„Schweben zwischen Extremen“

Wolfgang Herrndorfs Fortschreibung einer romantischen Form von Religiosität
Den Blick gerichtet „in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit“. Nirgendwo sonst in Deutschland ist es in der Nacht schwärzer, leuchten die Sterne heller als im Sternenpark Westhavelland.
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Den Blick gerichtet „in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit“. Nirgendwo sonst in Deutschland ist es in der Nacht schwärzer, leuchten die Sterne heller als im Sternenpark Westhavelland.

Er hatte ursprünglich gar nicht Schriftsteller werden wollen, Kunst studiert und als Illustrator gearbeitet. Doch Wolfgang Herrndorf avancierte zu einem der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Zeigt sich in seinem Festhalten an der Möglichkeit von Transzendenz ein moderner Typus von Religion? Dieser Frage geht der Hallenser Theologe Karl Tetzlaff anlässlich Herrndorfs zehnten Todestages nach.

"Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ ist der vielsagende Titel einer Erzählung von Wolfgang Herrndorf (1965–2013). Ein ziel- und antriebsloser Mittdreißiger trifft darin auf einen Jungen, der noch Träume hat. „Die meisten Leute werden völlig normal“, stellt der desillusionierte Erwachsene dem Heranwachsenden in Aussicht. „Ich nicht“, antwortet der Junge, „ich will mit diesem ganzen Zeug nichts zu tun haben. […] Langweiliger Beruf, heiraten, Kinder kriegen, sterben.“ Stattdessen will er hoch hinaus, ins Jenseits des Van-Allen-Gürtels, der die Erde wie eine unsichtbare Barriere umgrenzt. Sein Wunsch ist es, Raumfahrer zu werden und an einer bemannten Mondmission teilzunehmen.

Während sich die ungleichen Gesprächspartner unterhalten, betrachten sie vom Balkon einer verwaisten Wohnung den Mond, der „merkwürdig groß und symmetrisch und wie ein Auge zwischen zwei Schornsteinen stand“. Dorthin träumt sich der Junge. Der Ältere setzt hingegen alles daran, diesen ihm unrealistisch erscheinenden Traum zu zerstören. Die Mondlandung sei in einem Hollywood-Studio inszeniert worden, denn den strahlungsintensiven Van-Allen-Gürtel könne kein Mensch lebend durchqueren, sagt er mit scheinbar faktenbasierter Klarheit. Den Jungen versetzt das in ein trauriges Schweigen. Schließlich geht er nach Hause. „Die Sehnsucht! Ach, die Sehnsucht!“, denkt sich der (vermeintlich) siegreiche Erwachsene, als er den zögernden Schritten des Jungen hinterherlauscht.

In den so unterschiedlichen Figuren aus Herrndorfs 2007 erschienener Erzählung lassen sich Grundmotive seines literarischen Schaffens entdecken. Nimmt man nur die bekanntesten Romane – Tschick (2010) und Sand (2011) –, entpuppt sich die Spannung zwischen einer nihilistisch angehauchten Illusionslosigkeit und einer überschießenden Sehnsuchtshaltung, wie sie durch die beiden Protagonisten verkörpert wird, als fundamental für sein Werk. Anders gesagt, verläuft diese Spannung zwischen Per­spektiven, die eine Überschreitbarkeit des irdischen Diesseits bejahen beziehungsweise verneinen. Wie noch deutlich werden wird, kann das so gesehen von Herrndorf betriebene „Schweben zwischen Extremen“ (Novalis) als Fortschreibung einer spezifisch romantischen Form von Religiosität angesehen werden. Das soll an ausgewählten Passagen aus seinem Werk gezeigt werden.

