Szenisch

Frauen-Familien-Geschichte

In ihrem stark betitelten neuen Buch schildert Annika Reich mäandrierend Kindheitserinnerungen ihrer Hauptpro­tagonistin Luise und die Beerdigung derer Großmutter, der Herrscherin der Familie, die lebenslang die Hand über Luise gehalten und sie zur einzig fähigen, einzig befugten Erbin des Familienbesitzes auserkoren hat.

Der Einstieg ist markant wie der Titel: „Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln.“ Kurz, prägnant, voller Andeutungen und fortwährend fotografische Sequenzen stiftend, lässt uns Annika Reich in das Leben einer schmuckaffinen Frauenfamilie – in den Augen der Großmutter bestehend aus ihr selbst und ihrer Enkelin. Drumherum leben auf einem großen, mysteriösen Anwesen am See mit Villa und vier Nebengebäuden außerdem Luises Mutter und deren Mutter sowie die Haushälterin Justyna. Dazu kommen besuchsweise eine Tante und eine Cousine, eine in früher Kindheit im See ertrunkene Schwester der Großmutter und, am Ende des Romans, eine weitere Schwester der Großmutter.

In Luises Umfeld finden sich noch ihre furchtlose Freundin Ruth und ihre geliebte große Schwester Leni, die einzig Vertraute Luises, die aber während der Pubertät von einem auf den anderen Tag von der Großmutter in ein Internat verbannt wird, um aus dem Leben Luises zu verschwinden. Luise ist die Lieblingsenkelin, sie soll eine Lady werden, Seide, nicht Cord – so die Großmutter, die mit kühler Macht, Beschämung und Abwertung regiert und von großer Einsamkeit umgeben ist, die sie mit Festen, schmuckträchtiger Präsentationslust und Bluff füllt. Selbst die Liebe zu ihrer Enkelin, die sie der Verachtung aller anderen Familienmitglieder demonstrativ gegenüberstellt, bleibt hohl hinter eloquent-ironischer Fassade: „Meine Enkelin ist frech, wie ein kleines, prachtvolles Wildschwein.“ Die schnell durchschaubare Familienstruktur aus Gedemütigten und Herrscherin ist völlig männerlos und doch so altkaiserlich mannhaft, dass einen schaudert. Das wissen alle: „Großmutter denkt, dass sie nur leben kann, wenn sie’s wie die Männer macht. Sie denkt, Macht wäre immer nur die Macht der Männer und dass sie sie nur behalten kann, wenn sie herrscht wie sie.“

Männer kommen allerdings gar nicht vor, sie werden allenfalls erwähnt, zuerst nach einem Viertel des Buches, und sind als Schlendrian (Vater) und Spielball (Großvater) allenfalls Schatten, die weder Macht versprühen noch haben. Allen alten kalten Fratzen männlichen, durch die Großmutter gelebten Treibens steht am Ende des Buches (und der skurrilen Beerdigung) so unvermittelt wie logisch an einer Pommesbude das Versprechen fraulicher Solidarisierung gegenüber, die aber weder weiter ausgefüllt noch ausgeführt wird.

In 44 Szenen, hauptsächlich auf dem Friedhof, führt Annika Reich durch ihre Geschichte. Wohl öffnet sie das Innenleben ihrer Ich-Figur Luise und deren Aufwachsen im Konjunktiv zwischen den Stühlen so weit, dass Stimmungen atmosphärisch unmittelbar fühlbar werden und deren oft wolkengraue Schwere zum Greifen ist. Aber sie bleibt in der Vorzeichnung. Im Bannen der Szenerie. Über die fokussierende Darstellung hinaus findet sie in keine literarische Verdichtung. Alle Spannung suggerierenden, kurz aufleuchtenden Andeutungen und Ideen, die der episch-empathischen Dokumentation dieser Frauen-Familien-Geschichte zu einem roten Faden und der ausgebreiteten Verloren- und Verlogenheit mit einer Fokussierung zu wirklicher Klarheit und Entwicklung verhelfen würden, versanden mit ihrer Aussage. Eine zentrale Darstellung Luises meistert Annika Reich gekonnt durch deren in Gedanken und damit in der Verschwiegenheit ausharrendes „wollte ich sagen,“ das ihre Empfindungen wie in einem Comic in einer Gedankenblase preisgibt, ohne sie und damit sich selbst mitzuteilen. Das bleibt auch von diesem Buch. Was wollte Annika Reich sagen?

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