Leiden und Leidenschaft

Dorothee Sölles Spuren hin zu einer Theologie der Vulnerabilität
Dorothee Sölle (1929–2003), Foto von 1996.
Foto: epd
Dorothee Sölle (1929–2003), Foto von 1996.

Zahlreiche Veranstaltungen und Texte erinnern zurzeit an die Theologin Dorothee Sölle, die vor 20 Jahren gestorben ist. In ihrem Text anlässlich dieses Gedenkens skizziert die badische Landesbischöfin Heike Springhart wichtige theologische und anthropologische Grundfragen, die Dorothee Sölle in ihrem Werk in eindrücklicher und inspirierender Form bearbeitet hat, woraus theologisches Denken bis heute produktiv schöpfen kann.

Von einem Generationenwechsel in der Theologie, den Dorothee Sölle eingeleitet hat, schrieb Albrecht Grözinger jüngst an dieser Stelle. Er hatte den Generationenwechsel der Nachkriegsgenerationen in der Theologie vor Augen – von Karl Barth und Rudolf Bultmann hin zu Dorothee Sölle und ihren Zeitgenossen. Da war sie entschieden und unbequem und vielschichtig. Ihr Blick auf das Leiden und ihre Leidenschaft dafür, „Fenster der Verwundbarkeit“ offenzuhalten, wie der Titel eines Buches aus dem Jahr 1987 lautet, ziehen eine ideologiekritische Spur gegen die Orientierung an autonomen Helden als anthropologisches Grundmodell. Heldin war sie selbst nicht und wollte es auch nicht sein. Das bleibt ein Stachel.

Grenzlagen ausloten

Aber mit Dorothee Sölle begegnet uns nicht nur und schon gar nicht in erster Linie das Generationenthema, sondern in ihr und ihrem Werk begegnen uns die Grundfragen einer Theologie und einer Kirche, die sich ihrer politischen Verantwortung bewusst sind, den Realismus biblischer Texte ernst nehmen und um ihre biblischen und spirituellen Wurzeln und Quellen wissen. Darum geht es auch heute: dass und wie wir Grenzlagen ausloten zwischen dem prophetischen und klaren Wort zur rechten Zeit! Und zwischen dem Mut zu einem anderen Ton. Wir brauchen Raum für Nachdenklichkeit in der Gesellschaft, in der Kirche und in der Theologie – und wir brauchen zugleich profilierte Stimmen eines engagierten Christentums. Zu beidem inspiriert mich Dorothee Sölle.

Darunter und dahinter liegt unsere geteilte Leidenschaft für die Verwundbarkeit. Sie wollte Fenster der Verwundbarkeit offen halten – schon lange bevor auch in der Theologie die Vulnerabilität zu einem eigenen Thema wurde. Fulbert Steffensky hat Dorothee Sölle, seine Frau, als eine zornige, fromme und fehlbare Frau beschrieben. Für mich war sie eine Frau und ist sie eine Theologin, die die Kraft der Vulnerabilität nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt hat. Sie hat sich das Leiden der Welt und das Leiden Christi auf den Leib und zu Herzen gehen lassen und wusste, dass sie nicht für sich lebt und steht, sondern zog aus einer tiefen Frömmigkeit Kraft. Ihre Spiritualität war davon geprägt, dass sie um die fundamentale Offenheit für Gottes Offenbarung wusste, um sie betete und dafür einstand. Sie hat sich mit ihrer Theologie und mit ihren Zeitansagen bewusst angreifbar und verwundbar gemacht und wusste darum, dass bedingungsloses Engagement immer auch fehlbar ist.

