Kontinuitäten

Eine jüdisch-deutsche Tragödie

Als im bayerischen Landsberg am 7. Januar 1951 Tausende, darunter Bundes- und Landtagsabgeordnete sowie Kirchenvertreter, mit Schlussstrich-Parolen für dort inhaftierte Kriegsverbrecher demonstrierten, hielten 300 jüdische DPs mit „Massenmörder- und Blutsäufer“-Rufen dagegen. Die Antwort war „Juden raus!“-Gebrüll. Polizisten prügelten die ehemaligen KZ-Häftlinge auseinander.

Philipp Auerbach, zunächst als „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ und dann als Chef des Landesentschädigungsamtes in Bayern für Displaced Persons (DPs) zuständig, sagte dazu im Radio: „Ich weiß, was der Ruf ,Juden raus‘ bedeutete. Aber eines hat mich in Verwunderung versetzt, nämlich, dass wohl in dieser Stadt 3 000 Menschen zusammenfinden konnten, um zu demonstrieren, aber keine Menschen zusammenkamen, als wenige Kilometer entfernt in den Lagern des Landkreises Tausende ermordet wurden.“ Der wegen seines energischen Einsatzes für Nazi-Opfer eh Missliebige, „der bekannteste und am meisten gehasste deutsche Jude nach 1945“, so der Historiker Michael Brenner, brachte damit das Fass wohl zum Überlaufen. Kurz darauf begann die endgültige Hatz auf ihn, schreibt der Journalist Hans-Hermann Klare. Polizisten durchsuchten sein Amt, einen Staatsanwalt hatte der Justizminister bereits lange zuvor auf ihn angesetzt. An einer Straßensperre wurde er in Wildwest-Manier verhaftet, kam, da bereits schwer krank, 15 Monate in Untersuchungshaft. Angeklagt war er wegen Erpressung, Unterschlagung, Veruntreuung, Bestechung und einem zu Unrecht geführten Doktortitel. Letzteres gab er zu, verwies aber auf Umstände, die es ihn damit offenbar hatten nicht so genau nehmen lassen: Der Kaufmann aus Hamburg war vor den Nazis nach Belgien geflohen und hatte französische Lager, Gestapo-Haft, Auschwitz, Todesmarsch und Buchenwald überlebt. Für die Wiedergutmachung an den Opfern arbeitete er nach der Niederlage zunächst in der britischen Zone und dann in Bayern. Geld, Essen und Wohnraum fehlten, Belege für das Verfolgtsein oft auch. Unter schwierigen Bedingungen machte er einen guten Job, was Besatzer und dann die neuen deutschen Machthaber auch schätzten. Sie wollten die DPs bloß loswerden, mehr als 80 000 emigrierten mit seiner Hilfe. Allerdings verärgerte er dabei viele. Und er wusste viel, auch über den einst an Arisierungen beteiligten Justizminister. Sein persönliches Anliegen war indes neues jüdisches Leben in Deutschland. Vor allem sollten die Nazis künftig von Staats- und Regierungsposten ausgeschlossen bleiben, saßen jedoch gewollt längst wieder an den alten Stellen. Und nun stand er Nazi-Richtern, einem Nazi-Staatsanwalt, meineidigen Zeugen und einem Gutachter gegenüber, der ihm fies in alter Rasse-Diktion Anomalien attestierte. Trotz windiger Beweislage verurteilten ihn diese Richter zu zweieinhalb Jahren Haft und einer Geldstrafe. Zeitgleich erhielten Täter, die zuvor als Grund für Dienstreisen „Liquidation“ von Juden notierten, ähnlich hohe Strafen. Davon, dass ein Landtagsuntersuchungsausschuss Auerbach 1954 rehabilitierte, hatte er nichts. Er nahm sich unmittelbar nach dem Urteil im August 1952 das Leben: „Ich habe bis zuletzt gekämpft – umsonst“, schrieb er in einem Abschiedsbrief.

Um Betroffenheit oder Überhöhung geht es Klare nicht. Deutlich zeigt er auch die schwierigen Seiten von Philipp Auerbach. Gleich zu Beginn seines vorzüglich recherchierten, packend, doch betont nüchtern erzählten Buches legt er das Ende der Geschichte offen. Dennoch ist die Woge aus Empörung und Wut nach der Lektüre groß. Beeindruckend entreißt Klare den exemplarischen, heute nahezu unbekannten Skandal dem Vergessen und setzt ihn mit dem Untertitel „Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte“ triftig in Verbindung zur Gegenwart. Über Vogelschiss-Gauländereien, Halle sowie zu Corona oder Ukra­ine zirkulierende Mythen wundert man sich jedenfalls gleich weniger. Klare führt das nicht näher aus, lenkt aber den Blick dorthin. Um solche Kontinuitäten zu wissen, kann dem Reden über Antisemitismus nur nützen.

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