Tschaikowskys Suizid

Neue Zweifel am Cholera-Tod vor 130 Jahren
Das Grab des Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) in St.Petersburg/Russland (Foto: 2019).
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Das Grab des Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) in St.Petersburg/Russland (Foto: 2019).

Heute vor genau 130 Jahren, am 6. November 1893, verstarb der Komponist Peter Tschaikowsky, der bedeutendste russische Tonschöpfer der Romantik. Der Theologe Werner Thiede schreibt über die Umstände des Todes des Schwanensee-Komponisten, der wahrscheinlich ein Suizid war.

Am 2. November 1873 nahm sich in Russland der 19-jährige, musikalisch hochbegabte Gymnasiast Eduard Sack durch einen Pistolenschuss das Leben. Dieses Ereignis erschütterte den jungen Kompo­nisten und Kompo­sitionslehrer Peter Tschaikowsky, der gerade an seiner Orchester­fan­tasie „Der Sturm“ arbei­tete, zutiefst – und nachhaltig für den Rest seines Lebens. Denn Eduard war nicht nur einer seiner Schüler gewesen, sondern laut eines Briefes noch vie­le Jahre später sein am meisten geliebter Mensch!

„Ich stehe jetzt unter dem Eindruck einer schrecklichen Katastrophe, die einer mir nahe­ste­henden Person passiert ist“, schrieb er 1873 an seinen Verleger. „Meine Nerven sind furcht­bar erschüttert, und ich bin unfähig, irgendetwas zu tun.“ Tatsächlich findet die Annahme man­cher Tschaikowsky-Forscher meine Zustimmung, dass Eduards Sui­zid in einem kurz darauf von dem Komponisten fertiggestellten Trauermarsch und auch noch in seinem von Lebens­kraft, Innigkeit und Zärtlichkeit charakterisierten, binnen Jah­res­frist be­gonnenen 1. Klavier­konzert nachklingt.

Im Tagebuch notierte Tschai­kowsky noch fast 14 Jahre später so ausführ­lich wie zu keiner anderen Person: „Wie erstaunlich deut­lich er­innere ich mich an ihn: den Klang seiner Stimme, seine Bewegungen, vor allem aber den außeror­dent­lich wunderba­ren Gesichtsaus­druck, den er manchmal hatte! Ich kann mir nicht vorstel­len, dass er jetzt nicht mehr dasein soll. Sein Tod, das heißt seine völlige Nicht­exis­tenz, ist für mich unbegreiflich. Es scheint mir, dass ich noch nie jeman­den so sehr geliebt habe wie ihn. Mein Gott! Egal, was man mir damals sagte und wie ich mich zu trösten ver­suche, meine Schuld vor ihm ist schrecklich! Und gleichzeitig habe ich ihn geliebt, das heißt nicht geliebt, sondern liebe ihn immer noch, und sein An­den­ken ist mir heilig!“

Endgültig entschlossen

In Bezug auf diesen sehr beachtlichen und doch in der Tschaikowsky-Forschung immer noch kaum hinreichend gewürdigten Sach­verhalt lautet meine These: Es ist kein Zufall, dass sich fast genau 20 Jahre nach Eduards Selbsttötung, nämlich am 2. November 1893 – allerdings nach dem in den meisten europäischen Ländern geltenden gregorianischen Kalender, den viele Russen und na­mentlich der weitgereiste Tschaikowsky freilich stets mit im Kopf hatten –, der inzwischen welt­be­rühmt ge­wordene Komponist seinerseits endgültig zum Suizid ent­schloss. Das ist ein neuer Deu­tungs­vorschlag, der sich gegen die immer noch vorherrschende Annahme einer ur­sächli­chen Cho­lera-Erkrankung Tschai­kowskys richtet und den es im Fol­genden noch näher zu be­grün­den gilt.

Zunächst ist ein Blick auf das Liebesverhältnis zwischen Tschaikowsky und seinem eins­tigen Kompositions­schüler Eduard Sack fällig, einem Sohn Russlanddeutscher. Eine briefliche No­tiz des Teenagers beweist, dass beide das vertrauliche „Du“ gebrauchten. Bereits 1871 schrieb Tschaikowsky an seinen älteren Bruder Nikolay, der damals Edu­ards Chef war, er habe den Jungen „furchtbar vermisst“, und es sei für ihn „absolut not­wendig, ihn zu sehen.“ Be­denkt man, dass von Tschaikowsky – inzwischen deutlicher noch als in früheren Jahrzehnten – seine Homosexualität, ja seine Nei­gung zu jungen Knaben oder Männern hinlänglich be­kannt ist, dann liest sich auch gerade der zitierte spätere Tagebucheintrag von 1887 hinsichtlich seiner „größten Liebe“ als Beleg dafür, dass hier eine erotische Beziehung vorlag. Welche Schuld genau Tschaikowsky sich im Blick auf den Suizid des zärtlich „Edya“ genannten Jünglings vorwarf, muss zwar offenbleiben. Doch immerhin erbat die Mutter Eduards von dem Kom­ponisten Auskunft über das Suizid-Motiv ihres Sohnes, denn er sei doch der einzige, der es kennen könnte! Ra­phael Köber, ein Cousin des Toten, der zusammen mit ihm auf dem Kon­ser­vato­rium ge­wesen war, schrieb damals an Tschaikowsky: „Ich glaube nicht, dass Sie mehr zu be­reuen haben als ich.“ Aber doch immerhin etwas?

