Religiöser Populismus

Warum Peter Dabrocks Kritik am deutschen Katholizismus verfehlt ist
Katholizismus
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In der Märzausgabe unterzog der Erlanger Systematiker und langjährige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, den deutschen Katholizismus einer kritischen Betrachtung und mahnte gerade bei liberalen Katholik:innen Konsequenz und Tatkraft an. Ihm widerspricht deutlich der Kirchen­historiker Volker Leppin, Professor an der Yale University nahe New York.

"Es steht zu viel auf dem Spiel“, so endet Peter Dabrocks Darstellung seiner Sicht auf die römisch-katholische Kirche in zeitzeichen. In der Tat. Ginge es nicht um eine so wichtige Sache wie den Umgang mit dem Evangelium, könnte man seine Auslassungen rasch beiseitelassen. Da hat jemand mal auf Twitter ein paar scharfe Sätze rausgehauen und teilt nachher unschuldig den Kritiker:innen mit: Mangelnde Differenzierungen seien halt „Twitter-üblich“.

Stimmt. Aber wer und was, wenn nicht der Drang nach schneller Taktzahl in der öffentlichen Reaktion, zwingt eigentlich dazu, auf Twitter komplexe Themen anzuschneiden. Schon Pilatus wusste: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“. Natürlich kann man sich irren und das korrigieren. Das zur Selbstverteidigung so beliebte „Ich habe es ja gar nicht so gemeint“, reicht aber nicht, sofern nicht die fehlenden Differenzierungen nachgeholt werden.

Stattdessen bietet Dabrock aber das zweite in so mancher Schwurbelkommunikation beliebte Argument: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen.“ Ja, darf man. Man muss halt nur damit rechnen, dass man sich dafür Kritik einhandelt – vielleicht sogar den Hinweis, dass es um den eigenen Laden auch nicht gut bestellt ist. Aber das ist ja, nächste Stafette plattitüdenhafter Selbstverteidigung, „Whataboutismus“.

Was wir aus Dabrocks gedruckter Apologie lernen, ist zunächst einmal, wie man einen schlechten Tweet in gedruckter Form schlecht verteidigt. Das gilt auch für den vermeintlich geschickten Dreh, von einem Absatz zum anderen den Vorwurf zu ändern, gegen den man sich verteidigen will. Aus der richtigen Erkenntnis, dass man ihm vorwerfen kann, die Predigt von Papst Franziskus bei der Beerdigung von Joseph Ratzinger in übertriebener Weise „sinnbildlich für die katholische Kirche als Ganzes“ zu nehmen, macht Dabrock im nächsten Absatz die rhetorische Frage „Darf sich ein evangelischer Theologe so scharf zur katholischen Kirche äußern?“ und antwortet: „Ich sage ‚Ja‘“. Ich schließe mich an: Ja, natürlich. Wer sollte das überhaupt verbieten können/sollen? Aber wenn die Energie, mit der etwas geäußert wird, zu den Argumenten in solchem Missverhältnis steht wie in diesem Falle, machen auch rhetorische Fragen sie nicht sakrosankt gegen Kritik. Auch hier sei daran erinnert: Kritik ist kein Redeverbot, sondern eine Einladung zum Weiterdenken.

Kehren wir zu dem Ausgangs-Tweet zurück: Dabrock hatte die Beerdigungsansprache von Franziskus für Benedikt XVI. als floskelhaft und unpersönlich kritisiert. Das kann man so sehen. Ich würde die Predigt auch unter die eher schwachen Exemplare ihrer Gattung rechnen. Dabrock aber will diese Predigt als Symbol für die römisch-katholische Kirche deuten. Da geht es eben nicht mehr um Franziskus, sondern nach dem Motto „Was ich schon immer sagen wollte“ um Reformstau, Verknöcherung und was es noch an wohlfeilen Angriffen auf die römisch-katholische Kirche gibt.

Ja, das wird man alles sagen dürfen. Neu ist es halt nicht. Nachdem Eilert Herms seinerzeit gegen den Zeitgeist mutig neue und höchst bemerkenswerte kritische Akzente zur Konsensökumene gesetzt hat, nachdem auch Ulrich Körtner wohlbegründet vor diesem Weg gewarnt hat, reiht sich Dabrock nun mit stärker an die Tagespresse angelehnten Argumenten, aber entschieden meinungsstark in die Schlange ein. Viel Mut gehört ja nun derzeit nicht dazu, die römisch-katholische Kirche zu kritisieren. Sie hat ein Problem. Nein, sie hat mehrere Probleme.

