Adams grüne Augen

Warum die Farbe Grün immer schon einen schlechten Stand hatte
Thomas Huber: AH AH , 2010, Öl Leinwand.
Foto: Studio Huber
Thomas Huber: AH AH , 2010, Öl Leinwand.

Anders als die Malerei thematisiert die Literatur die Farben nicht sichtbar, sondern ganz im Gegenteil als eine Welt, in der Farben als Phänomene, Bilder und Evidenzen eigene sprachliche Innenwelten erschaffen. Grünes aus Kunst und Literatur liefert der Osnabrücker Kunsthistoriker Michael Kröger.

"Meine ersten Erinnerungen sind grüne Erinnerungen. Wann bekam ich einen ersten grünen Daumen? In der Wildnis der paradiesischen Gärten der Villa Zuassa am Lago Maggiore? In den Kastanienwäldern verloren, starrte ich hingerissen auf einen Kürbis mit Blättern so groß wie die Fächer, die in einem Hollywood-Epos den ägyptischen Pharao kühlten. Das Kino wurde in einem grünen Wald geboren …“ So berichtet es jedenfalls der englische Autor und Filmemacher Derek Jarman in seinem autobiografisch inspirierten Farbenbuch Chroma – Ein Buch der Farben aus dem Jahr 1994. Sein Kapitel über die Farbe Grün beginnt mit einer überraschend einleuchtenden Spekulation: „Waren Adams Augen grün wie das Paradies?“

Nicht erst heute, mit dem Erstarken der Partei Bündnis 90/Die Grünen, gilt eine Erfahrung, die Künstler seit der Frühen Neuzeit immer wieder machten: Grün ist eine äußerst zwiespältige, nie wirklich unproblematische, aber immer auch erfrischend inspirierende Farbe. Sie kann sowohl Heilung und Hoffnung, auch Ambivalenz und Wandlungsfähigkeit, aber gleichzeitig genauso gut Ausgleich und Giftigkeit symbolisieren – also keine einfache Vorlage für eine aktuell anwendbare politische Farbsemantik. Anders als unter den zeitgenössischen Gestalterinnen und Gestaltern hatte die Farbe Grün unter den Färbern, Malern und Künstlern von alters her immer schon einen schlechten Stand. Noch Wassily Kandinsky notierte in seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ (1910) arrogant und verächtlich: „Wie das in Gelb gemalte Bild immer eine geistige Wärme ausströmt oder ein blaues zu abkühlend erscheint (also aktive Wirkung, da der Mensch als ein Element des Weltalls zu ständiger, vielleicht ewiger Bewegung geschaffen ist), so wirkt das Grüne nur langweilend (passive Wirkung). Die Passivität ist die charaktervollste Eigenschaft des absoluten Grün, wobei diese Eigenschaft von einer Art Fettheit, Selbstzufriedenheit parfümiert wird. Deswegen ist das absolute Grün im Farbenreich das, was im Menschenreich die so genannte Bourgeoisie ist: Es ist ein unbewegliches, mit sich zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element. Dies Grün ist wie eine dicke, sehr gesunde, unbeweglich liegende Kuh, die nur zum Wiederkäuen fähig mit blöden, stumpfen Augen die Welt betrachtet.“

Die Abneigung gegenüber dem Grün hatte historisch gesehen wohl zunächst auch ganz praktische Gründe: Über Jahrhunderte war es nicht gelungen, ein leuchtendes, stabiles grünes (unlösliches) Pigment beziehungsweise einen (löslichen) Farbstoff herzustellen. Es gab lediglich grüne Erde, die recht stumpf und von schwacher Leuchtkraft war. Die beste davon, das Veroneser Grün, beruht auf dem Mineral Seladonit, das schon im Altertum als grünes Pigment diente. Es war zwar haltbar, aber nicht sonderlich farbrein. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es möglich, ein leuchtendes „Chromdioxidgrün“ industriell herzustellen.

Ein zweiter Aspekt des schlechten Images der Farbe Grün hängt auch damit zusammen, dass unter den starken Grundfarben Rot, Blau, Gelb und Grün gerade das Grün relativ unauffällig und redundant war – was auch den Reflex zur Natur darstellt: Biologisch wichtige Signale müssen sich von einer grünen Umwelt abheben, um gut wahrgenommen zu werden. Dass eine rote Mohnblüte im gelben Weizenfeld schnell von Bienen angeflogen wird, lässt auf ein hoch entwickeltes Farbsehen bei Tieren schließen – es darf aber auch einfach als Wunder der Evolution gesehen werden, die auf Nachhaltigkeit und Zukunft von Natur ausgerichtet ist. Die Information, die von Grün ausgeht, ist eher nichtssagend; Grün gilt gleichzeitig aber auch als ein die Kreativität fördernder Farbton, da dieser eine entspannte Atmosphäre verbreitet.

