„Der Blick ist sehr getrübt“

Ein Gespräch mit dem Bundesdrogenbeauftragten Burkhard Blienert über die scheinbare Normalität von Alkohol in unserer Gesellschaft und seinen Einsatz für strengere Gesetze
Fußballstadion
Foto: picture alliance

zeitzeichen: Herr Blienert, 46 Milliarden Euro werden jedes Jahr in Deutschland mit alkoholhaltigen Getränken umgesetzt, aber 57 Milliarden Euro kosten uns Alkohol und die Schäden, die er anrichtet. Können wiruns das auf Dauer leisten?

BURKHARD BLIENERT: Das wäre eine Frage an den Bundesfinanzminister. Aus gesundheitspolitischer Sicht ist wichtig festzustellen: Es gibt in Deutsch­land rund acht Millionen Menschen, die Alkohol in riskantem Maße konsumieren, und zwischen 1,6 und 1,8 Millionen Menschen, die süchtig danach sind. Das sind die Betroffenen, die wir gemeinsam mit ihren Angehörigen in den Mittelpunkt einer Debatte über Alkohol und seine volkswirtschaftlichen und anderen Kosten rücken müssen. Wir sprechen definitiv zu wenig über die Gefahren von Alkohol.

Woran liegt das?

BURKHARD BLIENERT: Der Blick ist einfach sehr getrübt durch die scheinbare Normalität, die der Konsum von Alkoho l in unserer Gesellschaft hat. Das wird nicht kritisch hinterfragt. Es hat ja auch beim Thema Alkohol im Straßen­verkehr viele Debatten gebraucht, um tatsächlich Grenzwerte festzulegen. Und diese reichen eigentlich noch nicht aus, um die Menschen wirklich zu schützen. In anderen Bereichen des Themas ist das genauso, aber da ist die Diskussion noch in einem viel früheren Stadium.

Sie haben zu Beginn des Jahreseinen Paradigmenwechsel angekündigt und setzen sich für strengere Regeln beim Umgang mit Alkohol und verbesserten Jugendschutz ein. Was war der Hintergrund?

BURKHARD BLIENERT: Man hat erwartet, dass wir in dieser Legis­laturperiode, wenn wir von Paradigmenwechsel reden, über Cannabis sprechen. Mir war es aber wichtig, sofort den Blick zu weiten. Die stärkere Regulierung von Drogen insgesamt ist der Maßstab. Im Moment haben wir im Cannabis-Bereich keine Regulierung, sondern einen freien Schwarzmarkt. Der ist unkontrolliert, Jugendschutz findet nicht statt, keine gesundheitliche Kontrolle. Und das Geld fließt in organisierte Kriminalität oder in andere dubiose Geschäfte. Ein Verbot hält die Konsumierenden also nicht ab. Aber wir brauchen eine stärkere Regulierung auch für Alkohol, wo der gesetzliche Rahmen viel zu lax ist, und natürlich auch für Zigaretten, E-Zigaretten und Co.

Was konkret schwebt Ihnen da vor?

BURKHARD BLIENERT: Alkohol ist ein Zellgift. Das muss man so aussprechen. Wir wissen, jeder Schluck schadet, jeder Schluck im Jugendalter noch stärker. Weil die Hirnreife bei Jugendlichen noch nicht abgeschlossen ist, wird das Gehirn durch den Konsum von Cannabis, aber eben auch von Alkohol noch stärker in Mitleidenschaft gezogen als bei Erwachsenen. Deshalb war es mir wichtig, den Blick nicht nur auf das Sponsoring oder Marketing von Alkohol zu richten, was im Koalitionsvertrag als Aufgabe beschrieben ist, sondern darüber hinaus explizit auch den Jugendschutz anzusprechen. Vielen war gar nicht bewusst, dass wir in Deutschland das begleitete Trinken von Alkohol ab 14 Jahren erlauben. Das ist viel zu früh. Ich bin dafür, Alkohol, auch Bier und Wein, nicht an unter 18-Jährige abzugeben, genauso wie Cannabis. So handhaben es viele andere Länder und können sich dabei auch auf Empfehlungen der Weltgesundheits­organisation berufen.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Vorstoß aus den Unternehmen und der Politik?

