Zuflucht bei Bach

Die Kirche und der umgekehrte Klassismus in der DDR
Das Titelbild de Mai-Ausgabe von zeitzeichen: Der Dresdner Kreuzchor singt vor voller Kirche.
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Das Titelbild de Mai-Ausgabe von zeitzeichen: Der Dresdner Kreuzchor singt vor voller Kirche.

Unser Mai-Schwerpunkt zum Klassismus in der evangelischen Kirche bewegt weiter die Gemüter. So hat die Verknüpfung des Klassismus-Vorwurfes mit „Bach und Bürgertum“ Sebastian Kranich, Direktor der Evangelischen Akademie in Thüringen, zu einer biographisch geprägten Reaktion herausgefordert. Denn in der DDR sei gerade die Kirche inklusive Kreuzchor und Bachkonzerten ein Zufluchtsort für diejenigen gewesen, die unter dem verordneten Klassismus des Staates litten.

„Vielleicht lag es daran, dass ich aus dem Osten war …“ überlegt Klaudia Riedel, Pfarrerin in Gera, in der Klassismus-Debatte. Aufgrund ihrer Thüringer und sozialen Herkunft sei mit ihr in Baden-Württemberg häufig herablassend umgegangen worden.

Wer jetzt spontan mit „Jammer-Ossi“ reagiert, sei gewarnt. Denn Stereotype über Ossis sind oft mit Klassismus verknüpft: von dummen Witzen bis zum Klischee vom bildungsfernen dicken „Nazi-Proll“, wie Francis Seeck in ihrer Streitschrift „Zugang  verwehrt“ schreibt. Diese dienten der Befestigung struktureller Ungleichheiten und der Absicherung westdeutscher kultureller wie materieller Vorteile. Seeck fordert daher die Anerkennung von Klassismus und „Ostdiskriminierung“ als eigenständige Diskriminierungsmerkmale.“

Osten und Klassismus: Diese komplexe Beziehung ist bisher wenig im Blick. Denn es sind vor allem Westdeutsche, die prominent von eigenen Klassismus-Erfahrungen berichten. Da kommt auch die DDR kaum vor: ein Staat, der dem Anspruch nach von einer „Partei der Arbeiterklasse“ beherrscht wurde. In dem es aber, so Seeck, Ausgrenzung von sogenannten Asozialen und Heimkindern sowie eine erhebliche Bildungsungleichheit gab.

Unterschlupf bei Kirchens

Da wird es auch richtig interessant für die gesamtdeutsche Evangelische Kirche. Weil der Osten hier eine andere Geschichte und Prägung hat. Thema „Asoziale“: In der DDR konnte man wegen „arbeitsscheuen Verhaltens“ verurteilt werden. Ausreisewillige wurden mitunter fristlos gekündigt und anschießend verfolgt. Unterschlupf fanden sie nicht selten bei Kirchens, wo sie als Friedhofs- und Hausmeister, als Pförtner bei der Diakonie etc. angestellt wurden. Thema Heimkinder: Die Einweisung in Heime und Jugendwerkhöfe ereilte nicht selten unangepasste Jugendliche. Diesen bot die Evangelische Kirche in ihrer „Offenen Arbeit“ einen Freiraum für politische Diskussionen und individuelle wie kollektive Selbstermächtigung

Thema Bildungsungleichheit: Gezielt sollte nach 1945 das bürgerliche „Bildungsmonopol“ gebrochen werden. Die Herkunft der Kinder nach Klassen- und Schichten wurde erfasst. Gefördert werden sollten die Kinder von Arbeitern und Bauern. Rasch aber reproduzierte sich die neue sozialistische Intelligenz selbst. So häufig wie systematisch wurden Kindern aus christlichen - keineswegs nur bürgerlichen und gebildeten - Elternhäusern in der DDR Abitur und Studium verwehrt. In „Unterm Staub der Zeit“ schrieb Christoph Hein jüngst darüber. Bis heute tragen Menschen an den Folgen der klassenkämpferischen Bildungsdiskriminierung.

Theologie statt Architektur

Andere kamen über Umwege und Zwischenschritte zu ihren Positionen. Götz Planer-Friedrich, ab 1991 Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen, dann Chefredakteur der Evangelischen Kommentare, durfte nicht Architektur studieren. So machte er eine Lehre als Maurer. Erst danach wurde er Theologe. Harald Bretschneider, Erfinder von „Schwerter zu Pflugscharen“, durfte ebenfalls nicht Architektur studieren und wurde gleichfalls Theologe. Vor seinem Dienst in der Kirche absolvierte Bretschneider eine Lehre als Zimmermann und arbeitete im Baukombinat Magdeburg, weil er wissen wollte, „ob sich Gottes Lebendigkeit unter den ungläubigen Bauarbeitern“ ereigne.