Weiß man um die ausgepräg­ten und ausgelebten homoerotischen Neigungen Tschai­kowskys, dann liegt es nahe, hier gewisse Zu­sammenhänge zu wittern. Das bestätigt sich, wenn man berücksichtigt: Im Sommer 1873 hielt sich Eduard im Umfeld eines anderen gutaussehenden jungen Mannes auf, den Tschaikowsky seinen Lieb­lingsschüler nennen konnte: Vladimir Shilovsky, nur zwei Jahre älter als Eduard. Dass auch zwischen ihm und seinem Komposi­tions­lehrer ein homoerotisches Verhältnis be­stand, bewei­sen briefliche Äußerungen. So war er es, dem Tschaikowsky 1877 am Tage seiner Hoch­zeit einen Brief schrieb, welcher mit den Worten endete: „Lebe wohl, meine Seele!“ Noch im März 1893 formulierte er an seinen „ge­liebten Wolodja“ Sätze, die auf ein gewisses Mi­lieu hindeuteten: „Poplavsky ist ein hüb­scher junger Mann, aber wenn er zu schlecht am Klavier ist, zögern Sie bitte nicht, ich besor­ge Ihnen einen anderen. Ich dachte, es würde Sie freuen, dass er oft nicht nur ein guter Musi­ker ist, sondern auch ein gutausse­hen­der Mann.“ Der Brief schließt mit „einer herzlichen Um­armung“.

Unglückliche Eheschließung

In einem entspre­chenden Umfeld be­wegte sich Eduard Sack 1873, und gewisse Spekula­tio­nen liegen in­sofern na­he, zumal Tschai­kowsky zu jener Zeit Shilovsky noch brief­lich – bloß andeu­tend – fragte: „Was ist mit Sack? Warst du erfolgreich oder nicht?“ Ob Vor­gänge in die­sem Milieu den Suizid „Edyas“ be­förderten, lässt sich nicht endgültig belegen; klar ist aber, dass Tschai­kowsky mit größten Selbstvorwürfen zurückblieb, deren Inhalt sich zumindest ein Stück weit erahnen lässt.

Für den Rest seines Lebens plagten ihn gelegentlich selber suizidale Neigungen – nicht zuletzt im Kontext seiner unglücklichen Eheschließung, die er nur angegangen hatte, um seine Ho­mosexualität vor der Öffentlichkeit nachhaltiger zu verstecken. Für die bald von ihm getrenntlebende, aber nicht geschiedene Ehefrau zahlte er bis zu seinem Tod. Zu seiner Mäzenin Na­deschda von Meck, die ihn als Komponisten durch das Stück „Der Sturm“  ken­nengelernt hat­te, bestand bekanntlich jahrelang ein rein platonisches Lie­besverhältnis: Dieses beendete die Dame umgehend, und zwar offenbar nachdem sie von seiner Homosexualität erfahren hatte – was den rät­selnden Tschaikowsky für den Rest seiner Tage deprimierte; noch auf dem Sterbe­bett rief er ihren Na­men aus. Todes­ahnungen und Todesneigungen zeigten sich in seinem letzten Jahr neben man­cherlei zuversichtlichen Äußerungen in besonderem Maße. Der erwähnte Freund Shilovsky starb im Sommer 1893, zeitnah kamen weitere Freunde hinzu. Die damals entstandene letz­te Sympho­nie, die „Pathétique“ in h-Moll (der Tonart von Bachs letztem Vokalwerk, der h-Moll-Messe!), enthält dem Komponisten zufolge zwar ein geheimes Programm, doch nannte er sie einmal ausdrücklich sein „Requiem“. Später er­klärte sein Bruder Mo­dest, sie sei bio­gra­fisch zu deuten; im leise verklingenden letzten Teil deuten sich un­überhörbar Todesgedan­ken an.

