Scham im Licht

Die italienische Filmemacherin Liliana Cavani wird 90 Jahre alt
Liliana Cavani im Jahr 2018.
Foto: picture alliance/EPA-EFE
Liliana Cavani im Jahr 2018.

Als Filme noch wilde Skandale verursachten, mischte Liliana Cavani kräftig mit. Im Mittelalter hätte sich die Inquisition mit ihr beschäftigt, im 20. Jahrhundert warf man ihr nur Blasphemie und Pornografie vor. Der Kulturjournalist und Theologe Roland Mörchen beschreibt das Werk der Regisseurin und dessen religiöse Bezüge.

Längst zählt die Regisseurin, die vor 90 Jahren am 12. Januar 1933 in der norditalienischen Stadt Carpi geboren wurde, zu den starken Frauen im europäischen Kino. Auf der Filmhochschule in Rom legte sie den Schwerpunkt ihrer Ausbildung auf Dokumentationen, was man auch ihren Spielfilmen anmerkte. Cavanis neorealistisches Schwarzweiß-Biopic „Francesco d’Assisi“ von 1966 wirkt mit Handkamera und eingeblendeten Jahreszahlen quasi-dokumentarisch wie eine Wochenschau. Entstanden im Umfeld der Studentenbewegung, war der Film das Werk einer Frau in der Revolte, unterschwellig politisch und widerborstig. Prompt eckte sie damit bei Staat und Kirche an. „Francesco d’Assisi“ erinnert an Filme von Rossellini und Pasolini, den Cavanis Ästhetik beeindruckte, obschon ihm ein speziell religiös-sakraler Blickwinkel fehlte.

Der Kaufmannssohn Franz von Assisi ist für die Filmemacherin eine Leitgestalt in der europäischen Geschichte. Er sucht sich unter Ausgestoßenen eine neue Gesellschaft und seine kompromisslose Solidarität trägt die Kraft des Umsturzes in sich. Franziskus rebelliert nicht offen gegen die kirchliche Hierarchie, sondern stellt mit seiner bloßen Existenz den klerikalen Feudalismus in Frage. Modern gesprochen, provoziert er das gesellschaftliche und kirchliche Establishment. Dreimal, in verschiedenen Lebensphasen, hat sich Cavani dem „Poverello“ filmisch genähert und die satte Überflussgesellschaft daran erinnert, dass materielle Werte nicht alles sind. Cavani sieht ihn als „dreizehnten Apostel“, der das Evangelium bedingungslos lebt und die Bergpredigt auf seinen Schultern trägt wie der sagenhafte Atlas das Weltgebäude.

Besonderer Coup

Das Mittelstück des franziskanischen Triptychons ist wohl das bekannteste, zumal der dritte Anlauf „Sein Name war Franziskus“ (2014) ein glatteres Fernseh-Remake des Films von 1989 darstellt. Schon damals wollte der Produzent Giulio Scanni einen Neuaufguss vom 1966er „Francesco d’Assisi“, aber Cavani schwebte Ende der 1980er-Jahre eine Variante vor, natürlich in Farbe, wobei sie sich an den alten Film erkennbar anlehnte. Sie nutzte mit Mickey Rourke in der Hauptrolle das Prinzip des millionenschweren Hollywood-Star-Kinos. Ein besonderer Coup, wie sich zeigte, denn Rourke spielte überwältigend gut. Nicht zuletzt half sein Image als Rebell, den Heiligen in die Gegenwart zu holen. Das galt 1966 auch für Hauptdarsteller Lou Castel.

Eine Art unfreiwilliger Star war Franziskus selbst im 13. Jahrhundert, da ihm sein Auftreten immer größeren Zulauf bescherte. Cavani deutet ihn noch immer nicht zum Kirchenkritiker um. Die Amtskirche reibt sich an ihm wie er an ihr, weil es ihm widerstrebt, seine Bewegung mit einer Ordensregel zu institutionalisieren und zu legitimieren. Der Klerus ignoriert seinen Wunsch, einfach nach dem Evangelium zu leben.

Das Thema war für Cavani nicht neu. Schon ihr „Galileo Galilei“ (1968) fühlte sich von seiner Kirche betrogen, „weil sie, wie er fälschlich glaubte, der Ignoranz genauso ablehnend gegenüberstehen müsste wie er selbst“, so Peter Bondanella, ein profunder Kenner des italienischen Kinos. Franz von Assisi brennt nicht wie Galilei für die Wissenschaft, sondern für die Spiritualität. Aufgrund einer tiefen Communio mit Gott predigt und hilft Franziskus, wo er kann. Indem er gegen das Patriarchat aufsteht und dem leiblichen Vater alles zurückgibt, sogar die Kleidung, die er gerade trägt, geht er eine neue Familienordnung ein, mit Gott als Vater und Christus als Bruder.

