Von außerordentlichem Rang

Hannah Arendt – eine fesselnde Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin
Hannah Arendt an der University of Chicago, 1966.
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Hannah Arendt an der University of Chicago, 1966.

Das Entscheidende an der politischen Theorie der Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt (1906 – 1975) ist ihr Verständnis des Menschen, das insbesondere in ihrem Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben entfaltet wird. Dieses Menschenbild hat eine theologische Vorgeschichte, die in vielen Darstellungen übergangen wird. Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber über eine oft vernachlässigte Seite der deutsch-amerikanisch-jüdischen Intellektuellen.

Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt während dieses Sommers eine Ausstellung über „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“. Kein Jubiläumsdatum gibt dazu Anlass; die Bedeutung dieser politischen Denkerin ist Grund genug. Die Berliner Ausstellung dokumentiert, auch durch eine hervorragende Begleitpublikation, deren außerordentlichen Rang. Noch nachhaltiger geschieht dies durch das Vorhaben einer auf 17 Bände angelegten deutsch-englischen Edition ihrer Schriften im Göttinger Wallstein-Verlag, die nach einem Jahr zusätzlich in digitaler Form im Open Access der Freien Universität Berlin zugänglich sein wird. Auf diese Weise wird dokumentiert, dass Hannah Arendt durch ihr politisches Geschick zu einer zweisprachigen Autorin wurde. Den größten Teil ihrer Texte übertrug sie selbst aus dem Englischen ins Deutsche, manchmal auch umgekehrt. Es handelte sich nicht um Übersetzungen; vieles wurde neu formuliert. Schon die ersten Bände der neuen Werkausgabe dokumentieren das.

Geboren wurde Hannah Arendt 1906 in Linden bei Hannover; ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie im ostpreußischen Königsberg. 1933 wurde sie aus Deutschland vertrieben. Dieses Schicksal hinderte sie nicht daran, von 1949 an regelmäßig zurückzukehren; ja mehr noch: Mit ihrem Mann Heinrich Blücher sprach sie stets Deutsch und begann den Tag mit einer deutschsprachigen Zeitung. Vertreibung, Diskriminierung und Staatenlosigkeit änderten nichts an ihrer Verwurzelung in der deutschen Kultur. 1975 starb sie in New York.

26 Jahre war Hannah Arendt alt, als mit der Machtübergabe an Adolf Hitler der Antisemitismus in Deutschland zur Herrschaft kam. Schon bald erhielt sie von einer zionistischen Organisation den Auftrag, durch Recherchen in der Preußischen Staatsbibliothek die alltägliche Judenfeindschaft zu dokumentieren, die sich nun ungehemmt entfaltete. Die Verhaftung durch die Gestapo ließ nicht lange auf sich warten; auf die glückliche Freilassung nach acht Tagen erfolgte die sofortige Flucht. Mit unterschiedlichen Tätigkeiten musste sie zunächst in Frankreich, dann in den USA ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie hatte früh promoviert; ihre Habilitationsschrift über Rahel von Varnhagen nahm sie unfertig mit in die Emigration. Zu einer kontinuierlichen akademischen Entwicklung fehlten die äußeren Möglichkeiten. Schlimmer noch: Wie wurde staatenlos. Die rechtliche Heimatlosigkeit sollte sich zum politischen Schlüsselerlebnis entwickeln.

In der Berliner Ausstellung ist ein erschütterndes Dokument zu sehen. Es handelt sich um ein von Hannah Arendt am 28. Juli 1949 unterzeichnetes „Affidavit“. Die unter Eid gegebene Erklärung zählt die Stationen seit der Flucht aus Deutschland bis zur Ankunft in New York auf. Die Unterzeichnerin benötigte dieses Blatt Papier für die Erfüllung ihres Auftrags, aus der Schoah gerettete Dokumente jüdischer Kultur in Europa aufzuspüren und zu sichern. Wie konnte eine staatenlose Jüdin nach Europa reisen, wenn sie keine Rechte und somit keinen Pass hatte? Es ist kaum nachvollziehbar, dass dieses Blatt Papier, „Affidavit“ genannt, von einem Beamten des Staats New York beglaubigt, bei jeder Grenzkontrolle als Ausweisersatz dienen konnte. Als staatenloser Flüchtling gewann Hannah Arendt die Einsicht, dass allem Reden über die Menschenrechte ein elementares Recht vorgelagert sein muss: das Recht, Rechte zu haben. Diese Einsicht verwandelte ihre Philosophie in eine kämpferische politische Theorie.

