Universaler Horizont
Marcel Freitag fiel auf, dass in der Forschung die Ethik des Theologen Paul Tillich (1886–1965) „unterbelichtet“ geblieben war. Dies hat der 37-Jährige mit seiner Dissertation geändert. Er hat Aspekte entdeckt, die eine bleibende Bedeutung haben.
Ich bin in Bielefeld aufgewachsen. Und am dortigen Oberstufenkolleg wurde mein Interesse an der Theologie geweckt. Denn es bot evangelische Theologie als Studienfach an, was dem Leistungskurs Religion in der Oberstufe entsprach und wissenschaftlich ausgerichtet war. Theologie studierte ich in Bethel, Münster und Tübingen. Und weil mich Søren Kierkegaard sehr interessierte, verbrachte ich auch ein Studienjahr in Kopenhagen.
Meine erste Hausarbeit im Proseminar schrieb ich über Paul Tillichs Offenbarungsverständnis. So begann mein Interesse an der Systematischen Theologie und speziell an Tillichs Werk. Und in meiner Examensarbeit schloss sich sozusagen ein Kreis. Ich behandelte Tillichs frühe Rezeption von Kierkegaards Denken. Und das ermöglichte mir einen ersten vertieften Blick in Tillichs Frühwerk.
Nach dem Examen arbeitete ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften. Ich war sowohl theologiegeschichtlich als auch systematisch-theologisch interessiert. Mir fiel auf, dass Paul Tillichs Werk gut erschlossen, aber seine Ethik unterbelichtet geblieben war.
Als Betreuer der Dissertation schlug mir Professor Arnulf von Scheliha vor, das ethische Interesse theologiegeschichtlich zu verfolgen und über Tillichs ethisches Denken zu schreiben. Bei der Erstellung meiner Dissertation fiel mir auf, wie wichtig in dem von mir untersuchten Zeitraum (und darüber hinaus) für Tillichs Ethik – und seine Theologie insgesamt – das ist, was er als „Rechtfertigungsprinzip“ bezeichnet. In der Rechtfertigung zeigt sich für Tillich die „Anerkennung“ des Menschen durch Gott. Und dem Menschen, dem das bewusst wird, veranlasst sein Gewissen, jeden Mitmenschen als geliebtes Geschöpf anzuerkennen. Tillich geht damit über seine theologischen Vorläufer deutlich hinaus, indem er die Anerkennung als Praxis der Liebe versteht, die sich im konkreten Handeln der anderen Personen gegenüber äußert. Und diese Anerkennung geschieht für Tillich schon in den feinsten Formen menschlicher Interaktion und Kommunikation, in denen man dem Gegenüber zeigt, dass man sich auf ihn einlässt, indem man ihn anschaut und ihm zuhört in gegenseitiger Achtung und dem Blick für die Bedürfnisse der anderen.
Das Konzept der Anerkennung hielt Tillich trotz aller gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Umbrüche durch, die er zwischen 1906 und 1933 und danach erlebte. In der Weimarer Republik beschäftigte sich Tillich auch mit dem Recht. Er betonte, dass eine Gemeinschaft, auch der Staat, auf der gegenseitigen Anerkennung ihrer Bürger beruht. Dies ist für Tillich religiös im Rechtfertigungsprinzip begründet. Und ihm ist der Zusammenhang von Rechtfertigung und Gemeinschaft durchweg wichtig. Denn – betont Tillich – der Einzelne sei „nur in Christus, als Glied der Kirche“ gerechtfertigt. Daher richtet Tillich zum einen die christliche Ethik folgerichtig an der Gemeinschaft derer aus, die einander als Gerechtfertigte anerkennen. Zum anderen hat er mit seinem Verständnis der Rechtfertigung und ihrer ethischen Konsequenz – der Anerkennung der anderen – immer auch eine universale Stoßrichtung in seinem Denken. Für Tillich gilt das, was er als Prinzip der Rechtfertigung bezeichnet, für alle in gleicher Weise und über den christlichen Horizont hinaus.
