Der Zukunft zugewandt

„Bach for Future“: Leipziger Bachfest 2023 mit besonderem Jubiläum
Sommer vor der Leipziger Thomaskirche.
Foto: picture alliance
Sommer vor der Leipziger Thomaskirche

Mit den Gedenkjubiläen von Johann Sebastian Bach (1685–1750) ist es einfach: Geht es um den runden oder halbrunden Geburtstag, fällt er auf die Jahreszahl 85 oder 35; geht es um den runden oder halbrunden Todestag, endet die Jahreszahl auf 50 oder 00. Reine Mathematik. Insofern liegt das letzte ganz runde Bachjahr 2000 schon ein wenig zurück und das nächste halbrunde, 2035, lässt noch ein bisschen auf sich warten.

Dazwischen aber gibt es jedes Jahr das Bachfest Leipzig, immer Mitte Juni, wenn das Wetter meist gut und die Tage garantiert lang sind, zu dem Tausende Besucher aus aller Welt anreisen. Und in diesem Jahr gab es dennoch ein Jubiläum besonderer Art zu feiern: Vor genau 300 Jahren trat Johann Sebastian Bach als Thomaskantor in Leipzig an. Am Sonntag Trinitatis des Jahres 1723 führte er im Gottesdienst das erste Mal eine Kantate auf: „Die Elenden sollen essen“, heute unter Bachwerkeverzeichnis (BWV) 75 geführt.

Fulminantes Werk

300 Jahre später sang der Thomanerchor beim Eröffnungskonzert in der Thomaskirche nicht nur Bachs Leipziger Kantatenerstling, sondern auch die Uraufführung einer schlicht „Kantate“ genannten Auftragskomposition des Komponisten und Klarinettisten Jörg Widmann (*1973). Ein fulminantes Werk, beginnend mit Glocken- und einsamen Saxophontönen vorne im Altarraum an Bachs Grab. Und dann folgte eine 40-minütige Klangreise für Chor, Solisten und Symphonieorchester, die man so schnell nicht vergessen wird: Sprechen, Zischen, A-cappella-Töne, ineinander verwobene hochromantisch anmutende Klanggebilde und das alles unter Verwendung hochkarätiger Texte: Bibelverse von Hiob bis 1. Korinther 13, dann – sehr dramatisch vertont! – Auszüge aus der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ von Jean Paul (1763–1825), ein dystopischer Klassiker imaginierter Hoffnungs- und Sinnlosigkeit, der seinen einzigen Trost darin findet, dass der Autor ihn in letzter Sekunde als Alptraum zu erkennen gibt („… als ich erwachte“), Bertolt Brecht, Dietrich Bonhoeffer („Von guten Mächten“ – alle sieben Strophen!) und zu guter Letzt, zum Halleluja, noch Paul Gerhardts Friedenslied „Gottlob! Nun ist erschollen“. Die Menge tobte! Hoffentlich muss dieses Werk nicht das Schicksal vieler anlassbezogener Auftragskompositionen teilen, dass es nur einmal aufgeführt wird. Widmanns Kreation hat es verdient, ins gehobene Repertoire zu rücken, auch wenn das Libretto quantitativ an der oberen Kante konzipiert ist. Wie auch immer, die gute Nachricht ist: Wer es verpasst hat, kann es im MDR-Archiv nachhören (siehe unten).

„Bach for Future“ – so hieß das Leipziger Motto in diesem Jahr. Darin reflektiert sich das Bestreben des Bachfestes und seines energiegeladenen Intendanten Michael Maul, neben der unbestrittenen und weltweit konkurrenzlosen A-Note – nämlich der perfekten, mitreißenden Aufführung Bach’scher Werke an den Originalstätten – auch zunehmend andere Formen und Fortschreibungen von Bach zu kultivieren. So gab es neben Widmanns Jubiläumskantate auch „Et Lux“ zu hören: Ein Pasticcio aus Kantatensätzen Bachs, die vom Dichter und Schriftsteller Thomas Kunst (*1958), dem diesjährigen Kleist-Preisträger, mit neuen Texten versehen wurden, die der heutigen Sicht auf Leben und Sterben eindrücklich Ausdruck geben. Für die musikalische Konzeption und Aufführung trugen die Leipziger Sopranistin Julia Sophie Wagner und der Berliner Dirigent Jakob Lehmann Verantwortung. Spannend und ein in jeder Hinsicht für die Bachrezeption zukunftsträchtiges Projekt! 

Hier können Sie das Konzert vom 8. Juni mit Jörg Widmanns Auftragskomposition „Kantate – eine Reflexion“ in der MDR-Mediathek nachhören; Widmanns Stück beginnt um 01:16:07:

https://www.mdr.de/mdr-klassik-radio/klassikthemen/leipzig-bachfest-johann-sebastian-bach-eroeffnungskonzert-thomaskirche-thomaner-100.html.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"