Millionen Staatenlose

Zwar erkannten die Vereinten Nationen in ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 jedem Menschen nicht nur die Rechtsfähigkeit, sondern ebenso das Recht auf Staatsangehörigkeit zu. Zwei daran anschließende Übereinkommen zur Rechtsstellung Staatenloser und zur Verminderung der Staatenlosigkeit sollten die Verwirklichung dieser elementaren Grundrechte vorantreiben. Doch bis zum heutigen Tag gibt es Millionen von Staatenlosen in aller Welt. Arendts Schlüsselerfahrung ist unvermindert aktuell; genauer: Sie wird durch die globale Migration immer relevanter.

Wer für Hannah Arendts bleibende Bedeutung, wie es üblich ist, vor allem ihre Thesen über die Ursprünge totalitärer Herrschaft sowie ihre aus dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem gewonnene Überzeugung von der „Banalität des Bösen“ geltend macht, überspürt gerade das zentrale Element ihres Denkens: ein Bild vom Menschen, der durch seine Geburt als unverwechselbare Person ins Leben tritt, aber als dieser Einzelne in der Pluralität mit anderen lebt und auf Anerkennung als Gleicher unter Gleichen angewiesen ist. Das Entscheidende an Hannah Arendts politischer Theorie ist ihr Verständnis des Menschen, das insbesondere in ihrem Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben entfaltet wird. Dieses Menschenbild hat eine theologische Vorgeschichte, die in vielen Darstellungen ihres Denkens übergangen wird.

Schon die Schülerin las Texte von Immanuel Kant und Søren Kierkegaard. Als sie wegen eines Konflikts der Schule verwiesen wurde, nutzte sie die Möglichkeit, ihre Kenntnisse durch Vorlesungen an der Berliner Universität zu vertiefen. Besonders beeindruckt war sie von dem katholischen Religionsphilosophen Romano Guardini. Die Hochschulreife erlangte sie auf diesem Weg schneller als ihre früheren Mitschülerinnen. Philosophie, Griechisch und evangelische Theologie hießen die Studienfächer der jungen Frau aus jüdischer Familie. Zu ihren Lehrern in der Theologie gehörten Rudolf Bultmann in Marburg und Martin Dibelius in Heidelberg; einige Jahre später begegnete sie Paul Tillich, mit dem sie über Jahrzehnte in freundschaftlicher Verbindung blieb. Das Philosophiestudium begann sie bei Martin Heidegger in Marburg. Daraus entstand eine Liebesbeziehung; die Studentin wechselte zu Karl Jaspers nach Heidelberg.