BURKHARD BLIENERT: Der hat zu Fragezeichen bei den Beteiligten geführt, weil sie nur eine Cannabis­debatte erwartet haben. Und dann haben sie noch gemerkt, dass da einer ernsthaft unterwegs ist. Die Lobbyverbände reagieren mit den alten Argumenten, die das Thema zu sehr vereinfachen. Manche stellen den Präventivcharakter einer Altersbeschränkung in Frage und sagen, es sei doch die Aufgabe von Eltern, Kindern den Umgang mit Risikostoffen beizubringen. Das ist wissenschaftlich absolut unbelegt. Aber es wird halt alles Mögliche versucht, Vorstöße wie den meinen ins Leere laufen zu lassen. Letztendlich ist auch viel Emotion im Spiel.

Was für Emotionen kommen Ihnen da entgegen?

BURKHARD BLIENERT: Eigentlich alles, was man sich vorstellen kann. Manche fühlen sich persönlich angegriffen und reagieren mit anonymen Beschimpfungen über das Internet, andere diskutieren ernsthaft die Sorgen von Eltern. Es gibt aber auch Zustimmung zu einer Erhöhung der Altersgrenze, gerade von Eltern, die ihre Kinder vom Alkohol fernhalten wollen und sich Rückendeckung durch die Politik erhoffen. Insofern gibt es beides.

Sie fordern gleichzeitig strengere Regeln für die Werbung für Alkohol bis hin zum Verbot.

BURKHARD BLIENERT: Ja, denn wir wissen, dass Werbung wirkt und zur erwähnten Normalität von Alkohol in unserer Gesellschaft beiträgt. Deshalb sind aus meiner Sicht Werbe- und Sponsoringverbote wesentliche Instrumente der Prävention. Keine Alkoholwerbung in Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche Medien konsumieren, das würde sie schützen. Das wird bei den sozialen Medien natürlich schwierig, da brauchen wir andere Instrumente. auch die Werbung im öffentlichen Raum können wir dort einschränken, wo Kinder und Jugendliche unterwegs sind, zum Beispiel im Sport. Wenn Kinder und Jugendliche im Verein Sport treiben, aber gleichzeitig ständig mit Alkohol und Werbung dafür konfrontiert werden, ist das kontraproduktiv. Als ob das eine natürliche Symbiose wäre und es zwangsläufig ist, nach dem Training in der Kabine eine Kiste Bier zu trinken. Hier wäre es sinnvoll, die Werbung zu verbieten und zusätzlich mit den Vereinen ins Gespräch über Prävention und die Vorbildfunktion von Trainerinnen und Trainern zu kommen. Das darf uns aber auch als Gesamt­gesellschaft nicht egal sein.

Die Bier-Werbung beim Fernseh-Fußball wäre dann auch nicht mehr erlaubt?

BURKHARD BLIENERT: Ich freue mich sehr, dass Sie genau dieses Beispiel bringen. In der Halbzeitpause wird im Radio und im Fernsehen für Bier geworben, das scheint bei uns selbstverständlich zu sein. Ist es aber nicht.

Aber das Bier zum Fußball ist schon Teil unserer Freizeitkultur, oder?

BURKHARD BLIENERT: Man nennt das Kultur, doch für die Brauereien ist es vor allem ein Wirtschaftsmodell; sie verdienen Geld damit. Aber ich sage: Bratwurst ist okay, Bier nicht.

Also generell auch kein Bier im Stadion?