Aufmerksamkeit für Neues

In der Kunst – und vielleicht auch gerade heute in der auf mediale Aufmerksamkeit angewiesenen Politik – scheint das Grüne deswegen so faszinierend zu sein, weil es Assoziationen zur Lebendigkeit, Fruchtbarkeit und im weitesten Sinne zur Fähigkeit anregt, Aufmerksamkeit für Neues, Irritierendes, Lebendiges und Abweichendes zu erregen. In der zeitgenössischen Kunst hat sich das Grün als eigenständiges Farbphänomen nie etablieren können. Zu stark war und ist offenbar die historisch anerkannte Trias der drei primären Farben Rot, Gelb und Blau, die sich beispielsweise am Bauhaus durchsetzen konnten. Grün blieb Künstlerinnen und Künstlern bis heute suspekt: eine eher irrlichternde Erscheinung, zu vage und in ihrer rätselhaften Uneindeutigkeit ein nur selten eingesetzter „Störfaktor“. Eine grüne Periode hat es wohl in der Kunst zu keiner Zeit gegeben – auch wenn Ernst Wilhelm Nay (1902 – 1968) mit seiner blaugraugelbgrünen Malerei Lob auf Grün (1961) fast so etwas wie eine Ikone eines gemalten Grün erschuf. Doch selbst vom Mitbegründer der Grünen, Joseph Beuys, ist weder ein Statement noch eine besondere Arbeit bekannt, die diesem Farbton zu neuer Sympathie hätte verhelfen können.

Doch ausgerechnet ein Schlüsselbild der Kunst um 1968 verwendet demonstrativ ein fahles, um nicht zu sagen kaum sichtbar werdendes Gelbgrün: Sigmar Polkes subtiler Kunstkommentar „Moderne Kunst“ – ganz so, als würde die Aussage dieser Arbeit lauten: Siehe her, selbst aus den unscheinbaren Resten eines Grüns kann ein kritisches Kunst-Bild entstehen ... Auch hier gilt ein Subtext: Es kommt auf den Kontext der Verwendung und nicht auf eine plakative grüne Selbstdarstellung an.

Außergewöhnlich beeindruckend ist, wenn ein Künstler wie der in Berlin ansässige Maler Thomas Huber sich eigens mit seinen Grün-Erfahrungen auseinandersetzt, die er in seinem Bild „AH AH“ verarbeitet hat: „Es macht wirklich keinen Spaß, etwas Grünes zu malen. Eine homogen grüne Fläche ohne Weißzumischung ist eigentlich nicht realisierbar … Die Entscheidung, ein grünes Bild zu malen, will also gut überlegt sein. … Grün ist ein Bastard.“ In der Erinnerung an die Kindheit Thomas Hubers, Sohn eines schweizerischen Architektenpaars, erscheinen die im Rohbau befindlichen Wände grün, während das schaukelnde Kind die Welt surreal nicht betongrau, sondern grasgrün wahrnimmt.

In seiner 2012 gehaltenen Festrede auf Raffaels „Sixtinische Madonna“ thematisiert der Lyriker und Essayist Jan Wagner (geboren 1971) den erst auf den zweiten Blick auffallenden „grünen Vorhang“ in Raffaels legendärem Bild – er bildet nach Wagner „in all seiner Imperfektion die Stelle, an der zwei Welten aufein-andertreffen können“ –, unseren Blick auf die Madonna und das Kind und die beiden Engelchen, die als Vermittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aktiv sind. Das Grün des Vorhangs fungiert hier als Schnittstelle zwischen gemalter Illusion und dem Hinweis auf einen Raum vor dem Werk, in dem auch wir anwesend sind.

„Vokale / A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau – Vokale, / eines Tages bring ich es aus Euch zur Welt: / A, schwarzes Leibchen von Fliegen im Feld, / die um gräulichen Dunst gepaart wie Schakale“

So wortgewaltig und pathetisch beginnt das legendäre, wort-alchemistische Gedicht-Experiment des französischen Dichters Arthur Rimbaud (1854 – 1891), das in grotesk-genialer Weise dem Vokal eine Farbe zuordnet und aus dieser wilden Kombination imaginäre Funken schlägt. „Ich bestimmte Form und Bewegung eines jeden Konsonanten, und mit Hilfe unwillkürlicher Verse schmeichelte ich mir, eine poetische Sprache zu erfinden, die früher oder später allen Sinnen zugänglich sein würde …“, kommentierte Rimbaud später seine symbolistische Wortzauberei. Anders als in der Malerei thematisiert die Literatur die Farben nicht explizit sichtbar, sondern ganz im Gegenteil als eine Welt, in der Farben als Phänomene, Bilder und Evidenzen eigene sprachliche Innenwelten erschaffen. Die Grenzen der uns sprachlich zugänglichen Welt darf man sich farbig glänzend vorstellen – eine Einsicht, die ihrerseits etwa in der Romantik gerne intensiv weiterverfolgt wurde. So notiert Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773 – 1789): „So oft ich in die wunderbare Welt hineinblicke, und mir vorstelle, ich schaute sie zum erstenmale an, so verwundre ich mich jedesmal über die unendliche Mannigfaltigkeit der Formen, über die verschiedenartigen Gebärden, die jedes andre Wesen unter den übrigen macht. (...) Aber noch seltsamer fällt es mir auf, wenn ich die unterschiedlichen Farben betrachte, wodurch alle Gegenstände noch mehr getrennt, und denn gleichsam wieder verwandt und befreundet werden.“