Augustins Liebesbegriff

Im Alter von 22 Jahren beendete sie ihre philosophische Dissertation zum Liebesbegriff bei Augustin, dem wichtigsten lateinisch-sprachigen Theologen des antiken Christentums. Der Schlüssel zu ihrer philosophischen Interpretation lag in dem Verhältnis zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf, in der Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und der damit verbundenen Offenheit für die Geschöpflichkeit des Mitmenschen. Von der Liebe als einem Begehren, das in der Furcht vor der eigenen Sterblichkeit wurzelt, unterschied sie die Nächstenliebe, die aus der dankbaren Annahme des eigenen wie des fremden Lebens entsteht. Deshalb sah sie in der Geburtlichkeit des Menschen und nicht in seiner Sterblichkeit den entscheidenden Bezugspunkt für das Verständnis der Liebe wie für die Auffassung von Freiheit. Die Anfänglichkeit menschlichen Lebens ist der Grund dafür, Handlungen von sich aus beginnen zu können – das heißt: in der Gemeinschaft mit anderen wirksam zu sein. Dieser Zugang zum menschlichen Handeln führt zu einem politischen Begriff der Freiheit, den Hannah Arendt folgendermaßen beschreibt: „Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur im Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-werden.“ Damit ist ein Selbstbezug der Freiheit nicht ausgeschlossen. Doch dieser Bezug trägt bei Arendt nicht den affirmativen Charakter der bloßen Selbstbestimmung, sondern wird kritisch als Selbstprüfung verstanden. Die Frage heißt, ob ich nach bestimmten Entscheidungen noch „in der Lage sein würde, mit mir selbst zusammenzuleben“.

In solchen Überlegungen blitzt immer wieder die Nähe zu Aussagen des Neuen Testaments wie zu Schlüsselfiguren der christlichen Tradition auf. Doch die Beziehung zu dieser Tradition wird zugleich durch den Kulturbruch verstellt, dessen Zeugin und Opfer die Jüdin Hannah Arendt war. Er versperrte für sie selbst den Weg der Assimilierung, den sie in ihrem Habilitationsprojekt am Beispiel der Rahel von Varnhagen untersucht hatte. Dieser Weg kam unwiederbringlich an ein Ende, als die christliche Mehrheitsgesellschaft in Deutschland eine Politik bejahte, „in der sich der Wille kundtat, die Erde nicht mit dem jüdischen Volk und einer Reihe anderer Volksgruppen zu teilen“. In der Anmaßung zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht, sah sie den unverzeihlichen Urgrund des Bösen. Dessen radikalen Charakter verneinte sie nicht, wenn sie die banale Form beschrieb, in der es sich Ausdruck verschaffte. Für solche Handlungen galt nicht mehr, was sie als Kern der reformatorischen Rechtfertigungslehre durchaus im Bewusstsein hatte: dass ich einer Person verzeihen kann, ohne damit ihre Taten zu verzeihen. Im Fall Eichmann sah sie eine solche Unterscheidung als unmöglich an. Eben deshalb lud sie sich die Last auf, seinem Prozess beizuwohnen und ihn in einem ebenso kämpferischen wie anfechtbaren Buch zu beschreiben – einem Buch, das in die schmerzlichsten Kontroversen mündete, die sie in ihrem ganzen Leben durchzustehen hatte.

Unpolitische Religion?

Hannah Arendt verwob in ihre politische Theorie Fäden christlicher Theologie. Doch zugleich war sie der Auffassung, das Christentum sei seinem Ursprung nach eine unpolitische Religion gewesen. Dafür verwies sie nicht nur auf die Unterscheidung Jesu zwischen dem, was des Kaisers, und dem, was Gottes ist. Sie berief sich nicht nur auf die Aussage Tertullians, dass den Christen nichts fremder sei als die „öffentlichen Angelegenheiten“. Der Abstand des christlichen Glaubens zur Sphäre der Politik ergab sich für sie vor allem aus der Betonung der Sündhaftigkeit wie der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Diese Ausrichtung auf eine transzendente Veränderung war, so fand sie, von der Politik weit entfernt.

