Existenzerhellend

Ein Versuch über das Menschliche

"Eines Menschen Fall als Fall der Menschheit“ darstellen zu können, ist in Benjamin von Stuckrad-Barres Augen das existenzerhellende Potenzial einer Literatur, der es nicht vorrangig um eindeutige Zeitansagen geht. Sein neuester Roman „Noch wach?“ gibt dafür ein gutes Beispiel ab. Vordergründig geht es darin um die sexistische und frauenfeindliche Unkultur in einem großen deutschen Boulevardmedium mit zunehmend reaktionärer Ausrichtung. Es geht um die Aufdeckung des MeToo-Skandals in den USA. Und es geht um das allmähliche Ende der Freundschaft, die einen Stuckrad-Barre eng verwandten Schriftsteller mit dem Chef des besagten Boulevardmediums verbindet. So weit, so bekannt aus Funk und Fernsehen.

Was den Roman jenseits dieser schnell abgearbeiteten Gegenwartsbezüge aber erst zu lesenswerter Literatur macht, ist sein existenzerhellendes Potenzial. Stuckrad-Barre hat darin „eines Menschen Fall“ derart verdichtet, dass er zum „Fall der Menschheit“ werden kann – wenn die Leserinnen und Leser dieses Identifikationsangebot denn annehmen wollen. Wer beim menschheitlichen „Fall“ gleich an den biblischen Paradiesmythos denkt, liegt nicht falsch. Denn die religiös grundierte Romanhandlung beginnt im „surrealen Garten Eden“ des Hotels Chateau Marmont in West Hollywood, wo der Protagonist gemeinsam mit anderen Alltagsflüchtigen ein von Arbeit und sonstiger Mühsal befreites Dasein pflegt. Insbesondere die Mondnächte am hauseigenen Swimmingpool verhelfen den Anwesenden zur Flucht aus einer als lästig empfundenen Gegenwart. Ein Hotelgast sieht sogar „genau wie Jesus“ aus und verkündet, „die Lösung FÜR ALLES gefunden“ zu haben: „[W]ir seien gerettet“. Doch der schöne Schein dieses jenseits von Eden angesiedelten Paradieses währt nicht lang. Mit Wucht wird der Ich-Erzähler durch betroffene Frauen auf den MeToo-Skandal gestoßen und mit der eigenen schuldhaften Verstricktheit in sexistische Machtstrukturen konfrontiert. Die moralische Frage nach Gut und Böse lässt ihn von da an nicht mehr los.

Was auf den Sünden-„Fall“, den der schriftstellernde Pfarrerssohn Stuckrad-Barre hier zur Wiederaufführung bringt, folgt, ist aber keine eindeutige Erlösungsgeschichte. Anders als jener Jesus aus dem Hotelgarten hat der Ich-Erzähler eben nicht die eine rettende „Lösung FÜR ALLES“ parat. Vielmehr konstatiert der Ich-Erzähler das Johannesevangelium zitierend:. „Wer sich frei von solcher Ambivalenz fühlt, poste den ersten Stein. Ich ganz bestimmt nicht“. Haben nicht auch die betroffenen Frauen, deren Perspektiven im Roman viel Raum gegeben wird, wenigstens zeitweise die toxischen Strukturen mit unterstützt, denen sie zum Opfer gefallen sind? Und beginnt, wer so fragt, nicht schon, den männlichen Machtmissbrauch zu rechtfertigen?

In Stuckrad-Barres Roman wird der Ich-Erzähler nicht zum Moralapostel, sondern bleibt eine angefochtene und anfechtbare Figur. Nur manchmal ereignen sich Szenen, in denen eine (Er-)Lösung von der Ambivalenz der Verhältnisse aufscheint, zum Beispiel die Freundschaft mit Sophia, die mehr und mehr zur zweiten Hauptfigur des Buches wird. Und nach einer Zoom-Konferenz, in der Sophia und andere Mitarbeiterinnen endlich Gehör mit ihren Leidenserfahrungen finden, herrscht für einen Moment in Stuckrad-Barres rasant erzählter Geschichte „andächtige Stille“: „Kurz fühlen wir uns alle, ich sogar auch, sehr mutig“, stellt der Protagonist fest. Wenn er gleich darauf „mit Batikseidenbroschen-verbindlicher Margotkäßmannstimme“ bekundet: „In erster Linie sehe ich mich ALS MENSCH“, dann steckt darin vielleicht nicht nur Ironie. Dass es diese im Roman auch zuhauf gibt, kann nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr er ein ernsthafter Versuch über das Menschliche ist. Einen ausführlicheren Text des Autors zum Roman finden Sie hier.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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