Die von dem 53-jährigen Tschaikowsky im Oktober 1893 noch geleitete Uraufführung dieser VI. Symphonie war nur bedingt erfolgreich. Deprimiert hat ihn aber etwas ande­res noch mehr: Sein geliebter, fast schon vergötzter Neffe Wladimir L. Dawidow, zärtlich „Bo­bik“ genannt, dem er diese letzte Symphonie gewidmet und den er auch zu seinem Univer­salerben einge­setzt hatte, verhielt sich in jenen Tagen abweisend und geradezu verletzend. Übrigens endete auch dieser junge Mann 13 Jahre später in einem Suizid.

Offiziell war es Cholera

Noch schwerwiegender könnten für den großen Komponisten damals aufkommende Dro­hun­gen, womöglich sogar ein geheimes „Ehrengericht“ wegen seiner früheren oder auch aktuel­len homosexuellen Akti­vitäten – je nach Überlieferung – gewesen sein. Darü­ber gibt es diver­se Traditionen und Spekulationen, die hier nicht diskutiert werden müs­sen. Es gilt aber zu be­rücksichtigen, dass schon unmittelbar nach Tschaikowskys Tod sich in der Bevölkerung Mut­maßungen breit machten, die der offiziellen Cholera-These misstrauten und von Suizid tuschelten. Es spricht einiges dafür, dass jene Ver­schwö­rungs­theorien, denen zufolge Tschai­kow­sky in Wahrheit an einer Selbstvergiftung ge­storben war, nicht nur aus der Luft gegriffen wa­ren. Das gilt übrigens auch im Blick auf den Umstand, dass es in jenen Tagen in Petersburg kaum noch Cholera-Tote gab – und wenn, dann gehörten sie fast immer nur sozial niedrigeren Bevölkerungsschichten an. Warum sollte just der eigentlich gesunde, wohlhabende Kompo­nist an dieser – noch dazu keineswegs für jeden Betroffenen tödlichen – Krankheit zu­grunde gegangen sein?

Tschaikowskys schließlich am 6. November vor 130 Jahren eingetretener Tod bleibt ge­wiss ein Rätsel; allein eine Ex­humierung, die man dem verehrten Toten freilich nicht antun möch­te, könnte hier vielleicht endgültige Klarheit bringen. Indes – die Argumente für die Suizid­these sind meines Erachtens weitaus stichhal­tiger als die vor allem in Russ­land offiziell be­vorzugten zu Gunsten der Cholera-The­se. Modest, der ja seinen Bru­der sehr gut kannte und in der später von ihm verfassten, aus­führlichen Biografie übrigens Eduard Sacks Existenz und Rolle völlig verschwieg, dürfte ebenso wie die maß­geb­lichen Ärzte (auch in dieser Hinsicht gibt es eine vielsagende Tradi­tion!) über den suizidalen Hin­tergrund der Erkrankung Peter Tschaikowskys Bescheid ge­wusst und die Sache zu ver­tuschen versucht haben.

All das ließe sich gewiss ausgiebiger dis­kutieren, wie es exempla­risch in Ale­xander Poznanskys Buch „Tschaikowskys Tod“ von 1998 gesche­hen ist. Des­sen Bejahung der Cholera-These überzeugt mich am Ende nicht wirk­lich. Denn bei ihm und in den bisherigen Debatten zum The­ma über­haupt ist die von mir hier vorge­brach­te Beobachtung un­berücksichtigt geblie­ben, dass nämlich der Entschluss zum Sui­zid zu­mindest unter anderem durch die ihm „heilige“ Er­innerung an Eduard Sack beför­dert wor­den sein dürfte, dessen tragischer Tod an jenem 2. November 1873 sich zum 20. Male jährte. Auch wenn dieses ihm tief einge­prägte Datum „2. No­vember“ in seinem Kopf zu­nächst ge­mäß dem gre­gorianischen Kalender vor Augen stand, während es nach julianischer Zählung um den 21. Okto­ber ging, so war ihm das traurige Jubi­läum jeden­falls bewusst – denn er dachte wie gesagt in beiden Kalendern. Ge­rade nachts hatte er sich einst laut der zitierten Ta­gebuchnotiz an seinen Liebling mit Tränen in unauslösch­licher Liebe erinnert: Sollte das nicht auch in jener Nacht zum „2. Novem­ber“ 1893 der Fall gewe­sen sein, mit der dann die viertägige Todesqual begann?

Wenn sich damals noch wie dargelegt vielleicht weitere Umstände hinzugesellten, war der sensible, von seinen Neigungen gebeutelte und von diversen Schicksals­schlägen ge­troffene Kom­ponist innerlich „reif“ zur Selbsttötung. Sein Bruder Modest blieb übrigens am Ende dem Trau­ergottesdienst fern – aus purem Schmerz oder weil ihm heimlich be­wusst war, dass hier ein Suizid vorlag?

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Werner Thiede

Pfarrer i.R. Dr. Werner Thiede ist apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist. 


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