Trotzdem waren das Zaudern, Zögern und Abwägen nicht ihre Sache, genauso wenig, wie es Kompromisse waren. Sprechend dafür ist ihre Reaktion auf die von ihrem Mann auf einen Zettel geschriebenen „Warnungen an eine Prophetin“. Fulbert Steffensky mahnte seine Dorothee: „Prophetin, sei genau in der Beschreibung des Unglücks! Ergötze dich nicht am Panorama des Untergangs! Prophetin, halte dich selber für irrtumsfähig und deine Geschwister für wahrheitsfähig! Prophetin, sage deine Wahrheit so, dass sie Kritik und Trost in einem ist! Halte dich an den Satz von Helder Camara: ,Herr, lehre mich ein Nein sagen, das nach Ja schmeckt!‘“. Ihre ebenfalls auf einen Zettel geschriebene Antwort lautete: „Es kann sein, dass es unerlaubte Streite gibt. Aber mehr Angst habe ich vor unerlaubten Versöhnungen.“ Und Steffensky kommentiert „Recht hat sie!“

Anziehend und provokant

Prophetische Rede und mahnender Aktivismus in und außerhalb der Kirche stehen nicht selten in der Gefahr, die eigene Überzeugung zu verabsolutieren oder zu ideologisieren.

Und doch braucht es diese Mahnerinnen und Propheten, die das Risiko eingehen, „unerlaubte Streite“ zu führen, anzuecken und den Bogen zu überspannen. Auf diese Weise halten sie den Stachel bereit, der gegen vermeintlich unverwundbare Überzeugungen zu setzen ist.

Für Dorothee Sölle gehörten das aktive Eintreten für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden und gegen Unterdrückung und eine tiefe, in ihren späten Jahren mystische Frömmigkeit zusammen. Diese Bandbreite hat sie für viele anziehend und für sehr viele provokant gemacht. Jeder Versuch, sie in ein Klischee zu pressen, muss scheitern. Gerade darin liegt bis heute ihre inspirierende Stärke für eine Theologie und eine Kirche, die sich ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung bewusst sind, diese prägnant und nachhaltig zum Ausdruck bringen – und zwar gerade so, dass unsere Verantwortung und die Unverfügbarkeit der Welt zusammengedacht und geglaubt werden.

Dass jeder theologische Satz im Sinne Dorothee Sölles immer auch ein politischer ist, bedeutet nicht, dass Theologie und Politik, Glaube und Ethik, Moral und Spiritualität in eins fallen. Aber er bedeutet, dass der Glaube immer auch darauf gerichtet ist, die Welt zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Auf Gottes Liebe und Zuwendung antwortend, stellt sich für uns die Frage, wie diese Liebe und Zuwendung konkret wird im Handeln und im Blick auf die nahen und die fernen Nächsten. Auch das hat mit einem klaren und ideologiekritischen Blick auf die Verwundbarkeit zu tun, in dem ich mich mit Dorothee Sölle verbunden weiß.

Dorothee Sölle sprach von „Fenstern der Verwundbarkeit“. Diese Formulierung übernahm sie aus der Militärstrategie, wo Fenster der Verwundbarkeit eine Lücke im Verteidigungssystem bezeichnet. Was in der militärischen Sprache und im Denken von Sicherheit und Absicherung nach zu vermeidenden Angriffsflächen klingt, ist mit Blick auf den Menschen Stärke und Ausdruck des Menschseins. Für Dorothee Sölle war klar: Wenn wir Menschen bleiben oder werden wollen, muss dieses Fenster der Verwundbarkeit in der theologischen Anthropologie offen bleiben. Es muss offen sein für Beziehung, Verständigung, Mitteilung und Frieden. „Das Fenster der Verwundbarkeit ist ein Fenster zum Himmel“ – die Menschen sollen nach Sölle verwundbar bleiben, sich unterbrechen lassen und die Fenster zum Himmel suchen.