Schlamm und Schmutz

Cavanis gesellschaftlich stigmatisierter Heiliger schwebt als reine Büßerseele nicht über dem Boden. Jenseits frömmelnder Idyllisierung der Armut zeigt sie ein Leben im Schlamm und im Schmutz. Ungeschminkt erlebt man die asketische Existenz, den Spott, den Hunger, die tägliche Plage, die Krankheiten. Franziskus knechtet im Verzicht auf jeden Komfort seinen Körper und wählt in der Nachfolge Christi eine Extremform, die schon die zweite Ordensgeneration nicht mehr aushält.

In seiner Gottesliebe umarmt Franziskus buchstäblich das Kruzifix, als wolle er mit dem Gekreuzigten eins werden. Die schreckliche Erfahrung der Gottesferne in der Einsamkeit erhöht ihn endgültig zum Kreuzträger und bereitet die vollkommene Imitatio Christi im Empfang der Wundmale vor. In der Version von 2014 lässt Cavani den Heiligen das Kreuz auch körperlich schleppen.

Franziskus ist keine theologisch spitzfindige oder sich an Visionen berauschende Gestalt, kein „Godspell“-Hippie auf der Suche nach dem letzten Kick, geschweige denn ein Vorläufer von Bakunin, Marx und Engels, deren Ideen Cavani früh über ihren Großvater kennenlernte. Nur wer vom Evangelium ausgeht, wird der sozialen Botschaft des Heiligen gerecht. Eine unheilige Welt mit Kriegen, Seuchen und schreiender Armut braucht Vorbilder, die irgendwie nicht von dieser Welt sind. Einen Film über einen spirituellen Menschen so intensiv zu machen, verlangt eine religiöse Empathie, die im Sinne Paul Tillichs dem Leben auf den Grund geht und erkennt, „dass Gott Tiefe bedeutet“. Obwohl die Regisseurin ihren Blick auf den Heiligen historisch legitimiert, betont die Rahmenhandlung, in der Franziskus’ engste Vertraute ihre Erinnerungen festhalten, das subjektive Auge.

Sex als Triebfeder

Cavani hat in unserer Epoche eine „große moralische Verwirrung und absolute Indifferenz gegenüber jeder Art von Problemen und Prinzipien“ beklagt. Seit 1999 darf sie sich Ehrendoktorin der Libera Università Maria Ss. Assunta in Rom nennen, weil sie die Kinokunst humanisiert und den geistlichen Spannungen der Neuzeit Ausdruck verliehen habe. 2018 erhielt sie den Robert-Bresson-Preis als Anerkennung für ihr aufrichtiges Zeugnis auf der schwierigen Suche nach dem spirituellen Lebenssinn.

Als 1974 ihr Film „Milarepa“ über einen tibetischen Mystiker herauskam, erhitzte zeitgleich der Sadomaso-Schocker „Der Nachtportier“ die Gemüter. Damals hätten wenige an eine Humanisierung der Kinokunst geglaubt. Cavani, so der Kritiker Vincent Canby in der New York Times sei „weniger an der Banalität des Bösen oder an dessen Psychologie interessiert als vielmehr an dem, was sie als dessen Erotik zu schildern versucht“.

Laut Cavani geht es um Sexualität „als Mittel, das bestimmte Dinge explodieren lässt“. Das sagte sie 1977 dem Magazin Der Spiegel zwar über ihren Film „Jenseits von Gut und Böse“, in dem die Sexualität als Triebfeder für Körper, Geist und Kreativität das Trio Friedrich Nietzsche, Lou Salomé und Paul Rée mächtig durchschüttelt, aber es lässt sich auch auf „Der Nachtportier“ beziehen. Schon 1963 stieß Cavani während der Arbeit an ihrer vierteiligen Filmdokumentation „Storia del Terzo Reich“ auf Aussagen jüdischer Frauen über ihre erotischen Beziehungen zu Nazi-Offizieren im Konzentrationslager. Eine Überlebende hasste die Nazis am meisten dafür, dass sie jedem beigebracht hätten, zu welchen Taten Menschen grundsätzlich fähig sind. Davon erzählt „Der Nachtportier“.

