Heute vor genau 130 Jahren, am 6. November 1893, verstarb der Komponist Peter Tschaikowsky, der bedeutendste russische Tonschöpfer der Romantik. Der Theologe Werner Thiede schreibt über die Umstände des Todes des Schwanensee-Komponisten, der wahrscheinlich ein Suizid war.
Am 2. November 1873 nahm sich in Russland der 19-jährige, musikalisch hochbegabte Gymnasiast Eduard Sack durch einen Pistolenschuss das Leben. Dieses Ereignis erschütterte den jungen Komponisten und Kompositionslehrer Peter Tschaikowsky, der gerade an seiner Orchesterfantasie „Der Sturm“ arbeitete, zutiefst – und nachhaltig für den Rest seines Lebens. Denn Eduard war nicht nur einer seiner Schüler gewesen, sondern laut eines Briefes noch viele Jahre später sein am meisten geliebter Mensch!
„Ich stehe jetzt unter dem Eindruck einer schrecklichen Katastrophe, die einer mir nahestehenden Person passiert ist“, schrieb er 1873 an seinen Verleger. „Meine Nerven sind furchtbar erschüttert, und ich bin unfähig, irgendetwas zu tun.“ Tatsächlich findet die Annahme mancher Tschaikowsky-Forscher meine Zustimmung, dass Eduards Suizid in einem kurz darauf von dem Komponisten fertiggestellten Trauermarsch und auch noch in seinem von Lebenskraft, Innigkeit und Zärtlichkeit charakterisierten, binnen Jahresfrist begonnenen 1. Klavierkonzert nachklingt.
Im Tagebuch notierte Tschaikowsky noch fast 14 Jahre später so ausführlich wie zu keiner anderen Person: „Wie erstaunlich deutlich erinnere ich mich an ihn: den Klang seiner Stimme, seine Bewegungen, vor allem aber den außerordentlich wunderbaren Gesichtsausdruck, den er manchmal hatte! Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jetzt nicht mehr dasein soll. Sein Tod, das heißt seine völlige Nichtexistenz, ist für mich unbegreiflich. Es scheint mir, dass ich noch nie jemanden so sehr geliebt habe wie ihn. Mein Gott! Egal, was man mir damals sagte und wie ich mich zu trösten versuche, meine Schuld vor ihm ist schrecklich! Und gleichzeitig habe ich ihn geliebt, das heißt nicht geliebt, sondern liebe ihn immer noch, und sein Andenken ist mir heilig!“
Endgültig entschlossen
In Bezug auf diesen sehr beachtlichen und doch in der Tschaikowsky-Forschung immer noch kaum hinreichend gewürdigten Sachverhalt lautet meine These: Es ist kein Zufall, dass sich fast genau 20 Jahre nach Eduards Selbsttötung, nämlich am 2. November 1893 – allerdings nach dem in den meisten europäischen Ländern geltenden gregorianischen Kalender, den viele Russen und namentlich der weitgereiste Tschaikowsky freilich stets mit im Kopf hatten –, der inzwischen weltberühmt gewordene Komponist seinerseits endgültig zum Suizid entschloss. Das ist ein neuer Deutungsvorschlag, der sich gegen die immer noch vorherrschende Annahme einer ursächlichen Cholera-Erkrankung Tschaikowskys richtet und den es im Folgenden noch näher zu begründen gilt.
Zunächst ist ein Blick auf das Liebesverhältnis zwischen Tschaikowsky und seinem einstigen Kompositionsschüler Eduard Sack fällig, einem Sohn Russlanddeutscher. Eine briefliche Notiz des Teenagers beweist, dass beide das vertrauliche „Du“ gebrauchten. Bereits 1871 schrieb Tschaikowsky an seinen älteren Bruder Nikolay, der damals Eduards Chef war, er habe den Jungen „furchtbar vermisst“, und es sei für ihn „absolut notwendig, ihn zu sehen.“ Bedenkt man, dass von Tschaikowsky – inzwischen deutlicher noch als in früheren Jahrzehnten – seine Homosexualität, ja seine Neigung zu jungen Knaben oder Männern hinlänglich bekannt ist, dann liest sich auch gerade der zitierte spätere Tagebucheintrag von 1887 hinsichtlich seiner „größten Liebe“ als Beleg dafür, dass hier eine erotische Beziehung vorlag. Welche Schuld genau Tschaikowsky sich im Blick auf den Suizid des zärtlich „Edya“ genannten Jünglings vorwarf, muss zwar offenbleiben. Doch immerhin erbat die Mutter Eduards von dem Komponisten Auskunft über das Suizid-Motiv ihres Sohnes, denn er sei doch der einzige, der es kennen könnte! Raphael Köber, ein Cousin des Toten, der zusammen mit ihm auf dem Konservatorium gewesen war, schrieb damals an Tschaikowsky: „Ich glaube nicht, dass Sie mehr zu bereuen haben als ich.“ Aber doch immerhin etwas?