Ach Grün

Der Dichter Wilhelm Müller (1794 – 1827) muss zur Welt des Grünen ein recht spezielles Verhältnis entwickelt haben. In seinem Gedicht „Die böse Farbe“ heißt es: „Ach Grün, du böse Farbe du, / was siehst mich immer an, so stolz, so keck, so schadenfroh, mich armen weißen Mann.“ Ganz anders dagegen Joseph von Eichendorff (1788 – 1857), der in seinem „Herbstliedchen“ von „Lieb grüner Zeit“ phantasierte. Auch die Synästhesie darf hier nicht fehlen: Von Vladimir Nabokov (1899 – 1977) weiß man etwa, dass er als synästhetisch Begabter manche Buchstaben in speziellen Grüntönen wahrnahm. Und Federico Garcia Loraca (1898 – 1936) konnte buchstäblich im Grün versinken: „Grün, ich liebe dich, Grün. Grüner Wind. Grüne Zweige.“

Und nun dasselbe in Grün: Ein Zeitsprung in die deutsche Gegenwartsliteratur: Hier hat sich vor allem Jan Wagner als bekennender Naturlyriker ausgiebig mit Grün als eigenem Sprachraum beschäftigt. Farbworte sind in der Generation Wagners Denkmittel und nicht zuletzt so etwas wie (politische) Sinngeneratoren. In seinem Gedicht „tomaten“ werden die Früchte nicht nur mit „roter kunst“ in Beziehung gesetzt, sondern die nicht zu übersehende grüne Natur kunstvoll mit Glocken verglichen: „doch hört man keine glocken schlagen (bis auf die grünen, die aus blättern sind).“

In Wagners „Probebohrung im Himmel“ (2001) kommt es zu explizit religiösen Anklängen, wenn von einer „grünen Andacht“ gesprochen wird oder gar „von einer grüne(n) kirche / aus bäumen“. In „Achtzehn Pasteten“ (2007) werden grüne Sterne mit Kapern verglichen oder ist von einem „kulissenhaften immergrün“ die Rede. Zwischen Beschwörung und Synästhesie, Gefahr und Beschönigung sind es bei Wagner nur winzige grün gefärbte Momente. Die deutsche Dichterin Monika Rincks (geboren 1969), „lindgrüne Nuppsis“ (in Honigprotokolle), kombiniert wohl erstmals in der deutschen Lyrik einen bautechnischen Spezialausdruck mit einer genauen Farbangabe. Hochartifiziell geht es dagegen bei dem in Jena geborenen Schriftsteller Ron Winkler (geboren 1973) zu, der sich mit Komposita wie „grüngrausig“, „avocadogrün“, „azurgrün“ und „grünkohlgrün“ auf einem schmalen Grad zwischen Komik und banaler Selbstreferenzialität bewegt. „Ich hab diesen grünen / gewählt“ lässt Albert Ostermaier (geboren 1967) jemanden in seinem Langgedicht Solarplexus ausrufen und bestätigt so eine durchaus umstrittene Lebensweisheit der 1968er-Jahre, nach der es ohne Kunst sowieso keine Politik geben könne. Auch der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann (1940 – 1975) hatte zum Grün offenbar ein besonderes, unbestimmtes Verhältnis: „Man setzt sich hin / blickt auf etwas, das grün ist. / es sind Blätter, das ist alles / was man weiß. Es reicht // gewöhnlich aus.“ (aus: Standphotos).

In der Lyrik der Gegenwart, so resümierte 2019 die Berliner Germanistin Elisabeth K. Paefgen, haben „Farben weniger eine bedeutungsvolle Tiefe als eine bedeutungsvolle Oberfläche“ – sie lehnen magische Wirkungen ab, können sich aber auch der Faszination nicht entziehen –, auch wenn Derek Jarman für sich erkannte: „Nicht jeder findet Grün erquicklich.“

Oder sollte man am Ende nicht lieber mit einer gut gemeinten Einsicht seine grün gewordenen Gedanken abschließen? „Wer sich gerade grün und blau ärgert, der kann wenigstens behaupten, dass er versucht, Farbe in sein Leben zu bringen“, formuliert der 1955 geborene Ernst Ferstl. Und wiederum mit Derek Jarman gesprochen: „Die immergrüne Geschichte geht weiter …“

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Michael Kröger

Michael Kröger arbeitet als freierAutor und Kurator für zeitgenössische Kunst im Kunstraum hase29 in Osnabrück sowie für die Kirchengemeinde St. Marien/Osnabrück.


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