Irgendwo in der Walachei

Kaum zufällig enthält auch der Roman Tschick, der Herrndorf zu später Bekanntheit verhalf, eine Szene, in der die beiden Hauptfiguren gemeinsam den Nachthimmel betrachten. Maik und Tschick, so die Namen der vierzehnjährigen Protagonisten, brechen darin mit einem gestohlenen Lada zu einer Reise in die Walachei auf. Dass „irgendwo da draußen und Walachei“ auch „dasselbe“ bedeuten können, wie Maik einmal feststellt, ist bezeichnend für ihre mehr den Weg als das Ziel anvisierende Fahrt. Eine der vielen Zwischenstationen ihrer Reise ins Irgendwo ist eine Aussichtsplattform, von der aus Tschick und Maik den Blick nach oben „in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit“ richten. „Wir lagen auf dem Rücken, und zwischen den kleinen Sternen tauchten kleinere auf und zwischen den kleineren noch kleinere, und das Schwarz sackte immer mehr weg. ‚Das ist Wahnsinn‘, sagte Tschick. ‚Ja‘, sagte ich, ‚das ist Wahnsinn‘.“ Unter dem Eindruck des die Sicht in unendliche Weiten freigebenden Sternenhimmels fragen sie sich, ob es „da noch irgendwas“ gibt. Beide halten das jedenfalls nicht für unmöglich. So stellen sie sich vor, dass auf einem der Sterne ein Volk von Rieseninsekten lebt, bei denen gerade die Geschichte ihrer Reise als Film im Kino zu sehen ist. „Aber alle denken, es ist nur Science-Fiction, und in Wirklichkeit gibt’s uns gar nicht. […] Außer zwei jungen Insekten! Die glauben das! […] Die denken, dass es uns gibt, weil wir ja auch denken, dass es sie gibt.“

Unbegreiflicher Wahnsinn

Mittels der Fantasie finden Herrndorfs Figuren hier sprechende Bilder für den letztlich unbegreiflichen Wahnsinn der sich ihnen darbietenden schier unendlichen Sternenpracht. Es ist deren Anblick, was den grenzüberschreitenden Ausgriff ins Außer-Irdische für sie überzeugend erscheinen lässt.

Im Kriminal- und Wüstenroman Sand, den Michael Maar treffend als „Gegenbuch zu Tschick“ bezeichnet hat, gibt es keine derartigen Ausgriffe in unendliche Weiten. „STRAND OHNE MEER“ lautet einer der von Herrndorf verworfenen Alternativtitel für dieses schon formal jeder höheren Sinnerwartung widerstrebende Werk. Es besteht aus einem nicht leicht auf den Punkt zu bringenden Gewirr von Handlungsfiguren und -plots, die vor allem in der nordafrikanischen Sahara angesiedelt sind. Erst spät betritt der Protagonist die Bühne: ein Mann namens Carl, der sein Gedächtnis und also auch die Kenntnis seines wahren Namens verloren hat. Carl wird schließlich entführt, verhört und gefoltert, weil er, der nicht einmal weiß, wie er heißt, Informationen über den Standort einer wertvollen Mine haben soll. „Unbeeindruckt“ vom einigermaßen blutigen Geschehen, das folgen wird, hebt sich schon auf der ersten Seite des Buches „die Sonne über den Horizont“ und wirft ihr Licht gleichgültig „über Lebende und Tote, Gläubige und Ungläubige, Elende und Reiche“. In ihrem schicksalhaften, keine Unterschiede kennenden Vorschein steht die gesamte Romanhandlung, aus deren rätselvollen Strukturen es kein Entrinnen gibt. So wird Carl am Ende in einer finsteren Höhle – „so dunkel, dass nicht ein Schimmer von Restlicht […] in die Tiefen hinabdringt“ – angekettet und zurückgelassen. Er schafft es zunächst, sich zu befreien und „erblickt“ nach längeren Irrgängen „in gar nicht so weiter Ferne einen von Steinzacken umrahmten Ausschnitt des Himmels“. Als er „in die tröstlich menschenleere Welt“ hinaustritt, trifft ihn jedoch bald schon ein tödlicher Schuss. „Und wie sinnlos das alles“, geht es einer anderen Romanfigur durch den Kopf, eine Aussage, in der sich die Lebenssicht des gesamten Romans spiegelt.