Die Töchter und Enkelinnen Dorothee Sölles in Sachen einer befreiungstheologischen Anthropologie, die orientiert sind an der Dimension der Verwundbarkeit, werden zahlreicher. Seit einigen Jahren gibt es einen eigenen theologischen Vulnerabilitätsdiskurs, der Vulnerabilität als das Signum des Menschseins in den Blick nimmt, der die Fragilität und Gefährdung ebenso beschreibt wie die Affizierbarkeit im positiven und lustvollen Sinn. Realistische Anthropologie macht deutlich, dass Vulnerabilität den Menschen mitunter zutiefst erschüttert. Zu überraschtem Erschrecken besteht jedoch kein Anlass. Es ist die Komplementarität von ontologischer (oder fundamentaler) und situativer Vulnerabilität, die Vulnerabilität zu einem Wert des Menschseins macht.

Vulnerabilität ist die conditio humana, die in unterschiedlichen Formen und Situationen real und konkret wird. Dazu gehören Sterben, Krankheit, Schmerz und Gewalt, aber auch Liebe, Vertrauen und das Streben nach einer Verbesserung des Lebens. Krankheit und Sterben, Gewalt und Trauma sind Ausdruck der Verwundbarkeit des menschlichen Lebens. Ganz im Sinn von Dorothee Sölle sind sie weder theologisch zu verharmlosen noch schönzureden oder gar als Konsequenzen der Sünde anzuprangern.

Bedrohlich und bereichernd

Das Leiden der Menschen und noch viel mehr das Leiden Gottes im Gekreuzigten ist aus theologischer und christlicher Sicht weder im Sinne einer Leidensmystik zu verherrlichen noch zu verharmlosen. Diese Spannung, die den Ausgangspunkt in Sölles Überlegungen zum Leiden bildet, zieht ihre Spur bis hin in eine Theologie der Vulnerabilität. Immer geht es um das, was schon Martin Luther 1518 in der Heidelberger Disputation für die theolgia crucis für zentral hielt: einen nüchternen und scharfen Blick auf die Realität zu wagen und die Dinge als das zu benennen, was sie sind.

Es geht im Rahmen einer realistischen Anthropologie und Theologie darum, sowohl die bedrohlichen als auch die bereichernden Dimensionen des vulnerablen Lebens mit einem solchen nüchternen Blick zu beschreiben, indem sie in einen theologischen Rahmen gesetzt werden, der allerdings mitunter neu gezimmert werden muss. Nur so wird deutlich, dass es in der Theologie nicht um einfache Lösungen geht, sondern darum, die Dinge als das zu sehen, was sie sind.

Die Fokussierung auf Vulnerabilität als Zentrum einer realistischen Anthropologie hat ihre kritische Spitze in der Infragestellung von Autonomie als für die Anthropologie konstitutivem Konzept. Wo der Mensch als prinzipiell oder potenziell autonom handelndes Subjekt verstanden wird, führt das zur Vorstellung der Machbarkeit von gelingendem Leben und Sterben.

Hier lässt sich ein Faden von Dorothee Sölle aufnehmen. Sie hat in ideologiekritischer Absicht das Streben nach Unverwundbarkeit aufgespießt, welches unserer Gesellschaft an so vielen Stellen als Leitgedanke zugrunde liegt. Von der antiken Philosophie bis zur gegenwärtigen Politik, die den Aspekt der Sicherheit ins Zentrum gerückt hat, ist das Streben nach Unverwundbarkeit ein Leitprinzip oder zumindest eine Vision anthropologischer, sozialer, politischer und theologischer Konzepte.

Unterschiedliches Framing

Schon in der Stoa lässt sich dieses Ringen um Unverwundbarkeit beobachten, im Mythos über Achill und auch in der germanischen Mythologie. Siegfried strebte nach Unverwundbarkeit, die er durch das Bad im Drachenblut zu erreichen suchte. Als Helden werden diejenigen bezeichnet, die unverwundbar sind und nicht beeinflussbar von dem, was sich gegen sie richtet. Das Große vollständige Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste  aus dem Jahr 1735 definiert: „Held, lat. Heros, ist einer, der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärcke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.“ Damit geht eine subtile Verbindung von Unverwundbarkeit und Scham einher. Die Rede vom sogenannten „Heldentod“ der Soldaten hat die Scham über das Überwältigt- und Getötet-Sein übermalt mit der Interpretation dieses Todes als Tod um eines „höheren Gutes“ willen, wie der Nation oder einer Ideologie. Das unterschiedliche Framing, gerade des Soldatentodes, feiert in diesen Tagen des Krieges in der Ukraine (eher weniger) fröhliche Urständ und verschleiert doch, dass der Tod eines Soldaten vor allem eines ist: ein gewaltsam herbeigeführter Tod.