Doch in einem 1953 zum ersten Mal veröffentlichten Text über „Religion und Politik“ entdeckte Arendt ein Element der christlichen Lehre, das in hohem Maß als politikfähig zu betrachten war: die mittelalterliche Lehre von der Hölle. Sie führte diese Lehre weder auf die Predigt Jesu noch auf das jüdische Denken zurück. Weitaus prägender war nach ihrer Überzeugung die platonische Tradition: „Es ist Plato, (…) der der bedeutendste Vorläufer von Dantes ausführlicher Schilderung ist; bei ihm finden wir bereits die geographische Trennung von Hölle, Fegefeuer und Paradies.“ Mit dem Niedergang Roms nistete sich diese Lehre so wirksam in der kirchlichen Lehre ein, dass sie im Lauf der Jahrhunderte sogar in deren Zentrum rücken konnte. Schon Plato verfolgte mit der Lehre von der Hölle einen politischen Zweck. In dem Maß, in dem die Christenheit sich ihrer politischen Verantwortung bewusst wurde, machte sie sich diese Lehre zu eigen. Das zwiespältige Ergebnis bestand darin, dass im politischen Bereich, der seinem Wesen nach ambivalent ist, eine definitive Unterscheidung zwischen Guten und Bösen als Druckmittel für Gehorsam und Anpassung eingesetzt wurde. Man kann über Arendt hinaus auf den Versuch verweisen, diese politische Instrumentalisierung der Höllenangst unter modernen Bedingungen aufrechtzuerhalten, wie es beispielsweise im Konzept der Zivilreligion bei Jean-Jacques Rousseau geschah: Die göttliche Bestrafung der Bösen und Belohnung der Guten galt als das zentrale Element dieser religion civile. Hannah Arendt war jedoch ein anderer Brückenschlag in die Moderne wichtiger. Dieser hat mit den Schrecken des Totalitarismus zu tun: „In totalitären Staaten sehen wir den fast schon vorsätzlichen Versuch, in den Konzentrationslagern und Folterkammern eine Art irdischer Hölle zu installieren, deren Hauptunterschied zu den mittelalterlichen Bildern von der Hölle in den technischen Vervollkommnungen und der bürokratischen Verwaltung liegt – aber auch in dem Nichtvorhandensein von Ewigkeit.“ Im Blick auf Hitler-Deutschland konstatierte sie, dass die Umkehrung des Gebots „Du sollst nicht töten“ mitsamt seiner technisch-bürokratischen Umsetzung bei den meisten auf keinen Gewissenswiderstand stieß. Doch was waren diese Gewissen dann anderes als „ein mechanisches Instrument, das anzeigt, ob man mit der Gesellschaft und ihren Anschauungen konform geht oder nicht“? Man braucht Hannah Arendt in der geistesgeschichtlichen Herleitung der Höllenangst nicht zu folgen; den von ihr aufgezeigten beklemmenden Folgen kann man sich nicht entziehen. Durch bloßes Beschweigen wird die christliche Theologie dieses Erbe nicht los.

Die Berliner Ausstellung verdeutlicht Hannah Arendts Nachwirkung in den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an den Beispielen der studentischen Protestbewegung und des Feminismus. Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stellen sich Hannah Arendts Grundfragen auf andere Weise neu: Wie gestalten wir unsere Welt so, dass keinem Menschen und keiner Menschengruppe das Heimatrecht auf dieser Erde abgesprochen wird? Wie verbürgen wir jedem Menschen, jedem Flüchtling zumal, das Recht, Rechte zu haben? Was tun wir, um irdische Höllen abzuschaffen, die es heute ebenso gibt wie zu Hannah Arendts Zeit?

Nicht nur totalitäre Herrschaft sah Hannah Arendt als eine Gefahr für die Freiheit an. Sie befürchtete zudem, dass die Menschheit sich durch die Abhängigkeit von der Technik in die Tiergattung zurückverwandelt, „von der sie seit Darwin abzustammen meint“. Sie beschrieb die Motorisierung als einen biologischen Mutationsprozess, „in dessen Ablauf der menschliche Körper sich schneckenartig mit einem Metallhaus umgibt“. Solche Worte mögen uns heute naiv vorkommen. Aber ob die technische Vervollkommnung, die viele von der Digitalisierung erwarten, sich mit der Freiheit verträgt, ist noch nicht ausgemacht. Je selbstverständlicher wir das annehmen, desto riskanter ist es für die Freiheit.

Weitere Informationen:

www.dhm.de/ausstellungen/hannah-arendt-und-das-20-jahrhundert.html

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Wolfgang Huber

Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.


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