Der NVA-Bausoldatendienst, den Bretschneider zudem leistete, gehört fast zur Standardbiografie von evangelischen Theologen, die in der DDR aufgewachsen sind: Abgesehen von der Waffendienstverweigerung bedeutete er etwa: Waldarbeiter oder Gleisbauer sein, Arbeit auf der Baustelle des Fährhafens Mukran bei Prora oder in der maroden mitteldeutschen Chemieindustrie, in Leuna, Wolfen, Bitterfeld. In der DDR hatte man so fast zwangsläufig milieuüberschreitenden Kontakt zur „werktätigen Bevölkerung“.

Beschämt und beschimpft

Und um auch noch etwas zu den Frauen zu sagen: Sie wurden, wenn sie kein Abitur machen oder nicht studieren durften, zunächst nicht selten Apothekenfacharbeiter (sic!) oder Krankenschwester. All das kann im Nachhinein auch von Vorteil sein. Weil man durch diese Erfahrungen anders mitreden, punktuell auch anders mitfühlen kann.

Wer sich mit dem Osten, genauer mit der evangelischen Kirche im Osten beschäftigt, der ist genötigt, die Koordinaten des Klassismus zu verschieben. Mit Luther oben, mit Müntzer unten: dieses schlichte Schema ist hier verfehlt. In der DDR gab es, je länger, je mehr, eine kulturelle Dominanz des Kleinbürgertums, mehr noch als eine des Proletariats. Auch existierte ein „roter Adel“. Vor allem aber gab es das Bestreben, alles was christlich und bürgerlich war oder schien, zurückzudrängen. Das Ziel bestand im Kommunismus, der klassenlosen Gesellschaft. Bis dahin dominierte laut SED die „Macht der Arbeiter und Bauern“.

Nur um es in Erinnerung zu rufen: Kinder, die die Christenlehre besuchten, wurden wieder und wieder vor der versammelten Klasse beschämt und als dumm hingestellt. Kreuzketten mussten in der Schule abgenommen werden. Walter Ulbricht warb für die sozialistische Jugendweihe mit den Worten: „Bei uns wird die Wahrheit gelehrt, und sie ist einfacher als gewisse Hirngespinste.“

Auch eine Vorgeschichte

Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass ein Walter Ulbricht die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend in der Klassengesellschaft des Deutschen Kaiserreichs machte - geboren 1893 als Sohn eines Schneiders, in der SPD-Hochburg Leipzig, im „roten Königreich“ Sachsen. Der kommunistische Klassismus war auch reaktiv.

Vergessen werden sollte aber auch nicht, dass es politisch bei den Nationalsozialen um Friedrich Naumann und theologisch im Evangelisch-Sozialen Kongress das Bemühen gab, die Spaltung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum zu überwinden. Die Sächsische Evangelisch-Soziale Vereinigung etwa bekämpfte die Übernahme der Strukturen der Klassengesellschaft in der Kirche, die sich zum Beispiel in den Gebührenklassen für Kasualien spiegelte. Der Olbernhauer Pfarrer Walter Kötzschke konstatierte in diesem Zusammenhang, die Arbeiter erlebten eine Kirche, in der ein „Klassensystem“ existiere, in dem sie wegen ihrer „Geldmittel“ zu den „untersten Klassen“ gehörten. Sie machten an den Wendepunkten des Lebens die Erfahrung, dass sie „zwar vor Gott ein Gotteskind, - Jesus gegenüber ein Bruder oder eine Schwester, aber in der Kirche doch ein Mensch 1., 2. oder 3. Klasse“ sind. Eine solche Behandlung, das damals schon unter dem Schlagwort „Filtriersystem“ problematisierte Übergewicht des Establishments in den Synoden, die Verweigerung des kirchlichen Wahlrechts für Almosenempfänger, die von sozialistischen Agitatoren wie konservativen Kirchenchristen bekämpfte Mitarbeit von Sozialdemokraten in Kirchenvorständen: All dies gehört in die Vorgeschichte das umgekehrten Klassismus in der DDR.

