Wer denkt je daran, wenn er in einer neuen Heimat Fuß zu fassen sucht, einmal einer ihrer bedeutendsten Dichter zu werden? Der 1938 im Königreich Jugoslawien geborene und 1953 in die USA emigrierte Charles Simic (Dušan Simić) ist ein solcher. Er, 85 Jahre alt, erhielt 1990 den Pulitzer-Preis und wurde 2007 der 15. Poet Laureate der USA. Immer mit Gedichten, die nichts mehr und nichts weniger zu erzählen vorgeben als pure, ungeschminkte Alltäglichkeit. Sie sind reduziert auf selten mehr als zwölf Verse in drei oder vier Strophen – eingelagert je auf einer halben Seite. Aber diese halbe Seite ist für sich genommen jedes Mal ein ganzer Moment, ein ganzer Atemzug bei einer Einstellung der inneren Kamera mit größtmöglicher Belichtung.
Den ersten Gedichtband hat Charles Simic 1967 herausgegeben und dann mit unermüdlichem Fleiß regelmäßig nachgelegt. Gut vierzig Bände hat er seither gefüllt – einander zunehmend ähnlich: nie lang, immer in Notizbuchseitenlänge, nie in sich stark verändernder Form, immer in dichten Tetrametern oder Pentametern, nie im klassischen Reim, allenfalls indirekt über Assonanzen und Alliterationen – vermeintlich nüchtern und dabei immer erhellend und wegweisend neu an ein und demselben Sujet kauend: Was sind wir uns selbst für ein Geheimnis? Dieser universell-existenziellen Frage begegnet Charles Simic mit universell-existenzieller Neugierde. Und wie jede Antwort auf Universell-Existenzielles am Ende verblüffend kurz und klar ist, sind auch Charles Simic’ Botschaften folgerichtig. Sie münden jedes Mal darin, einem Wesentlichen Platz zu schaffen – wie in „Zimmer frei“: „Hinten gab es ein winziges Zimmer / Mit einem Bett und einem Stuhl. / Und einer finsteren Alten, / Die einem die Tür öffnete / Und sofort die Biege machte, / Dich dort allein ließ / Mit einem kümmerlichen Sonnenstrahl / Als einzigem Gesprächspartner, / Wenn er sich mal zeigte, / Und wenn er verschwände, / Müsstest du schweigen.“
Die Themen und Bilder Charles Simic’ sind im Vokabular allesamt alltäglich. Sie sind unempfänglich für große Gesten, lyrische Umfärbung, symbolistische oder surrealistische Chiffrierung und metaphysische Verschwiegenheit. Sie beziehen sich auf eine Wirklichkeit, auf die es keinen intellektuellen Zugriff gibt, weil sie sich geradezu anarchisch gebärden in dem, was sie sind und zulassen. Das sind der Stolz und der hohe Ton der Momente, denen Charles Simic sein Wort gibt. Daraus erwachsen Authentizität auf der einen und Respekt auf der anderen Seite. Im Resultat dieser Begegnung hat jedes Wort seine genaue Stellung im Vers und verhilft jedem Vers zu seinem sorgsam ausgepulsten Maß – dem Maß absichtsloser Lebendigkeit.
Der schönen Schwerstarbeit, diese am Ende scheinbar so salopp daherkommende, fein justierte Sprachfinesse ins Deutsche zu übersetzen, haben sich der umtriebige, poetisch genialische Spürhund Michael Krüger und die farbweise Übersetzerin Wiebke Meier angenommen. Die Gedichte reden, worüber zu reden ist: über ungebetene Gäste und Heilige, Raststätten und Rettungsboote, über Seifenblasen und Brandstiftung. Sie meditieren in der Gosse und über „Zeit – dieser Mörder / Den keiner bisher gefasst hat.“
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.