Weiß man um die ausgeprägten und ausgelebten homoerotischen Neigungen Tschaikowskys, dann liegt es nahe, hier gewisse Zusammenhänge zu wittern. Das bestätigt sich, wenn man berücksichtigt: Im Sommer 1873 hielt sich Eduard im Umfeld eines anderen gutaussehenden jungen Mannes auf, den Tschaikowsky seinen Lieblingsschüler nennen konnte: Vladimir Shilovsky, nur zwei Jahre älter als Eduard. Dass auch zwischen ihm und seinem Kompositionslehrer ein homoerotisches Verhältnis bestand, beweisen briefliche Äußerungen. So war er es, dem Tschaikowsky 1877 am Tage seiner Hochzeit einen Brief schrieb, welcher mit den Worten endete: „Lebe wohl, meine Seele!“ Noch im März 1893 formulierte er an seinen „geliebten Wolodja“ Sätze, die auf ein gewisses Milieu hindeuteten: „Poplavsky ist ein hübscher junger Mann, aber wenn er zu schlecht am Klavier ist, zögern Sie bitte nicht, ich besorge Ihnen einen anderen. Ich dachte, es würde Sie freuen, dass er oft nicht nur ein guter Musiker ist, sondern auch ein gutaussehender Mann.“ Der Brief schließt mit „einer herzlichen Umarmung“.
Unglückliche Eheschließung
In einem entsprechenden Umfeld bewegte sich Eduard Sack 1873, und gewisse Spekulationen liegen insofern nahe, zumal Tschaikowsky zu jener Zeit Shilovsky noch brieflich – bloß andeutend – fragte: „Was ist mit Sack? Warst du erfolgreich oder nicht?“ Ob Vorgänge in diesem Milieu den Suizid „Edyas“ beförderten, lässt sich nicht endgültig belegen; klar ist aber, dass Tschaikowsky mit größten Selbstvorwürfen zurückblieb, deren Inhalt sich zumindest ein Stück weit erahnen lässt.
Für den Rest seines Lebens plagten ihn gelegentlich selber suizidale Neigungen – nicht zuletzt im Kontext seiner unglücklichen Eheschließung, die er nur angegangen hatte, um seine Homosexualität vor der Öffentlichkeit nachhaltiger zu verstecken. Für die bald von ihm getrenntlebende, aber nicht geschiedene Ehefrau zahlte er bis zu seinem Tod. Zu seiner Mäzenin Nadeschda von Meck, die ihn als Komponisten durch das Stück „Der Sturm“ kennengelernt hatte, bestand bekanntlich jahrelang ein rein platonisches Liebesverhältnis: Dieses beendete die Dame umgehend, und zwar offenbar nachdem sie von seiner Homosexualität erfahren hatte – was den rätselnden Tschaikowsky für den Rest seiner Tage deprimierte; noch auf dem Sterbebett rief er ihren Namen aus. Todesahnungen und Todesneigungen zeigten sich in seinem letzten Jahr neben mancherlei zuversichtlichen Äußerungen in besonderem Maße. Der erwähnte Freund Shilovsky starb im Sommer 1893, zeitnah kamen weitere Freunde hinzu. Die damals entstandene letzte Symphonie, die „Pathétique“ in h-Moll (der Tonart von Bachs letztem Vokalwerk, der h-Moll-Messe!), enthält dem Komponisten zufolge zwar ein geheimes Programm, doch nannte er sie einmal ausdrücklich sein „Requiem“. Später erklärte sein Bruder Modest, sie sei biografisch zu deuten; im leise verklingenden letzten Teil deuten sich unüberhörbar Todesgedanken an.
