Adventskranz oder Weihnachtsbaum?

Präzise Zeitdiagnosen sind wichtig, nicht nur beim Weihnachtsschmuck

Dreimal bisher war ich in meinem Leben für die Eingangshalle eines öffentlich zugänglichen Gebäudes verantwortlich: In den Jahren 2006-2010 für das Foyer des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität Unter den Linden, ein neoklassizistischer Wiederaufbau eines barocken Gebäudes mit der berühmten Feuerbach-These von Marx auf rotem Marmor, 2016-2020 für die Eingangshalle der Theologischen Fakultät dieser Universität, ein lichterfüllter Raum in ehemaligen Verkaufsräumen an der Museumsinsel und schließlich seit 2020 für das Entreé des in den dreißiger Jahren errichteten Hauptgebäudes der Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt.

Am einfachsten war es – kaum verwunderlich – in der Theologischen Fakultät: Da hing ein wunderbarer großer Adventskranz von der Decke, der Hausmeister des Gebäudes hatte ihn ungefragt angebracht und dazu einen Herrnhuter Christstern. Im Foyer der Humboldt-Universität stand für gewöhnlich ein Bäumchen mit lila Kugeln, da bat ich im zweiten Jahr die Hausmeister, doch einen Adventskranz über die große Treppe zu hängen und staunte nicht schlecht, als der Kranz hing: „Wir haben, weil vier Kerzen so mickrig aussahen, an allen vier Seiten jeweils drei Kerzen angebracht“. Zwölf Kerzen statt vier Kerzen – es läge nahe, an dieser Stelle etwas zum Grad der Entchristlichung der Menschen in den östlichen Bundesländern zu schreiben und wenigstens indirekt in die muntere Diskussion um die KMU 6 einzugreifen, doch dazu später. Denn auch im Entre der Akademie der Wissenschaften habe ich wieder unverdrossen an der Stelle eines Weihnachtsbaums den Adventskranz durchzusetzen versucht und davon muss zunächst die Rede sein.

Geschenkter Baum

Im Entre der Akademie, einem eindrücklichen Raum mit einem runden, von Geländer gesäumten Durchbruch durch alle Stockwerke bis auf ein Glasdach, stand (so lange ich es jedenfalls kenne) immer ein besonders liebe- wie geschmackvoll dekorierter Weihnachtsbaum mit großen roten Kugeln, einer elektrischen Lichterkette und dazu etwas Lametta. Vor einigen Jahren gab es einmal Aufregung wegen der Finanzierung; wenn ich mich recht erinnere, schenkte die Firma, die die Akademie damals mit Handtüchern und Toilettenpapier versorgte, den Baum zu Werbungszwecken. Aber die Annahme solcher kostspieliger Geschenke ist natürlich nach den strengen Regularien des Landes Berlin verboten. In diesem Jahr hat eine Botschaft, die in der Akademie einen festlichen Empfang in den ersten Adventstagen veranstaltete und dazu einen riesigen Baum (und weitere Accessoires aus dem entsprechenden Land) mitbrachte, uns für 900 Euro die Überlassung des prächtigen, mit goldenen Kugeln und goldener Lametta verzierten Weihnachtsschmucks angeboten.

Nun ist in Zeiten einer allgemeinen Haushaltsnotlage schwer zu verstehen, wenn eine öffentliche Einrichtung für so viel Geld einen Prachtbaum erwirbt und so nahmen die Mitarbeitenden der Botschaft das gute Stück mitsamt diversen Roll-Ups, verschiedenen Flaggen sowie Staatswappen wieder mit. Damit ergab sich die Gelegenheit, mein Lieblingsthema schon aus schlichten finanziellen Gründen anzusprechen: Wie wäre es mit einem Adventskranz statt des teuren Baumes, der zudem ja kein Werbegeschenkt von Papierfirmen und sonstigen Vertragspartnern sein darf? Gesagt, getan. Ein Mitglied der Akademie fand sich als Spender (das ist erlaubt), vier große rote Kerzen wurden montiert und leuchteten in den Wochen und Tagen munter (jedenfalls solange die Pforte besetzt ist, man muss ja auf Brandschutz achten).

