Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Veranstaltungen befragt. 

Sozioreligiöse Relevanz hoch

Die Befragungen der Aktiven, der Chorleitenden und Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Veranstaltungen in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) unterstreichen eindrucksvoll die sozioreligiöse Relevanz der Kirchenmusik. Darunter wird verstanden, dass das Soziale der kirchenmusikalischen Gruppe selbst nämlich zum Raum, Anlass und Gegenstand religiösen Erlebens und Deutens wird und sich die sozioreligiöse Praxis im Medium der Musik vollzieht. Bei den Aktiven markieren dies vor allem die Befunde, dass „es für mich eine Form ist, meinen Glauben auszudrücken“, „es eine Form ist, in der ich Gott erfahre“, oder sogar, dass „es für mich eine Form intensiver religiöser Erfahrung ist“, die mit dem kirchenmusikalischen Engagement in besonderer Weise einhergehen und explizit die sozioreligiöse Relevanz des kirchenmusikalischen Engagements ausdrücken.

Ebenso gilt dies für den Befund, dass zwei Drittel der Aktiven als Grund für ihr Engagement angeben, dies „zum Lobe Gottes“ zu tun. Es verwundert deshalb nicht, dass die Mehrheit der Aktiven der Aussage zustimmt, dass durch das kirchenmusikalische Engagement die Verbundenheit mit der Kirche stärker geworden sei. Bei den Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Veranstaltungen ist es das subjektive Erleben, dass die Veranstaltung inspirierend, sehr berührend, und für die Teilnehmenden spirituell erfüllend war.

Darüber hinaus zeigt die Kirchenmusik-Studie der EKM, dass Frauen in der mittleren Altersgruppe (50-69 Jahre) das Rückgrat kirchenmusikalischer Arbeit sind. Kirchenmusikalisches Engagement begeistert und schafft Gemeinschaft und Geselligkeit und ist sehr wichtig für viele Kirchengemeinden. Ja, man kann sagen, dass Kirchenmusik ein parochialer Anker kirchlichen Lebens ist. Darüber hinaus hat das kirchenmusikalische Engagement eine sozialräumliche Relevanz, das heißt, eine aktive Kirchenmusik wirkt als kultureller Faktor auf den gesamten Sozialraum. Insofern trägt Kirchenmusik zur Mitgliederbindung und Mitgliederorientierung bei und offenbart zugleich Potenziale für Kontaktpflege zu kirchenfernen Menschen. 

 

Unter der Überschrift „Da ist Musik drin“ befasst sich eine Tagung der Evangelischen Akademie in Wittenberg am 9./10. Februar 2024 ausführlich mit den Befunden und Einsichten aus der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zum Feld der Kirchenmusik und des Begleitforschungs­projekts Kirchenmusik der EKM. Im Gespräch zwischen empirischer Wissenschaft und Praxis sollen die Ergebnisse überprüft und weitergedacht werden.



Nähere Informationen zur Tagung finden sich unter www.ev-akademie-wittenberg.de.

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Daniel Hörsch

Daniel Hörsch, Sozialwissenschaftlicher Referent Ev. Arbeitsstelle midi (Berlin), Schwerpunktthemen: Kirche in der Pandemie, Wandel der Zugehörigkeiten und Sozialgestalt von Kirche, Kirchenmitgliedschaft, Lebenswelt- und sozialräumliche kirchliche Praxis.


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