Dieser gehaltvolle Band bietet in 27 Beiträgen von Christian Schad, emeritierter Kirchenpräsident der Pfalz, die Summe seiner Lebensarbeit als Theologe. In der Wechselbeziehung von Theologie und Kirche schlägt er einen weiten Bogen von der theologischen Reflexion zu den existenziellen Erfahrungen gelebten Lebens für eine wache Kirche.
Im ersten, theologisch grundlegenden Teil beginnt er gut reformatorisch mit Luthers Schriftverständnis als einer Form christlicher Meditation, die als Spazierraum und Sprachschule des Glaubens zwischen Schrift und Erfahrung vermittelt. Luthers Freiheitsverständnis konzentriert er auf die Heilsgewissheit des Gewissens: Evangelische Freiheit ist nicht identisch mit politischer Freiheit. Weltliche Obrigkeit hat die Aufgabe, die zerstörerischen Folgen der Sünde einzudämmen und den äußeren Frieden zu wahren. Gott begegnet der Sünde und Unfreiheit des Menschen auf zweierlei Weise: politisch durch die Eindämmung ihrer Folgen durch das Gesetz im Raum dieser Welt, geistlich durch ihre Entmachtung – kraft der in Christus, im Evangelium, zugesprochenen Vergebung. Daraus folgt die Profilierung der Zwei-Reiche-Lehre.
„Hier stehe ich“ stellt Luther in seiner wohl bedeutendsten (Verteidigungs-)Rede vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag in Worms (1521) als „Lehrer der Kirche aus Heiliger Schrift und Vernunft“ dar, dessen Theologie nicht nur biblisch fundiert, sondern „durch klare Gründe der Vernunft“ zugleich rational kontrolliert ist. Dabei gewinnt das Gewissen seine Freiheit erst durch die Bindung an Gottes gewissmachendes Wort, was über die „Protestation“ auf dem Speyerer Reichstag von 1529 durch mannigfache Transformationsprozesse zum Grundrecht der Gewissens- und Glaubensfreiheit führte.
„Gottes Wort will gepredigt und gesungen sein“ erläutert, wie sich im gemeinsamen Singen für Luther exemplarisch das Priestertum aller Glaubenden verwirklicht. „Ein feste Burg ist unser Gott“ wurde im Protestantismus als Trutz- und Kampflied martialisch missbraucht, doch darf man „die seelsorgliche Tiefendimension“ nicht überhören, die „in Existenzangst Geborgenheit finden (lässt) in der Wortburg dieses Gottes“.
„Sola gratia“ (89–97) entwickelt die Botschaft von der freien Gnade Gottes in der Rechtfertigung als Kern der Reformation, die es – unter Verweis auf Jürgen Habermas – als gemeinsame Aufgabe von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis in die Sprache säkularer Vernunft zu übersetzen und auf gegenwärtige Lebenserfahrung hin zu entfalten gilt. Sie besteht in der Gabe der Anerkennung, die zum Beispiel in der Unantastbarkeit der Menschenwürde anklingt (Grundgesetz Artikel 1, Absatz 1).
„Christlicher Glaube als Vernunftreligion“ zeigt die „Gegenwartsbedeutung der pfälzischen Kirchenunion von 1818“ im Bündnis von Protestantismus und Aufklärung. Sie wirkt sich aus in der presbyterial-synodal verfassten Beteiligungskultur der pfälzischen Unionskirche, die im gemeinsamen Ringen um die Wahrheit zum Magnus consensus führt. Dies bleibt Verpflichtung nicht nur im ökumenischen Dialog, sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus, die Menschen nicht zu „Wut-Bürgern“, sondern zu „Mut-Bürgern“ macht: „Mutig voran!“.
Der zweite Teil kombiniert Tiefenschärfe und Langzeitperspektive zur neuzeitlichen Transformation reformatorischer Einsichten von Schleiermacher im kritischen Vergleich mit Luther und Barth über Rudolf Bultmann und Ernst Fuchs bis zu den Tübinger Theologen Gerhard Ebeling, Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann und Christoph Schwöbel.
Im dritten Teil beschreibt Schad das Verhältnis von Staat und Kirche als „Öffentliche Religion in der offenen Gesellschaft“, indem er das Verständnis der Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz darstellt, den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition (2021) analysiert und das laizistische Abdrängen der Religion ins Private als Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Staates kritisiert.
Der Band zeugt von einer großen Souveränität in der theologischen Reflexion und sensiblen Wahrnehmung kirchlicher Herausforderungen, ist leicht verständlich und flüssig lesbar. Das Ergebnis ist eine wirklich praktische Theologie, der eine breite wissenschaftliche und kirchliche Rezeption zu wünschen ist, weil sie die Theologie ebenso existenziell mit dem Leben vermittelt, wie sie die Kirche ihrer geistlichen Aufgaben vergewissert.
Ulrich Heckel
Dr. Ulrich Heckel ist Oberkirchenrat und Leiter des Dezernats Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.