Aufbrechende Sehnsucht

Die ins Extreme gehenden Unterschiede zwischen Tschick und Sand führen nicht nur vor Augen, was für ein vielfältiges Register der Schriftsteller Herrndorf zu bespielen in der Lage war. Sie weisen zugleich auf die beiden schon in „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ begegnenden Grundausrichtungen hin: dort das geläuterte Bewusstsein einer in sich abgeschlossenen Welt, in der alles ist, wie es ist, und auch der kleinste „Ausschnitt des Himmels“ bei näherem Hinsehen zur Illusion wird – hier eine an Unendlichkeitserfahrungen aufbrechende Sehnsucht danach, dass „da“ über die empirische Welt hinaus „noch irgendwas“ ist.

Der Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek hat ein solches in der Gegenwartsliteratur häufig zu beobachtendes Schillern zwischen Realismus und Transzendenz jüngst als eine Folgewirkung der frühromantischen Neubesinnung auf Religion beschrieben. Novalis’ bereits zitierte Rede vom „Schweben zwischen Extremen“ sucht diese unabschließbare Bewegung auf den Punkt zu bringen, in der nie feststeht, welche der beiden Seiten endgültig Recht behält. Die Einbildung eines Jenseits unserer Erfahrung mag „im Gebiete des gemeinen Verstandes“ als „eine Täuschung“ erscheinen. Angesichts zum Beispiel des nächtlichen Sternenhimmels kann sie aber „etwas durchaus Reales“ haben, wie mit Novalis zu sagen ist. Friedrich Schleiermacher wusste übrigens, im „bewunderten und gefeierten Sternenhimmel“ als dem „Unendlichen der sinnlichen Anschauung“ das „höchste Sinnbild der Religion“ zu entdecken.

Doch so wie für Maik und Tschick irgendwann der nächste Tag beginnt und die Rückkehr nach Hause kommen wird, bleibt die wundersame Ansicht des Unendlichen auf bestimmte Augenblicke beschränkt. Sie lässt sich nicht auf Dauer stellen, ja kann sich nachher auf leidvolle Weise als bloß illusionär entpuppen. „Er spürte, dass er bis zu diesem Moment geglaubt hatte, unsterblich zu sein“, heißt es in Sand über den im Höhlendunkel angeketteten Carl. Seine Hilferufe hallen „von den Wänden wider ins Nichts“. Das ist meilenweit entfernt von Maiks und Tschicks Perspektive, die sich sogar vorstellen können, dass jemand in der Ferne des Weltalls an sie denkt. Aber es ist nah an jenen dunklen Lebenserfahrungen, mit denen Herrndorf während der Arbeit an beiden Romanen persönlich konfrontiert war.

„Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts, ich freue mich auf nichts außer den heutigen Tag. Den größten Teil der Zeit habe ich das Gefühl, tot zu sein“, schreibt er in seinem zuerst als Blog veröffentlichten Tagebuch Arbeit und Struktur (2013). Es ist kurz nach seiner Selbsttötung vor zehn Jahren als Buch erschienen und schildert auf schonungslose Weise das Wegbrechen von Lebensperspektiven angesichts eines unheilbaren Hirntumors, der Anfang 2010 bei Herrndorf diagnostiziert worden war. „Daß alles vergeht und die Menschheit stirbt und die Sonne erlischt und alles sinnlos ist, habe ich immer gewußt“, lautet eine häufiger darin formulierte Einsicht. Sie sei schon als Kind in ihm aufgekommen und habe sich „beim Lesen eines Artikels“ über Quantentheorie bestätigt, „wo ich auf einmal wusste: Es gibt diese Welt nicht, es ist ein bodenloses Nichts, und es knickte mir die Beine weg“. Anders als seine jugendlichen Romanfiguren Maik und Tschick, die er in den (wenigen) Jahren seiner Krankheit literarisch zum Leben erweckt, weiß er sich oft „umgeben von schwarzer Finsternis und unendlicher Leere des Weltalls“. Mit solchen nihilistisch anmutenden Passagen verbinden sich auch scharfe Kritiken insbesondere an religiösen Formen der Sinn- und Troststiftung. „Die Frage ‚Warum ich?‘“, schreibt er etwa an einer Stelle, sei ihm „noch nicht gekommen. Ohne gehässig sein zu wollen, vermute ich, daß diese Frage sich hauptsächlich Leuten aufdrängt, die, wenn sie Langzeitüberlebende werden, Yoga, grünen Tee, Gott und ihr Reiki dafür verantwortlich machen. Warum ich? Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie.“