Aus der rechtfertigungstheologischen Bestimmung konkretisiert sich die Nächstenliebe als Anerkennung des Nächsten. Und das bedeutet: Nächsten- und Selbstliebe geschehen in einem gleichwertigen Verhältnis zwischen der einzelnen Person und ihrem jeweiligen Gegenüber. So kann Gemeinschaft nur gelingen, wenn das eigene Handeln altruistisch auf das Gegenüber ausgerichtet ist, aber die eigene Persönlichkeit dabei nicht aufgegeben wird. An diesem Punkt war Tillich seiner Zeit weit voraus. Denn die Vorstellung, dass Nächstenliebe nicht eine Aufgabe des Selbst bedeuten darf, ist erst in neuerer Zeit verstärkt ins Bewusstsein von Ethik und Praktischer Theologie getreten.
Die Kategorie von Anerkennung als praktischer Gestalt von Liebe behält in Tillichs Werk auch nach 1933 eine zentrale Bedeutung. Im Fragment „Religion und Weltpolitik“, das vermutlich 1938 entstand, stellt Tillich die Forderung nach der unbedingten Anerkennung des „Du“ als unhintergehbarer Voraussetzung moralischen Handelns auf. Und der moralische Anspruch des „Du“, als Du anerkannt zu werden, ist von keinen Bedingungen abhängig. Anerkennung beschreibt Tillich hier als „formales Kriterium“ für eine Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit basiert. Wie ich in meiner Doktorarbeit zeigen konnte, steht mit Tillichs Denken des Ethischen der eigenständige Entwurf einer theologischen Ethik vor Augen, die eine immense Anschlussfähigkeit aufweist. Die Verknüpfung von Religion und Ethos lässt sich nicht im Vakuum und losgelöst von den weiteren Bezügen des Menschen als kreativem Geist darstellen. Evangelische Ethik kann von Tillich lernen, ihre Diskursfähigkeit nicht vom Festhalten fixer Formeln und Begriffe abhängig zu machen. Dieses selbstreflexive und ideologiekritische Moment hat Tillich in der kontextsensiblen Entfaltung seiner Ethik stetig mitbedacht. Er war dazu zum einen in der Lage, weil er die frühe Verknüpfung von Liebe und Anerkennung beständig mitführte und an den zugehörigen Grundannahmen festhielt. Und zum anderen konnte er auf der Grundlage seines Ethikansatzes den Blick für wechselnde Umstände und Einflüsse stets offenhalten.
An meiner Dissertation habe ich fünf Jahre gearbeitet. In der Auseinandersetzung mit Tillich habe ich vor allem gelernt, theologische Ethik als Situationsethik zu verstehen, die sich zum einen immer wieder mit der jeweiligen Umwelt auseinandersetzen und sich an die veränderten Umstände ihrer kulturellen wie sozialen Situation anpassen muss. Zum anderen ist auch jede Handlung der einzelnen Person eine situative und jeweils neue Entscheidung, bei der nicht auf einen Regelkatalog zurückgegriffen werden kann. Die Forderung nach unbedingter Anerkennung des Gegenübers gibt für Tillich hier eine Orientierung, weil sie letztlich die Nächstenliebe praktisch zum Ausdruck bringt.
Im Vikariat ist mir klar geworden, dass ich nicht an der Universität, sondern als Pfarrer arbeiten möchte. Vor allem Seelsorge und die Kasualien sind mir in der kirchlichen Praxis wichtig geworden. Auch für die theologische Begründung dieser Praxis kann Tillichs Verständnis von Liebe und Anerkennung einen Beitrag leisten.
Aufgezeichnet von Jürgen Wandel
Literatur
Marcel Freitag: Paul Tillichs frühe Ethik. Von den Anfängen bis zum Religiösen Sozialismus (1906–1933).
Verlag de Gruyter, Berlin 2023, 360 Seiten, Euro 99,95.
Jürgen Wandel
Jürgen Wandel ist Pfarrer, Journalist und ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".