Entdeckungen im Bücherschatz

Ein Besuch der ältesten evangelischen Kirchenbibliothek in Halle (Saale)
Führungen nur nach Anmeldung: Anke Fiebiger.
Foto: Hans-Jürgen Krackher
Führungen nur nach Anmeldung: Anke Fiebiger.

Die Instruktion von 1717 organisierte den Dienst des Bibliothekars: „Hat derselbe gleichwie von seinem Antecessoribus (Vorgänger im Amt/d. Red.) geschehen, wöchentl. so wohl Winters-als Sommers-Zeit 2 Tage, nemlich Dienstags und Donnerstags von 2 bis 4 Uhr auf der Bibliothec sich einzufinden, solche offenzuhalten, und einen jeden den freyen zutritt daselbst zu verstatten. … Da auch ietzuweilen geschieht, daß frembde anhero kommen, und die Bibliothec zusehen verlangen, muß derselbe sich willig finden laßen, solche Personen daselbst herum zu führen, und Ihnen, was Er am remarqualessen zu seyn vermeinet, zuzeigen.“

Was vor mehr als dreihundert Jahren für die Marienbibliothek in Halle (Saale) festgeschrieben wurde, gilt noch heute. Bibliothekarin Anke Fiebiger steht dafür mit der ältesten, seit ihrer Gründung im Jahr 1552 ununterbrochen öffentlichen, evangelischen Kirchenbibliothek in Deutschland. Mit Büchersammlungen von Gelehrten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, mit Inkunabeln, Chroniken und Urkunden aus dem 13. bis 18. Jahrhundert, früher Reiseliteratur und Flugschriften aus der Zeit der Reformation. Mit 7 000 Gesangbüchern, Erstdrucken bedeutender Komponisten des 17. Jahrhunderts, mit kiloschweren Bibeln im Rindsledereinband voller Metallbeschläge und Schließen. 

Mit Luthers Widmung

Der heutige Klinkerbau von 1888 mutet im Innern an wie ein Hochregallager. Die Böden aus Gitterrosten erklimmt man über eine verzierte Gusseisen-Treppe. Den sieben Meter hohen Magazinsaal mit seinen drei Etagen teilen Eisenroste und hölzerne Regalwangen. Durch breite Rundbogenfenster fällt Licht in schier endlose Flure von Folianten. Bibliothekarin Fiebiger weist auf die älteste Schenkung von Georg von Selmenitz (1509–1578), die die Bibliothek schon 1580 erreichte. Georgs Mutter Felicitas (1488–1558), eine frühe Anhängerin der protestantischen Lehre in Halle, hatte ihm die Familienbibliothek aus fast 150 Bänden vermacht. Enthalten sind Erstausgaben der vollständigen Bibelübersetzung Luthers aus den Jahren 1534 und 1541 mit handschriftlichen Schenkungseinträgen des Reformators auf den Titelblättern und einer Widmung an seine „Freundin im Geist“. Die Witwe, erzählt Fiebiger, hat schon zu Kardinal Albrechts Zeiten von Thomas Müntzer das Abendmahl in beiderlei Gestalt empfangen. Und die Bibliothekarin präsentiert das Septembertestament, in dem Felicitas ihre eigenen Anmerkungen an den Rand geschrieben oder unterstrichen hat, was ihr wichtig war. Und wenn es in der Apostelgeschichte heißt „Da tat der Herr das Herz auf“, malte Felicitas ein rotes Herz an den Rand.

Münzbücher, Folianten über die Jagd, eine handkolorierte Erstausgabe der Schedelschen Weltchronik in Latein – Fiebiger gerät über ihren Buchbestand ins Schwärmen. Der gründete sich von Anfang an auf Spenden und sehr wertvollen Schenkungen. Die Gelehrtenbibliotheken versetzen den Besucher in besonderes Erstaunen. Universitätsprofessoren, Juristen und Mediziner legten testamentarisch fest, dass ihre Bibliotheken an den hallischen Marktplatz kommen sollen. „Diese stehen bei uns noch so, wie sie einst dort zuhause standen“, erläutert Fiebiger.

In die Präsenzbibliothek kommen Forschende aus aller Welt, um zu erfahren, was die Gelehrten im Bücherschrank hatten. Gerade hat sich die Universität Princeton angemeldet. So stehen auch Ludwig Bechstein und Søren Kierkegaard im Nutzerbuch aus dem 19. Jahrhundert. Ob als Besucher oder Bibliotheksmitarbeiter, nur das weiß die Bibliothekarin nicht.

„Wir katalogisieren aktuell alles zwischen 1 450 und 1 700.“ Dafür nimmt sie einen halbmeterdicken Bücherlaib in den Arm, gespickt mit Zetteln. Das hat seinen Grund: Es sind eigentlich 44 einzelne Bücher. Denn kleinere Schriften wurden in Sammelbänden zusammengefasst, hier die Prognostica, alte Schreibkalender. Aus dem 17. Jahrhundert ist ein Sammelband mit 104 Einzeltiteln, aber nur einer Katalogkarte für das erste Stück. „Die anderen 103 sind die Überraschungseier“, schmunzelt die Bibliothekarin. Und sie findet immer wieder Unikate, die es im weltweiten Bibliotheksverbund nur hier gibt, in der von der Ev­an­gelischen Marktkirchgemeinde zu Halle (Saale) getragenen Marienbibliothek.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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