Ich und wir

Theologische Erkundungsgänge

Als 39. Band ist in „Dogmatik in der Moderne“ eine Monografie erschienen, die in besonderer Weise einlöst, was der Reihentitel verspricht: Themen der Dogmatik mit Fragen und Herausforderungen unserer Lebenswelt ins Gespräch zu bringen. Dies gelingt Karl Tetzlaff in Form von „Erkundungsgänge[n]“, die er durch das „Spannungsfeld von Ich, Wir und Gott“ unternimmt. Diese nehmen die Leserschaft mit hinein in einen mehrfachen Erschließungsvorgang, in dessen Zentrum die Frage nach dem „Verhältnis von Selbstsein und Anerkennung“ steht.

Dass dies ein zentrales Thema der Gegenwart ist, bedarf – man denke nur an die Schattenseiten der Leistungsgesellschaft oder die Debatten um Identitätspolitik – keiner weiteren Begründung. Dass es dem Autor trotz der Omnipräsenz des Themenfeldes im öffentlichen Diskurs gelingt, hier neue Einsichten zu eröffnen, liegt sowohl an seinem erfrischenden literatursoziologischen Zugriff auf Gegenwartsphänomene als auch in der klugen Verschränkung seiner – den dritten Hauptteil des Buches bildenden – „gegenwartsdiagnostische[n] Perspektiven“ mit zwei weiteren Zugängen.

Dies sind zum einen – im ersten und umfangreichsten Hauptteil – „theologische Perspektiven“, die Tetzlaff bei drei protestantischen Theologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet: Eberhard Jüngel, Falk Wagner und Traugott Koch. Zum anderen setzt Tetzlaff die theologischen zu „philosophische[n] Perspektiven“ ins Verhältnis, die er anhand von Axel Honneth und Joel Whitebook entwickelt. Dabei spielt der Autor auf geschickte Weise in die zweiten beiden Hauptteile theologische Reflexionen im Anschluss an Jüngel, Koch und Wagner ein, wodurch er sie nicht nur an den ersten Hauptteil zurückbindet, sondern eben diejenigen Verschränkungen erzeugt, die Theologie, Philosophie und Gegenwartshermeneutik miteinander ins Gespräch bringen und einen inhaltlichen Mehrwert über die Binnendiskurse der einzelnen Disziplinen hinaus bewirken.

Ebenso gewinnbringend wie dramaturgisch gekonnt bringt Tetzlaff innerhalb der drei Hauptteile die jeweils betrachteten Positionen miteinander ins Gespräch. Dem sei mit Blick auf die Theologie nachgegangen. Hier würdigt der Autor zunächst das Potenzial von Jüngels „Reformulierung des Rechtfertigungsartikels“, das darin zu sehen ist, dass dem Menschen aus „der Differenz, in die [er] dadurch, dass er vor Gott ‚schon etwas ist‘, zu dem versetzt wird, was er innerhalb der Sozialverhältnisse sein soll, […] die Freiheit zu[wächst], etwas Eigenes zu sein“. Dabei profiliert er im Kontrast zu Wagners „Theologie der Anerkennung“ die Ambivalenz des Jüngelschen Ansatzes – nämlich, dass das, „woraus göttliche Anerkennung befreien soll, dass man sich ganz und gar von der Anerkennung unter seinesgleichen abhängig macht, widersprüchlicher Weise im Gottesverhältnis wieder[kehrt]“.

Während Tetzlaff durchaus für das Anregungspotenzial wirbt, das in Wagners Ansatz liegt, der Gott zum „Prädikat von Anerkennungsverhältnissen macht“, markiert er den darin liegenden Reduktionismus, dass „‚Gott‘ so zum Inbegriff eines normativen Sollens erklärt“ wird, als hinreichend problematisch. Vor diesem Hintergrund entfaltet er als einen überzeugenden Zugang Kochs „theologische Begründung einer frei gewollten Sozialität“: „An Gott [zu] glauben“ […] heißt aus Kochs Sicht nichts anderes, als „darauf [zu] vertrauen, was im Miteinander von Menschen dennoch möglich werden kann. Dabei hat er eben Erfahrungen sich einstellender Gemeinsamkeit im Blick, in denen sich, wie er schreibt, ‚Gott unter den Menschen‘ vergegenwärtigt.“

Nicht zuletzt Traugott Koch der evangelischen Theologie wieder in Erinnerung gerufen und für aktuelle Fragen fruchtbar gemacht zu haben, ist eines der großen Verdienste von Tetzlaffs Buch.

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Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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