Ausgleich statt Vertreibung
"Wird nie Frieden im Heiligen Land?" Diese Frage stellen wir angesichts des Terrorangriffes der Hamas und der Gegenwehr Israels mehreren kundigen Menschen aus Kirche, Religion und Politik. Hier die Antwort von Johanna Haberer, Prof. em. für christliche Publizistik, die als Pfarrerin in Ostjerusalem gearbeitet hat.
Ende Juli, wenige Tage vor meiner Abreise aus Israel dachte ich: Jetzt wird es ernst. Überall wurde geschossen. Blitze in der Luft über dem palästinensischen Stadtviertel At-Tur. Ich packte meinen Rucksack mit den Papieren, der Geldbörse und dem Handy und eilte ins Cafe der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg. War es ein Schusswechsel zwischen Israelis und Palästinensern? Oder war es ein Schusswechsel zwischen den Demonstranten gegen die Dekonstruktion der parlamentarischen Demokratie in Israel und den Ordnungskräften? Wenn man die Nachrichten verfolgte, konnte man schon im Sommer schnell auf den Gedanken kommen, dass ein Funke genügt und ein Krieg mit vielen Fronten könnte beginnen.
Aber nein, alles war ganz anders. Wie so oft in diesem Land. Die palästinensischen Familien feierten den Schulabschluss ihrer Kinder mit einem Feuerwerk. Wer um Himmelswillen feuert um neun Uhr morgens ein Feuerwerk ab? Nun ja. Stolze Eltern.
Tägliche Provokationen
Vier Monate habe ich in diesem Jahr die Pfarrstelle auf dem Ölberg vertreten. Das ist in Ostjerusalem: Palästinensergebiet. Ich habe unendlich viele Gespräche geführt. Ich habe die unsichtbare Mauer kennengelernt, die durch die Heilige Stadt geht. Die täglichen Provokationen der rechtsradikalen israelischen Minister, die ungeschminkt sagen, dass sie ohne Rücksicht auf Verluste palästinensisches Land besiedeln werden. Ich habe den evangelischen Christen Dawoud Nasser in Bethlehem kennengelernt, der seit 35 Jahren, das Land seiner Vorfahren gegen Übergriffe der Siedler verteidigt und auf seiner Web-Seite schreibt: Angesichts der großen Ungerechtigkeit wissen wir, dass wir nicht hassen, verzweifeln oder fliehen sollten. Wir weigern uns Feinde zu sein.“ Ich habe auch das fröhliche glückliche Tel Aviv kennengelernt, wo man nachts am Strand bis in den Morgen tanzt und die Welt steht denen offen, die Juden sind.
Beide Teile dieses Landes wollen die Lebensrealität des anderen nicht wahrnehmen. Die ortsansässigen Christen sind entweder in Botschaften oder Schulen tätig, oder sie arbeiten seit Jahrzehnten für NGOs im Palästinenserland. Sie werden derzeit von muslimischer und jüdischer Seite in die Zange genommen, es kommt vor, dass Männer im Ordensgewand demonstrativ angespuckt werden. Um die Weihnachtszeit im vergangenen Jahr wurde der evangelischen Friedhof geschändet.
Tiefer Schmerz
Wir haben in der evangelischen Gemeinde über den Nahost-Konflikt heftig gestritten und mit Positionen und Argumenten gerungen. Und am Ende fühlt es sich an, als wüsste ich weniger über dieses Land und seine Menschen als bei meiner Ankunft. Meinungen sind widerlegt worden. Positionen in Frage gestellt. Ich fuhr ab in tiefer Verunsicherung, was ich allerdings für einen produktiven Zustand halte. Denn Verunsicherung schützt vor Besserwisserei. Ich verließ dieses wunderschöne und aufregende Land in großer Sorge, denn die Kräfte, die den Exodus der Palästinenser mit Verve betreiben sind dabei, die Oberhand zu bekommen.
Und ich verließ dieses Land mit einem tiefen Schmerz. Denn je mehr man über die Menschen hier weiß – über ihre Träume, Fähigkeiten und Visionen - um so größer wird der Schmerz darüber, wie überirdisch schön dieses Land doch sein könnte, wenn alle zusammen und nicht in wachsendem Hass gegeneinander arbeiten würden. Es ist ein Land, das so reich ist an engagierten Menschen, so vielfältig, so interkulturell und international. Ein Publizist, der den neuen Staat Israel bereiste schrieb schon 1948: wenn die Probleme in Israel gelöst seien, seien alle Probleme der Welt lösbar, denn in diesem Land fokussieren sich alle Fragen, die künftig im Zusammenleben auf dieser Welt beantwortet werden müssen: die des religiösen, des kulturellen, nationalen und ethnischen Zusammenlebens ohne Herabsetzung und Demütigung des jeweils anderen.
Nach dem unvorstellbar grausigen Überfall der Hamas ist nun die Hölle ausgebrochen. Wenn in Israel/Palästina und Gaza Ruhe einkehren wird, wird es eine Friedhofsruhe sein. Es könnte ein Lichtblick sein, wenn Israel nach diesem Sicherheitsdesaster eine Regierung bekommt, die auf Ausgleich setzt, statt auf Vertreibung und Verdrängung der Mitbürger.
Johanna Haberer
Johanna Haberer ist emeritierte Professorin für christliche Publizistik und beratende Mitarbeiterin von zeitzeichen.