BURKHARD BLIENERT: Es gibt zu­mindest gute Argumente dafür. Etwa mit Blick auf die Kinder, die mit Eltern ins Stadion gehen, oder jugendliche Fans, die permanent mit den Risikosituationen alkoholisierter Fans konfrontiert werden. Damit ist häufig auch Gewaltanwendung verbunden. Die Polizei wünscht sich alkoholfreie Räume rund ums Stadion, damit manche deeskalierenden Maßnahmen auch tatsächlich wirken und greifen können. Die Frage, wie weit Aufklärung hier noch besser wirken kann oder ob es Zeit ist für knallharte Verbote, wird ja in den Vereinen diskutiert. Die Debatte muss geführt werden, weil viele diese vermeintliche Symbiose von Fußball und Alkohol nicht mehr wollen. Sie brauchen Rückendeckung aus der Politik.

Rauchen galt bis vor kurzem noch als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Das hat sich geändert, auch durch die Warnhinweise auf den Packungen. Warum sind die auf den Flaschen so viel kleiner?

BURKHARD BLIENERT: Manche bestreiten, dass die Warnhinweise auf den Zigaretten tatsächlich gewirkt haben. Ich denke, dass die Wirkung belegt ist. Und ich halte die Schockbilder nach wie vor für richtig und sinnvoll. Auch auf Alkoholflaschen spricht nichts gegen Warnhinweise, im Gegenteil. Aber Warnhinweise auf Flaschen reichen nicht aus. Wir kommen von einem sehr hohen Konsumniveau in Deutschland. Das senken wir nicht allein durch neue Etiketten, wir brauchen Ein­schränkungen von Werbung und Sponsoring.

Wie kann das gelingen?

BURKHARD BLIENERT: Auch beim Tabak ist das nicht allein durch die Schockbilder gelungen, sondern durch einen ganzen Maßnahmenmix, den Konsum zu reduzieren. Den Raum beschränken, in dem geraucht werden darf, zum Beispiel, rauchfreie Kneipen und Restaurants, das war eine wesentliche Maßnahme. Deutliche Preissteigerungen beim Tabak haben dazu geführt, dass gerade Jugendliche nicht angefangen haben zu rauchen. Und irgendwann galt es als uncool zu rauchen, den Zigaretten wurde die Normalität entzogen. Das wünsche ich mir im Alkoholbereich letztendlich auch. So könnten wir unser Verhalten regulieren und runterkommen von den Mengen, die wir in Deutschland trinken. Da liegen wir im inter­nationalen Vergleich nach wie vor im oberen Drittel, was die Menge betrifft.

Wie haben das andere Länder geschafft?

BURKHARD BLIENERT: Durch ver­schiedene Maßnahmen, meistens in Kombination. Auf jeden Fall gehören die gesellschaftliche und politische Akzeptanz und Rückendeckung für das Ziel wesentlich dazu, wenn wir uns über diese Themen unterhalten. Über die öffentliche Sichtbarkeit haben wir schon gesprochen, aber auch die Einschränkung der Verkaufszeiten wäre eine Maßnahme. Alkohol ist bei uns an jedem Tag 24 Stunden verfügbar. Andere Länder sind über spezielle Shops gegangen, etwa in den Niederlanden, haben Alkohol also aus der Supermarktkasse in ge­sonderte Bereiche ausgelagert. Preise und Steuern sind auch ein wichtiges Element. Der Instrumentenkasten ist eigentlich groß. Man muss sich nur gemeinsam darauf verständigen, welchen Weg wir gehen.

Sie haben höhere Steuern als Instrument genannt. Derzeit fallen für eine 0,7-Liter-Flasche Schnaps mit 40 Prozent Alkohol 3,65 Euro an Steuern an. Um wie viel sollten die Steuersätze denn steigen?

BURKHARD BLIENERT: Eine Erhöhung der Alkoholsteuer ist im Koalitions­vertrag nicht vorgesehen. Das würde mit Blick auf die Regierungskoalitionen mit den unterschiedlichen Farben auch gewiss kompliziert und schwierig. Aber ein großer Preissprung wäre in Deutschland schon ein Mittel und eine Maßnahme, um insgesamt den Konsum mit einem Signal zu senken und mehr Geld für die Prävention zu haben. Zumal Alkohol in den vergangenen 30 Jahren billiger geworden ist.