Paradoxerweise ist es jedoch nicht das Ringen um Unverwundbarkeit, das dem Leben Raum gibt, sondern das Wagnis der Vulnerabilität. Dieses Wagnis der Vulnerabilität ist allerdings nicht zu verwechseln mit einem einfachen Appell zur Annahme oder dem Umarmen von Vulnerabilität. Das Wagnis der Vulnerabilität ist das Wagnis des Lebens. Es nimmt in den Blick, dass die fundamentale Offenheit für das Leben keine romantische Vorstellung ist, sondern dass es darum geht, die lust- und leidvollen Dimensionen ernst zu nehmen und sie auch in theologischer Perspektive nicht schönzureden. Vor diesem Hintergrund ist für Dorothee Sölle das Wagnis der Vulnerabilität verbunden mit dem Mut zu weinen, also mit einer Preisgabe des Stolzes, der Offenheit für Trost und der Annahme von Hilfe verbunden. Die Literatur ist voll davon und der Blick auf diese Spuren sich öffnender Tränen und Fenster der Verwundbarkeit zeugt von der transformativen Kraft der Verwundbarkeit: Achilles weint über Briseis, Odysseus weint über sein zehnjähriges Mäandern, Jesus weint über Jerusalem, Hiob weint über sein Unglück, Sokrates weint über seinen Freund, und Jesaja weint über das Volk Israel.

Dorothee Sölle hat die Spuren hin zu einer Theologie der Verwundbarkeit gelegt, die kein theoretisch-theologisches Konstrukt bleibt. Sie hat die untrennbare Verbindung von tiefer Spiritualität und aktiver Weltgestaltung, von dem Wagnis der Verwundbarkeit und dem Mut, sich das eigene Leid und das Leid der Welt zu Herzen gehen zu lassen, gelebt und in Sprache gebracht und darin den Spiegel des Leidens Christi gesehen. Sie wusste darum und hat es gelebt, dass in der Verwundbarkeit und im Weinen eine eigene Kraft liegt – und eine Gabe, um die es sich zu beten lohnt. Damit auf das Gebet die Arbeit folgt. Nicht um ideologische Krokodilstränen geht es, sondern um die Gabe der Tränen, um die sie Gott bittet. Diese Bitte bleibt:

Gib mir die gabe der tränen gott

gib mir die gabe der sprache

Führ mich aus dem lügenhaus

wasch meine erziehung ab

befreie mich von meiner mutter tochter

nimm meinen schutzwall ein

schleif meine intelligente burg

Gib mir die gabe der tränen gott

gib mir die gabe der sprache

Reinige mich vom verschweigen

gib mir die wörter den neben mir zu erreichen

erinnere mich an die tränen der kleinen studentin

in göttingen

wie kann ich reden wenn ich vergessen habe

wie man weint

mach mich naß

versteck mich nicht mehr

Gib mir die gabe der tränen gott

gib mir die gabe der sprache

Zerschlage den hochmut mach mich einfach

laß mich wasser sein das man trinken kann

wie kann ich reden wenn meine tränen nur für

mich sind

nimm mir das private eigentum und den wunsch

danach

gib und ich lerne leben

Gib mir die gabe der tränen gott

gib mir die gabe der sprache

gib mir das wasser des lebens

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Heike Springhart

Dr. Heike Springhart ist Privatdozentin für Systematische Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und seit 2022 Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden. 


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