 

Adventskranz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2023

Adventskranz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2023

Warum ist mir der Adventskranz immer schon so wichtig und warum in der Akademie noch viel mehr als vorher? Erst einmal ganz persönlich geantwortet: Ich genieße die Zeit des Wartens vor dem Christfest. Die kurze Zeit vor der Christvesper am Heiligen Abend, wenn alles vorbereitet ist, ich ruhig auf dem Sofa sitze und mich freue, aber auch die längere Zeit mit den Adventswochenenden und ihren besonderen Momenten. Diesen Unterschied zwischen Advent und Weihnachten möchte ich, wo ich kann, in Erinnerung bringen – er tut in einer Welt, die in diesen Wochen besonders schlimm durch die Gegend hetzt, einfach gut. Entschleunigung heißt das inzwischen. In vorweihnachtlichen Zeiten ist Entschleunigung besonders wichtig. Nicht nur für Christenmenschen.

In der Akademie ist mir Advent und die Differenz dieser Wartezeit zu Weihnachten noch einmal besonders wichtig geworden, weil präzise Zeitdiagnose mir so wichtig geworden ist. Präzise Zeitdiagnose gehört auch zu den Aufgaben der Akademie. Viele Menschen waren in den letzten Tagen und Wochen wieder an Covid erkrankt, aber wir leben nicht mehr einer Pandemie. Das Virus ist endemisch geworden. Die Ukraine und die russische Föderation führen nicht einfach Krieg gegeneinander, vielmehr hat Russland die Ukraine mit einem aggressiven Angriffskrieg überzogen. Und die Hamas ist eine Terrororganisation, die im Gaza-Streifen eine blutige Diktatur aufgerichtet hat. Sie schickt keine „Kämpfer“ in das Nachbarland, sondern Terroristen. Zeitdiagnose muss präzise ausfallen, die schlichte Repetition von biblischen Zeitansagen hilft im politischen Raum wenig. Ich forsche über Apokalypsen, Apokalyptik und Apokalyptiker-Gruppen, aber ich möchte eigentlich die Diskussionen darüber, wie wir die Zerstörung des Klimas aufhalten können, nicht durch apokalyptische Theologumena verunklart haben. Das Paradies und die Hölle helfen als Konzepte wenig bei der Frage, wie wir die Erderwärmung begrenzen. Was wäre das aber für eine präzise Zeitdiagnose, wenn man nicht einmal den Unterschied von Advent und Weihnachten öffentlich sichtbar machen kann?

KMU 6: Den Atheismus ernst nehmen

Nun komme ich doch noch einmal zu KMU 6. Natürlich kann man alle die, die gegenüber dem Christentum vollkommen gleichgültig sind, doch noch irgendwie für religiös erklären. Ich habe seit langem in den östlichen und längst auch in den westlichen Bundesländern mit vielen Menschen zu tun, denen Christentum überhaupt gar nichts mehr sagt. Für meinen Geschmack würde ich diese Menschen nicht ernst nehmen, wenn ich sie für irgendwie religiös erklären würde, „offen für die Transzendenz“ oder „auf Sinn hin orientiert“ und was für Formeln man dann gern verwendet. Mich haben die theologischen Kolleginnen und Kollegen aus der alten DDR immer mehr überzeugt, die uns rieten, den Atheismus ernst zu nehmen und nicht als Religiosität zu verklären, die noch nicht begriffen hat, dass sie religiös ist. Die Debatten über KMU 6 – und übrigens auch über die Frage, was Theologischen Fakultäten wie und in welcher institutionellen Gestalt lehren sollen – zeigen, dass diese Fragen keine akademischen Fragen des verwendeten Religionsbegriffs oder unterschiedlicher disziplinärer Zugänge sind. Es geht um ganz praktische Fragen: Gehört das Studium der Theologie von überflüssigen historischen Inhalten entrümpelt, wie jüngst gefordert wurde? Soll man sich auf den „Glutkern“ der Religion konzentrieren in der kirchlichen Arbeit und was ist das eigentlich?

Ich wollte zwei Tage vor dem Heiligen Abend alle solche Fragen nicht einmal kurz beantworten in einer Kolumne. Dafür sind die Fragen viel zu ernst. Die Diskussion wird weitergehen nächstes Jahr. Aber ich wollte darauf aufmerksam machen, dass man Ergebnisse einer Befragung ja nicht wie ein Urteil vor Gericht als abschließenden Bescheid nehmen muss (und selbst vor Gericht gibt oft eine Revisionsmöglichkeit). Man kann sie ja zum Ausgangspunkt für ein bestimmtes Handeln nehmen. Wann immer ich einen Adventskranz statt eines Weihnachtsbaumes habe aufstellen lassen, hat das zu anregenden Gesprächen geführt. Zu Gesprächen über Zeitläufte, Zeitdiagnosen und über den Sinn vorweihnachtlicher und weihnachtlicher Tage. In diesem Sinne: Gesegneten vierten Advent und frohe Weihnachten!

 

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