Wie gehen Sie selber mit Alkohol um?

BURKHARD BLIENERT: Ich lebe nicht abstinent. Aber durch die Be­schäftigung mit dem Thema habe ich schon einen anderen Blick auf diese Thematik als viele andere Menschen. Ich bin Jahrgang 1966, in einer katholischen ländlichen Region groß geworden. Vereinswesen, Schützenfest, Karneval – normalerweise reicht das bei den meisten Menschen aus, dass gewisse Bilder im Kopf entstehen. Und Alkohol spielte da immer eine Rolle.

Hat sich die Bewertung von Alkohol durch Ihr Amt verändert?

BURKHARD BLIENERT: Es gibt meist einen kulturellen Hintergrund, durch den man mit bestimmten Stoffen oder Substanzen in Berührung kommt. Das ist in der Stadt wie im Land unterschiedlich. Und diese kulturellen Veränderungen sind nichts Vorherbestimmtes, man kann sie eben auch gestalten, prägen. Mein Einsatz für eine stärkere Reglementierung von Alkohol und einen anderen Umgang damit, bedeutet für viele natürlich eine gewisse Gefahr. Was mir immer klarer wird: Wir brauchen auch diese kulturelle, soziologische oder historische Debatte über die Rolle von Alkohol in der Gesellschaft. Nicht nur gesundheitlich, sondern eben auf anderen Ebenen.

Ihre politische Macht als Bundesdrogen­beauftragter ist begrenzt, Sie haben kein Ressort, kein großes Budget, sitzen nicht im Kabinett. Was hat Sie gereizt, sich zwischen alle Stühle zu setzen und jetzt den Kampf gegen Sucht und Drogen aufzunehmen?

BURKHARD BLIENERT: Ich bin bereits 2013 in das Thema eingestiegen. Vorher hatte ich Bildungspolitik gemacht, von der ja alle irgendwie betroffen sind. Das ist bei Drogen und Sucht nicht so viel anders. Das menschliche Wesen ist immer auf der Suche nach Grenzerfahrungen, neuen Horizonten und nach Gelegenheiten, sich besser zu fühlen. Diese Erfahrung, mit Menschen zu arbeiten, die mit ihren Problemen häufig allein gelassen werden, deren Sucht als individuelles Fehlversagen und nicht als Krankheit gesehen wird, obwohl wir es besser wissen müssten, das hat für mich den Reiz ausgemacht. Und das Thema reicht über die stofflichen Süchte hinaus in den Bereich Videospiele, Glücksspiele, aber auch in die organisierte Kriminalität, die Fragen von Innerer Sicherheit, überhaupt Sicherheit. Wir wissen, dass ein Viertel aller Gewalttaten in dieser Gesellschaft auf Alkoholeinfluss zurückgeht. Das Thema hat so viele Aspekte.

Und gleichzeitig ist es ein Thema voller Ambivalenz in unserer Gesellschaft. Wer nicht trinkt, muss sich rechtfertigen, wer viel trinkt, gilt als charakterschwach. Dazu muss er oder sie die Krankheit verbergen, weil sonst ein Stigma droht.

BURKHARD BLIENERT: Ja, das ist ein Selbstschutz von vielen Menschen. Die Beherrschung von Lebensrisiken ist eine der größten Heraus­forderungen, die alle Menschen haben. Sobald es aus dem Ruder läuft, will man es persönlich häufig nicht wahrhaben. Oder man grenzt sich als Selbstschutz ab von den Menschen, die abrutschen in die graue Welt und nicht mehr sehen, wo sie Hilfe finden. Deshalb ist diese Entstigmatisierung eine der wesentlichen Aufgaben bei den Themen Alkohol und Sucht. Dazu gehören für mich, da bin ich ganz Aufklärer, Transparenz, Wissen, Offenheit. Und nicht das Ver­kleistern durch wirtschaftliche Interessen, das Schweigen und Wegschauen. Nicht verteufeln, sondern das Licht sehen.

 

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Stephan Kosch am 20. September 2023 in Berlin

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"