Subversive Selbstbehauptung

Dieser kam mir in den Sinn beim Titelbild der Printausgabe der Mai-zeitzeichen zum Thema Klassismus: Er zeigt die gut gefüllte Dresdner Kreuzkirche bei einem Konzert des Dresdner Kreuzchors. Bildunterschrift: „Bildung, Bach und Bürgertum. Die evangelische Kirche und ihr Klassismus“. Der Schwerpunkt wird im Heft mit dem Bild einer Büste von Bach in der Nikolaikirche Leipzig abgebunden. Nebenstehendes Zitat lautet: „Nichts gegen Bach-Oratorien, aber sie markieren immer wieder neu eine gewisse Milieugrenze“.

Letzteres ist gar nicht zu bestreiten. Doch boten der Kreuz- wie der Thomanerchor für Jungs aus christlichen Elternhäusern eine Chance, dennoch zum Abitur zu kommen. Hier prallten Christliches und DDR-Sozialistisches mitunter hart aufeinander. Nur eine Geschichte:

Am ersten Tag des Schuljahres war Fahnenappell und das Erscheinen im weißen Hemd und mit Pionierhalstuch Pflicht. Als die neuen Kruzianer der 4. Klassen in diesem Aufzug den Speisesaal des Chores betreten wollten, standen ältere an der Tür und forderten sie zum Ablegen der Halstücher auf. Hier ginge es mit der „Rotzfahne“ nicht hinein. Tatsächlich war dieser Raum Tabu für Accessoires der Pioniere und der FDJ. Stattdessen wurde zu Beginn der Mahlzeiten gemeinsam Heinrich Schütz gesungen: „Aller Augen warten auf dich Herre“.

Akte subversiver Selbstbehauptung waren es auch, wenn der Chor in einem Konzert vor Offizieren der Nationalen Volksarmee die Bach-Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ oder bei einer Demonstration der Freien Deutschen Jugend unter dem Motto „Gegen NATO-Waffen Frieden schaffen!“ die Fest- und Gedenksprüche von Johannes Brahms zum Besten gab.

Protestantisches Residualmilieu

Für das protestantische Residualmilieu in Dresden und Leipzig fungierten Kreuz- und Thomanerchor; Kreuz-, Thomas-, und Nikolaikirche als Fixpunkte. Doch wurden für „Bildung, Bach und Bürgertum“ auch politische Kompromisse gemacht. Martin Flämig als Kreuzkantor war in der Ost-CDU, der Trompeter Ludwig Güttler ebenso.

Das alles hatte bisweilen einen opportunistischen, manchmal konservierenden Beigeschmack, doch nicht nur. Wenn am 13. Februar in der Kreuzkirche das Requiem von Giuseppe Verdi, Gabriel Fauré oder Rudolf Mauersberger mit Dresdner Kreuzchor und Dresdner Philharmonie zu Ende war, folgte der ökumenische Friedensgottesdienst. Viele blieben dafür gleich sitzen. Im Anschluss ging es gut 600 Meter weit mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche – zum alternativen Gedenken an die Zerstörung der Stadt: eine Kerzen-Demo im Vorfeld der Friedlichen Revolution, die dem Klassismus der SED-Diktatur ein Ende setzte.

Was tragen diese Geschichten aus einem Gegenmilieu zum kirchenfeindlichen und unterdrückenden Arbeiter- und Bauernstaat heute aus? Sie können Warnung sein vor jeglicher Diskriminierung, die im Gewand der Gleichheit wie der Ungleichheit daherkommen kann.

Und vielleicht sind die kulturellen Schranken dann doch nicht so hoch – oder waren es nie. Fußball jedenfalls verbindet. Zu meinen Zeiten im Chor sind wir regelmäßig vor der Vesper am Samstag ins Stadion gegangen, als und wie andere Dynamo-Fans. 2015 sang der Kreuzchor dort erstmals sein großes Adventskonzert. In den Folgejahren bis Corona kamen jeweils über 25.000 Besucher. Ziel aus Sicht des Chors: Auch Menschen erreichen, die keine Kirchgänger und Klassikhörer sind. Begründung für den Sportgeschäftsführer des Vereins, den einstigen Dynamo-Mittelstürmer und DDR-Nationalspieler Ralf Minge vor dem ersten Konzert: „Der Kreuzchor und Dynamo sind zwei Institutionen, die aus Dresden nicht wegzudenken sind.“ Die Veranstalter werben: „Gemeinsam mit dem Publikum erklingen unter dem Firmament hunderter Herrnhuter Sterne und dem Glanz tausender Handylichter Weihnachts-Klassiker wie „Sind die Lichter angezündet“ und „Stille Nacht, heilige Nacht“. Der Hashtag für die Wiederaufnahme in diesem Dezember ist #endlichwiedergemeinsam2023.

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