Eine willkommenheißende Inklusion

Eine freundliche Achtsamkeit miteinander wird nicht im Streit um Gerechtigkeit zu finden sein
Foto: Merle Specht

Dass es noch vielfältige Formen der Diskriminierung in unserer Gesellschaft gibt, dürfte unbestritten sein. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hierbei seit längerem Dimensionen der Geschlechtlichkeit. Besonders auf der Ebene der Sprache sind sie diskursrelevant geworden und werden markiert mit Binnen-I, Gendersternchen und anderen Derivaten derselben Idee.

So wichtig Differenzierung ist, so unzureichend glückt sie mit diesen Versuchen jedoch. Denn das Problem all dieser Vorschläge ist eine potenziell diskriminierende Überbetonung von (dualer) Geschlechtlichkeit. Menschen, die sich jenseits der Dualität von männlich und weiblich definieren und sich nicht als divers verstehen, sondern weitestgehend unabhängig von gender und sexus als Person konstituieren, werden mit der gängigen Praxis des Genderns permanent auf eine Identifikationsdimension reduziert, über die sie sich nicht definieren (lassen) wollen.

Eine Person kann auch Mann/Frau/? sein, ohne permanent auf dieses Mannsein, Frausein, ?-Sein angesprochen werden zu wollen, weil sie sich auf ganz anderen Ebenen definiert, etwa über die eigene Rolle im familialen oder freundschaftlichen Nahfeld, den Beruf, Interessen und vieles mehr. Es gibt jugendliche, technikinteressierte, die Krankenpflege lernende Personen, fürsorgliche Kinder ihrer psychisch erkrankten Eltern, religiöse Menschen, für die all diese Merkmale ihres Personseins deutlich mehr Gewicht im Alltag und Selbstverständnis haben als ihr Geschlecht.

Außerdem: Wenn es bei inklusiven Sprachformen vor allem darum geht, Diskriminierung zu vermeiden, müssen Sprechsituationen in weit höherem Maße daraufhin bedacht werden, welche Exklusionsdimensionen in ihnen die wahrscheinlichsten und schwerwiegendsten sind, und auf diese reagiert werden. Ein Beispiel: Ein Einleitungstext im Programmheft zu einer Symphonie sollte nicht beginnen mit den Worten: „Liebe Freundinnen und Freunde der Musik Beethovens“, sondern viel diversitätssensibler ausfallen: „Liebe Kinder und Ältere, liebe Gesunde und Erkrankte, liebe Menschen mit und ohne Handicap, die Sie die Liebe zur Musik Beethovens alle vereint.“

Mir ist es an einem Konzertabend noch nie begegnet, dass eine Frau aufgrund ihres Frauseins oder ein Mann aufgrund seines Mannseins schräg angeschaut wurde. Wer hingegen mit seinem Kind ein Abendkonzert besucht, kann sich schon einmal auf Fragen gefasst machen, wie: „Hält der Kleine denn so lange durch?“ – oder indirekt über das Kind an die Eltern gerichtet und dadurch noch dreister: „Darfst du denn schon so lange wachbleiben?“

Aus beidem spricht die Warnung: Das Kind möge gefälligst den Kunstgenuss nicht stören!

Für viele ist das „Restless-Legs-Syndrom“ ein Ausschlusskriterium für den Besuch eines Konzerts. Und jenem, der mit einer Trisomie-21 geboren wurde, kann die (implizite) Unterstellung begegnen, dem Anspruch der Veranstaltung nicht gewachsen zu sein.

Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Die Frage nach willkommenheißender Inklusion ist kaum hinreichend mit geschlechtersensibler Sprache beantwortet, sondern bedarf deutlich weitreichenderer Aufmerksamkeit. Die Bemühungen darum nicht zu scheuen, wäre für mich Ausdruck aktiver christlicher Nächstenliebe. Je nach Anlass gilt es, die Frage mitlaufen zu lassen: Auf welchen Ebenen werden Menschen hier vielleicht ausgeschlossen, die ein Interesse an Partizipation haben? Und mit welchen Gesten können wir ihnen vermitteln, dass sie willkommen sind? Diese werden nicht immer kognitiv-enggeführt, nur sprachlich verfasst sein dürfen.

Zu einer „gerechten Sprache“, wie es Vertreter des Gender-Mainstreamings zuweilen für sich reklamieren, werden wir damit nicht kommen. Denn je mehr wir die Augen für die schuldhaften Verstrickungen öffnen, in die wir eingebunden sind und an denen wir mitweben, umso mehr werden wir diesen gewahr und umso bescheidener wird unsere moralische Selbsteinschätzung ausfallen. Am jungen Luther können wir diese Kontrafaktizität wunderbar ablesen: Je tiefer er sich in die Askese und Reinigung seines Lebens beugte, umso deutlicher wurde ihm seine Sündhaftigkeit.

Die Antwort auf das gesellschaftliche Anliegen der freundlichen Achtsamkeit miteinander wird deshalb nicht im Streit um Gerechtigkeit zu finden sein, denn daraus kann nie ein „Wir“ erwachsen, das Substanz hat. Ein sensibles oder – viel schöner und zugleich urchristlich ausgedrückt – barmherziges Miteinander erblüht vielmehr in Bescheidenheit und einem ehrlichen Blick auf meinen Nächsten, den ich lieben soll – und als von Gott Geliebter auch lieben will, ja als selbst gnädig Angenommener sogar lieben kann. Nicht Gebote oder Verbote, Barmherzigkeit allein ist der Weg zur „besseren Gerechtigkeit“, wie ihn Jesus als der Christus gelehrt hat.


 

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Foto: Merle Specht

Christian Rebert

Dr. Christian Rebert ist Pastor der Ev.- luth. Kirchengemeinde Wienhausen und Diakoniebeauftragter des Kirchenkreises Celle. Er wurde 2019 mit einer Arbeit über Geschlechter- und Generationenethik in Halle/Saale promoviert.


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