Dasein als Spielball

Die Reduktion des eigenen Daseins darauf, bloßer Spielball in einer „biochemischen Lotterie“ zu sein, die Sein und Nichtsein ohne nachvollziehbaren Sinn zuteilt, ist aber nicht Herrndorfs letztes Wort zur Sache. „Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder“, lautet eine Passage, in der eine anders gelagerte Lebenssicht aufleuchtet. Immer wieder gibt es solche Momente, die Herrndorfs düsterer Abgeklärtheit „den Stecker ziehen“. Insbesondere „in der Natur“ überfällt ihn zu seiner „Überraschung in manchen Momenten das verwirrende Gefühl, noch da zu sein“ – „in diesen Augenblicken“, so fügt er an, „wankt mein Nihilismus auch“. Einmal schaut er gar „von einer Bank aus der Natur bei ihrer unangestrengten Nachbildung Deutscher Romantik“ zu. Dass Poesie und Literatur die Wirklichkeit demnach wenigstens im Auge des Betrachters über ihr bloßes Sosein zu erheben vermögen, ist auch etwas, das Herrndorf beim Schreiben der Sternenhimmel-Szene aus Tschick erlebt. Im Tagebuch berichtet er vom „ungeheuren Trost“ und der starken Beruhigung, die ihn dabei erfasst hätten: „Und ich brauche nicht einmal den Anblick. Vorstellung und Beschreibung reichen. Als ich noch auf der Kunstakademie war, war das immer mein Einwand gegen die Abstraktion: der Himmel. Leider war ich mit dieser Meinung ganz allein.“

Zwischen den Extremen

Die Lektüre von Arbeit und Struktur führt vor Augen, wie sehr Herrndorf selbst zwischen jenen Extremen geschwebt ist, die seine Romanfiguren verkörpern. Sein Tagebuch enthält den interessanten Hinweis, dass der in Sand „gegen Ende völlig aus dem Ruder laufende deprimierende Nihilismus eine direkte Reaktion auf die Freundlichkeit der Welt in Tschick“ sei, beziehungsweise sei es genau „umgekehrt“ gewesen: „Denn eigentlich war Sand zuerst.“ Mag eine desillusionierte und abgeklärte, ja nihilistische Perspektive demnach für Herrndorf der primäre Weltzugang gewesen sein, hielt er sie anscheinend nicht für ausreichend. Zu viel spricht dagegen, dass damit alles gesagt sein könnte. Zu stark ist die an Erfüllungsmomenten sich entzündende Sehnsucht danach, dass „da noch irgendwas“ ist, das dem „gemeinen Verstand“ unerklärlich bleibt und „ungeheuren Trost“ zu gewähren vermag.

Dieses bei Herrndorf fortwirkende romantische Festhalten an der Möglichkeit von Transzendenz verweist auf einen spezifisch modernen Typus von Religion, der aller Wahrscheinlichkeit nach gegenwärtig verbreiteter ist, als es manche oft zitierte kirchensoziologische Verfallstheorie wahrhaben will. Selbst den eingangs angeführten Mittdreißiger befällt am Ende von „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ schließlich „ein unendliches Glücksgefühl“, das ihn weit über seine spärlich eingerichtete Wohnung hinaussinnen lässt: Er fühlt sich in diesem Moment glücklich „verdammt zur Bewegungslosigkeit für die nächsten Stunden, für die Nacht, für die nächsten fünf Milliarden Jahre, unter meinem Fenster, unter dem grünen Himmel, unter dem Mond, in einem sonderbar unverständlichen Universum wie diesem.“ Die Gegenwartsliteratur vermag dieser religionsproduktiven Unverständlichkeit einen vielgelesenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen – theologisch sollte das zu denken geben.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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