Es ist eigentlich zu viel der Ehre für Kardinal Woelki, dass Dabrock wieder auf ihn verweisen muss, als gäbe es nicht zahlreiche andere Missstände. Das festzustellen ist banal und bedarf nicht der hochfahrenden Rhetorik, die Dabrock anschlägt. Wir verdanken es unter anderem dem Synodalen Weg oder unermüdlichen Kritikern aus dem Raum der katholischen Kirche wie dem Kirchenrechtler Thomas Schüller, dass diese Probleme auf dem Tisch liegen. Dabrock musste sie von dort nur nehmen und noch einmal in eine latent aggressive Form gießen, die auch gedruckt nicht viel an Differenzierungskraft gewonnen hat.

Wenig kuschelig

Danke, Peter Dabrock, für den Hinweis – aber in fast einem Vierteljahrhundert Arbeit in der Ökumene sind die Themen, die da aufgewärmt werden, nicht an mir vorbeigegangen. An meinen katholischen Kolleg:innen auch nicht. Die Frage ist nur, wie man sie einordnet. „Schluss mit der Kuschelökumene“ hat die Redaktion pointiert getitelt. Wer kuschelt da eigentlich mit wem? Die Reformkatholik:innen mit den evangelischen Partner:innen? Diese mit der Glaubenskongregation in Rom, die seit bald vier Jahren nicht müde wird, das jüngste Produkt ökumenischer Gespräche in Deutschland, das Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“, zu
desavouieren? Sehr kuschelig fand ich das als Beteiligter nicht. Wer mag, kann sich auf der Homepage des Vatikans anschauen, wie heimelig der Brief des Ökumenekardinals Kurt Koch an mich in dieser Sache war.

Darin zeigt sich die herbe Seite der römisch-katholischen Realität. Sollten wir, weil in Rom Sturheit herrscht, von Gespräch auf Attacke schalten? Einen Gesprächsfaden, der, das muss anscheinend immer wieder einmal in Erinnerung gerufen werden, darauf beruht, dass wir mit den katholischen Glaubenden die Heilige Schrift und die Basis der sieben Ökumenischen Konzilien, einschließlich Trinitätslehre und Christologie, teilen. Der voraussetzt, dass wir Vaterunser wie Glaubensbekenntnis gemeinsam sprechen können. Der in einem Horizont stattfindet, in dem beide Kirchen, evangelische wie katholische, von einem Relevanzverlust bedroht sind, der sie gemeinsam in einen Strudel nach unten zieht. Und der wird gewiss durch Dabrocks Variante des Whataboutismus nicht gestoppt: In zeitzeichen legt er seine Sorge dar, dass Menschen wegen Woelki aus der evangelischen Kirche austreten.

Zur Rettung der Evangelischen nun genüsslich, „what about?“, mit dem Finger auf die Mängel der römisch-katholischen Kirche zu zeigen, ist nicht nur wenig souverän, sondern theologisch fehlgeleitet. Als Luther in Heidelberg 1519 eine theologia gloriae kritisierte, meinte er einen Strang mittelalterlicher Theologie, der zu sehr auf die eigenen Kräfte vertraute und es an der Demut des Kreuzes fehlen ließ. Dass evangelische Theologie und Kirche vor dieser Kritik gefeit seien, sollte man sich nicht einbilden.

Natürlich stockt vieles in der römisch-katholischen Kirche, manchmal will man sagen: alles. Als Jorge Maria Bergoglio vor zehn Jahren zum Papst gewählt wurde, gehörte ich zu denen, die hofften, nun wehe ein Hauch von Veränderungen durch die Kurie, es könne ein neuer Johannes XXIII. aufkommen. Ich war naiv. Franziskus hat wenig bis nichts verändert. Er lässt Kardinäle, die wie Kurt Koch an den großen Möglichkeiten ihres Amtes scheitern, weiter agieren, sagt viel Gutes und Schönes (und manchmal auch Unsinniges), aber er ändert keine Strukturen.

Dabrock aber entwirft eine evangelisch monströse Sicht auf die römisch-katholische Kirche, wenn er diese ganze Institution als einen monolithischen „streng von oben nach unten“ organisierten Block darstellt. Wer so denkt, wird Opfer einer bestimmten Form kurialer Selbststilisierung und muss sich dann auch nicht wundern, wenn er, wie Dabrock sich beklagt, von den Falschen, nämlich den Konservativen im Katholizismus, Applaus bekommt. Bei ihnen mag das Bild einer uniformen Kirche noch verfangen.

Als Kirchenhistoriker sage ich mit einiger Gelassenheit: Die römisch-katholische Kirche und auch die vor ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert bestimmende katholische Kirche des Mittelalters ist zu keinem Zeitpunkt ein einheitlicher Block gewesen und niemals einfach nur durch den Bischof von Rom bestimmt und gestaltet worden. Dass das Papsttum spät entstanden ist, irgendwann in der Zeit des Übergangs von der Antike zum Mittelalter, ist Lehrbuchwissen. Dass das Mittelalter eine Fülle von Polaritäten und Spannungen unter dem Dach der katholischen Kirche zusammengehalten hat, sollte langsam in allen Köpfen angekommen sein.