Die von dem 53-jährigen Tschaikowsky im Oktober 1893 noch geleitete Uraufführung dieser VI. Symphonie war nur bedingt erfolgreich. Deprimiert hat ihn aber etwas anderes noch mehr: Sein geliebter, fast schon vergötzter Neffe Wladimir L. Dawidow, zärtlich „Bobik“ genannt, dem er diese letzte Symphonie gewidmet und den er auch zu seinem Universalerben eingesetzt hatte, verhielt sich in jenen Tagen abweisend und geradezu verletzend. Übrigens endete auch dieser junge Mann 13 Jahre später in einem Suizid.
Offiziell war es Cholera
Noch schwerwiegender könnten für den großen Komponisten damals aufkommende Drohungen, womöglich sogar ein geheimes „Ehrengericht“ wegen seiner früheren oder auch aktuellen homosexuellen Aktivitäten – je nach Überlieferung – gewesen sein. Darüber gibt es diverse Traditionen und Spekulationen, die hier nicht diskutiert werden müssen. Es gilt aber zu berücksichtigen, dass schon unmittelbar nach Tschaikowskys Tod sich in der Bevölkerung Mutmaßungen breit machten, die der offiziellen Cholera-These misstrauten und von Suizid tuschelten. Es spricht einiges dafür, dass jene Verschwörungstheorien, denen zufolge Tschaikowsky in Wahrheit an einer Selbstvergiftung gestorben war, nicht nur aus der Luft gegriffen waren. Das gilt übrigens auch im Blick auf den Umstand, dass es in jenen Tagen in Petersburg kaum noch Cholera-Tote gab – und wenn, dann gehörten sie fast immer nur sozial niedrigeren Bevölkerungsschichten an. Warum sollte just der eigentlich gesunde, wohlhabende Komponist an dieser – noch dazu keineswegs für jeden Betroffenen tödlichen – Krankheit zugrunde gegangen sein?
Tschaikowskys schließlich am 6. November vor 130 Jahren eingetretener Tod bleibt gewiss ein Rätsel; allein eine Exhumierung, die man dem verehrten Toten freilich nicht antun möchte, könnte hier vielleicht endgültige Klarheit bringen. Indes – die Argumente für die Suizidthese sind meines Erachtens weitaus stichhaltiger als die vor allem in Russland offiziell bevorzugten zu Gunsten der Cholera-These. Modest, der ja seinen Bruder sehr gut kannte und in der später von ihm verfassten, ausführlichen Biografie übrigens Eduard Sacks Existenz und Rolle völlig verschwieg, dürfte ebenso wie die maßgeblichen Ärzte (auch in dieser Hinsicht gibt es eine vielsagende Tradition!) über den suizidalen Hintergrund der Erkrankung Peter Tschaikowskys Bescheid gewusst und die Sache zu vertuschen versucht haben.
All das ließe sich gewiss ausgiebiger diskutieren, wie es exemplarisch in Alexander Poznanskys Buch „Tschaikowskys Tod“ von 1998 geschehen ist. Dessen Bejahung der Cholera-These überzeugt mich am Ende nicht wirklich. Denn bei ihm und in den bisherigen Debatten zum Thema überhaupt ist die von mir hier vorgebrachte Beobachtung unberücksichtigt geblieben, dass nämlich der Entschluss zum Suizid zumindest unter anderem durch die ihm „heilige“ Erinnerung an Eduard Sack befördert worden sein dürfte, dessen tragischer Tod an jenem 2. November 1873 sich zum 20. Male jährte. Auch wenn dieses ihm tief eingeprägte Datum „2. November“ in seinem Kopf zunächst gemäß dem gregorianischen Kalender vor Augen stand, während es nach julianischer Zählung um den 21. Oktober ging, so war ihm das traurige Jubiläum jedenfalls bewusst – denn er dachte wie gesagt in beiden Kalendern. Gerade nachts hatte er sich einst laut der zitierten Tagebuchnotiz an seinen Liebling mit Tränen in unauslöschlicher Liebe erinnert: Sollte das nicht auch in jener Nacht zum „2. November“ 1893 der Fall gewesen sein, mit der dann die viertägige Todesqual begann?
Wenn sich damals noch wie dargelegt vielleicht weitere Umstände hinzugesellten, war der sensible, von seinen Neigungen gebeutelte und von diversen Schicksalsschlägen getroffene Komponist innerlich „reif“ zur Selbsttötung. Sein Bruder Modest blieb übrigens am Ende dem Trauergottesdienst fern – aus purem Schmerz oder weil ihm heimlich bewusst war, dass hier ein Suizid vorlag?
Werner Thiede
Pfarrer i.R. Dr. Werner Thiede ist apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist.