Lückenschluss

Über postkoloniale Theologien

Mit seiner Einführung in postkoloniale Theologien legt Stefan Silber ein wichtiges Werk vor, das eine Lücke in der deutschsprachigen theologischen Buchlandschaft schließt. Seit etwa zwei Jahrzehnten werden postkoloniale Theorien auf internationaler Ebene zunehmend auch in der Theologie rezipiert. Im deutschsprachigen Bereich steht die Rezeption postkolonialer Ansätze in der Theologie erst an den Anfängen. Es gibt vereinzelte deutschsprachige Theologinnen und Theologen, die sich bereits länger mit postkolonialen Theorien in der Theologie beschäftigen, von einer flächendeckenden Rezeption kann bislang allerdings nicht gesprochen werden.  Postkoloniale Theologien von Stefan Silber – für Einsteiger wie für Expertinnen gleichermaßen interessant zu lesen – wird für eine breitere Rezeption postkolonialer Theorien im Feld der deutschsprachigen Theologie sicherlich hilfreich sein.

Stefan Silbers Einführung ist systematisch angelegt. Nach einem Einstieg über narrative Zugänge erfolgt eine Begriffsklärung von Postkolonialität unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Kontexts. Danach führen die Kapitel „Diskurspraktiken“ und „Machtbeziehungen“ in zentrale Konzepte postkolonialer Theorien ein, bevor Widerstandspraktiken sowie alternative theologische Konzepte zu hegemonialen europäischen theologischen Diskursen dargestellt werden. Den Abschluss bildet ein Kapitel mit Anstößen für eine Praxis des europäischen Theologietreibens, die postkoloniale Anregungen ernst nimmt.

Postkoloniale Ansätze sind sehr plural und heterogen aufgestellt. Dem Autor gelingt ein überzeugender und verständlicher Zugang zur Frage postkolonialer Reflexionen in der Theologie. Aufgrund der Pluralität und „Disziplinlosigkeit“ postkolonialer Theorien werden die Themen stellenweise immer wieder von neuem eingekreist, was jedoch nicht störend ist, sondern dem besseren Verständnis dient.

Eine Stärke des Buches ist der umfangreiche Literaturüberblick, der geliefert wird. Quasi im Vorbeigehen wird der Leserschaft eine große Bandbreite an postkolonialer theologischer Literatur vorgestellt, die mit interessant gewählten Beispielen einen Geschmack auf mehr vermittelt. Neben einem Literaturüberblick im ersten Kapitel findet sich eine ausführliche Bibliografie im Anhang des Buches. Eine Übersicht über wichtige postkoloniale Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Teilen der Welt inklusive Kurzbiografie und wichtiger Werke sowie ein Glossar postkolonialer Grundbegriffe, das insbesondere für Einsteiger in postkoloniale Theorien hilfreich sein wird, runden das Buch ab.

Inspirierend und zum Weiterdenken anregend ist die Frage, die das ganze Buch durchzieht: Wie ist ein Perspektivenwechsel innerhalb der Theologie möglich, der die europäische theologische Tradition nicht in hegemonialer Weise anderen Theologien als überlegen entgegenstellt, sondern auch anderen, marginalisierten theologischen Perspektiven auf Augenhöhe begegnet? Damit werden auch Selbstverständlichkeiten im wissenschaftlichen Theologiebetrieb angefragt – ein zunächst vielleicht befremdlicher Blick, der allerdings Raum geben kann für noch unbekannte Einsichten in Bezug auf die Reflexion der göttlichen Wirklichkeit. Sympathisch ist dabei die ökumenische Perspektive, die postkolonialen Theo­logien eigen ist, da sie sich nicht innerhalb starrer konfessioneller Grenzen bewegt. Auch wenn der postkoloniale Blick ein unbequemer ist und Kritik provoziert, so schafft es Stefan Silber aufzuzeigen, weshalb ein selbstkritischer, postkolonial inspirierter Blick in der Theologie notwendig ist, um europäisch-hegemoniale Fallstricke, die letztlich die eigene Sicht auf Gott begrenzen, zu vermeiden.

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Foto: privat

Sigrid Rettenbacher

Dr. Sigrid Rettenbacher ist Assistenzprofessorin am Institut für Moraltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz.


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