Wie spannungsreich selbst noch die um Einheit bemühte römisch-katholische Kirche von Trient war, zeigen die umfangreichen Akten des Konzils. Und die Moderne hat auch für den römischen Katholizismus eher Pluralisierungsschübe mit sich gebracht. Das völlig aus der Zeit gefallene, theologisch inakzeptable Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils reagiert hierauf verzweifelt – es nun wie Dabrock ohne Einordnung ausführlich zu zitieren, als stellte diese einmal angewandte Lehre das Paradigma und den Regelfall katholischer Kirchenverfassung dar, ist, sagen wir es vorsichtig: unterkomplex – und das in zeitzeichen, nicht auf Twitter. Aufhalten konnte dieses Dogma die Vervielfältigung des Katholizismus ohnehin so wenig wie der inzwischen längst wieder kassierte Antimodernisteneid von 1910. Die Vielfalt ist ein globales Phänomen: Wir sollten evangelischerseits nicht die Mär nacherzählen, dass es nur in Deutschland Bewegung und Unruhe in der katholischen Kirche gäbe – ein Blick in den Amazonasraum belehrt schnell eines anderen.

Infame Häme

Natürlich wird es eine grundlegende Reform ohne Rom nicht geben. Das ist übrigens auch die erklärte Grundlage des Synodalen Weges, dessen Vertreter:innen Dabrock mit geradezu infamer Häme vorwirft, sie wollten in der römisch-katholischen Kirche nur dazu ihre Glaubensheimat sehen, dass sie nicht verzweifeln. Woher kennt er ihre Herzen so genau? Vielleicht sehen diese Menschen besser als er, dass eben dieser Synodale Weg bemerkenswerte, vor kurzem noch für unmöglich gehaltene Veränderungen im Denken auch auf der Ebene der von Dabrock in den Vordergrund gerückten Amtskirche ausgelöst hat. Vielleicht könnten Protestant:innen in Deutschland auch einmal froh und dankbar registrieren, dass in diesem Zusammenhang der Aachener Bischof Helmut Dieser Homosexualität als „gottgewollt“ bezeichnet hat – und wir sollten uns dabei ohne jeden Whataboutismus fragen, warum sich diese Erkenntnis auch im Raum der evangelischen Kirche noch nicht überall durchgesetzt hat. In der römisch-katholischen Kirche wird es leider gewiss länger dauern, bis sie offizielle Lehre wird, aber Bischof Diesers Aussage ist ein bemerkenswerter Beginn.

In der römisch-katholischen Kirche gibt es nicht nur Machtspiele, sondern auch Diskurse und Aushandlungsprozesse. Gewiss, man muss manchmal klein denken, auch in der Ökumene – aber auch hier darf man dafür dankbar sein, dass zahlreiche deutsche Bistümer inzwischen die Orientierungshilfe „Mit Christus gehen – Der Einheit auf der Spur“ zur Teilnahme konfessionsverbindender Ehepartner:innen an der Eucharistie anwenden. Besser wäre es, und richtiger, wenn Rom sich dies zu eigen machen würde, aber in apokalyptischer Manier das Fehlen von Bewegung zu beklagen, ist nur eine religiöse Spielart des Populismus.

Sie weist darauf hin, dass Ökumene in der Tat komplizierter ist, als Twitter und seine nachgeholten publizistischen Flankierungen es erscheinen lassen. Das ökumenische Gespräch ist ein langwieriger Prozess, aus Erfahrung setze ich hinzu: manchmal auch ein anstrengender, erschöpfender Weg. Es knüpft an diejenigen Kräfte in der römisch-katholischen Kirche an, die veränderungswillig sind, und das sind nördlich der Alpen die theologisch und auch der Zahl nach stärksten.

Die Welt von Twitter ist so wunderbar einfach und klar. Die Welt jenseits von Twitter ist manchmal so richtig kompliziert, im ökumenischen Gespräch gewiss. Man braucht wohl viel Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist Humor und Geduld hat, um das Gespräch durchzuhalten und um sich an kleinen Schritten zu freuen. Der Kirchenhistoriker, der mit 2000 Jahren Christentum zu tun hat, mag sich mit solchen langsamen Entwicklungen leichter tun als der Ethiker, der wie Peter Dabrock in bewundernswerter Weise mit den aktuellsten Entwicklungen Schritt hält. Ein Prophet ist auch er nicht – aber die Erfahrung des Gesprächs, die Beobachtung, wie die römisch-katholische Kirche sich in nur zwei Generationen geändert hat, gibt auch Anlass für Zuversicht. Die lasse ich mir durch Twitter-übliche Vereinfachungen nicht nehmen. 

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Volker Leppin

Volker Leppin (geboren 1966) ist Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim Mittelalter, der Reformationszeit und der Aufklärung, in den Themen Scholastik und Mystik und bei der Person und Theologie Martin Luthers.


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