Reise in die Nacht

Der Film begibt sich auf eine Reise in die Nacht, auf der ein unkonventionelles Liebespaar vorlebt, wie schmal die Grenze zwischen Kultur und Barbarei ist. SS-Offizier Max und die inhaftierte Lucia beginnen ein perfides sadomasochistisches Spiel, wobei das Macht- und Missbrauchsverhältnis ambivalent bleibt. Für Max ist es keine romantische Geschichte, sondern eine biblische. Zentral dafür erscheint die lasziv-dekadente, ikonografisch gewordene „Salome“-Episode, in der Charlotte Rampling androgyn, kurzhaarig und barbusig, mit Offiziersmütze, langen Handschuhen und Hosenträgern zum Lied „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ die Reihen der Offiziere und Huren abschreitet.

Nach Lucias Auftritt lässt Max ihr den Kopf eines schikanösen Mithäftlings bringen. Halb schockiert, halb fasziniert nimmt sie diesen blutigen Liebesbeweis an. Sie erkennt nicht nur eine Mitschuld an dem Mord, die sie als traumatisches Erlebnis nie wieder wird abschütteln können, sondern auch eine unauflösliche Bindung an ihren sadistischen Liebhaber. Max arbeitet nach dem Krieg als Nachtportier, weil er „Scham im Licht“ empfindet. Obwohl Cavani es nicht sagt, könnte über dem Film gut Johannes 3,20 als Motto stehen: „Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden.“

Schuld und Sühne

Wo die Täter um ihre Schuld wissen und sich vor Entlarvung durch Zeitzeugen fürchten, peinigt die Opfer ein Schuldgefühl, das aufgrund der gesellschaftlich praktizierten Verdrängung entsteht: das Gefühl, den Nazi-Terror überstanden zu haben und nicht zur Masse der schweigenden Toten zu gehören. Cavani hat es im Interview mit Grace Lichtenstein von der New York Times beschrieben. Die Wiederaufnahme der sadomasochistischen Affäre berührt beider schlechtes Gewissen, denn Max ist ein Kriegsverbrecher, und Lucia hat als dessen „Spielzeug“ das Lager überlebt.Indem sie ihre Beziehung nach einem Zufallstreffen wieder aufgreifen, sucht sich Lucia aus den Klauen der Vergangenheit zu befreien, während Max in der Abkehr von den Ex-Kameraden die Verantwortung für seine Taten einsieht. Peter Bondanella, der das schon früh analysiert hat, bemerkt in der Dialektik von Gut und Böse, im Zusammenspiel von Schuld und Sühne, in der Läuterung durch Züchtigung, die Lucia als Büßerin in dieser schonungslosen Intimität herbeisehnt, christliche Untertöne von individueller Erlösung. Er weiß natürlich, dass Max gestört und ein Fall für die Psychiatrie ist. Gleichwohl behauptet Max seine geistige Gesundheit, da er sich, seiner Schuld bewusst, gegen die alte Nazi-Clique stellt und auch Lucias Gewissen in diesem Widerstandsakt entlastet.Die perverse Erotik, die Kritiker so irritierte, bildet den Extremfall jenes elementaren Bedürfnisses ab, das die Sexualität als intensive wie triebhafte Lebensäußerung für den Menschen darstellt. Auch Cavanis Franziskus muss seine Fleischeslust im kalten Schnee abreagieren. Seine Einflussnahme auf Klara von Assisi vollzieht sich herrschaftsfrei, vor allem nicht körperlich, sondern spirituell im Zustand radikaler Armut und Nächstenliebe. Lucia und Max wenden dagegen in einer anders radikalen Ausnahmesituation die totalitären Mechanismen von Macht, Herrschaft, Gewalt und Leidenschaft privatim an, um sich gestern wie heute aus der realen Umgebung in eine erotomane Schicksalsgemeinschaft zurückzuziehen.

Als Lucia und Max von Schüssen anonym niedergestreckt werden, halten sie sich nicht noch im Tod an den Händen. Beide liegen getrennt voneinander, er in seiner SS-Uniform, sie in einem Kleidchen – wie damals im Lager, als wäre sie das Kind eines dominanten, sie liebenden und züchtigenden Verbündeten. In den „Kostümen“ der Vergangenheit sühnen sie in der Gegenwart und machen ihre Schuld öffentlich. Das ist wahrlich keine romantische Geschichte. 

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